Sogar in einem Leitmedium des deutschen Establishments werden die Prognosefehler der EZB bei der Einschätzung der Inflation mittlerweile abgehandelt. Dies lässt sich deshalb nicht vermeiden, weil zahlreiche Vertreter von Geschäftsbanken und Vermögensverwalter die krassen Fehlprognosen der Inflationsentwicklung durch die EZB beim Namen nennen. In Deutschland ist so eine Diskussion in Gang gekommen, auf die man in Frankreich noch getrost warten darf. Dort ist die EZB-Politik genauso wenig ein Thema wie das Interview von Präsidentin Christine Lagarde in einem Boulevard-Blatt zu überwiegend privaten Sachverhalten, welches sogar den Weg auf die amtliche Webseite der EZB fand.
Doch das Gegenteil war der Fall: Der Präsident des DIW stieß ohne Unterlass in das Horn der EZB-Oberen. Vorsichtiger verhielt sich – um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit besorgt – der Ifo-Chef Clemens Fuest. Volker Wieland – der devote Organisator der ECB-Watcher-Conference, einer Veranstaltung, bei der kritische Fragen nicht zugelassen werden – gesellte sich erst zu den moderaten EZB-Kritikern, nachdem der Sachverständigenrat eine Inflationsprognose vorgelegt hatte, die der EZB zuwiderlief. Das Institut der deutschen Wirtschaft lässt durch seinen Präsidenten nicht Kritik an der bisherigen Inflationsignoranz der EZB, sondern Unterstützung für den zinspolitischen Kurswechsel bekunden. Selbst die hochangesehene Bank für Internationalen Zahlungsausgleich erklärte durch ihren Präsidenten Carsten noch am 29. Dezember 2019: „Kurzfristig ist Inflationsdruck kaum vorstellbar“.
Angesichts von Inflationsraten zwischen 6 und 24 Prozent innerhalb der Währungsunion dürfte die Legitimation des gigantischen Geldmengenwachstums aus dem Postulat „einheitlicher Geldpolitik im Euro-Raum“ sich selbst widerlegen. Mehr noch: Die ökonomische Heterogenität des Euroblocks stellt die Möglichkeit einheitlicher Geldpolitik prinzipiell in Frage. Indes wollen die meisten Makroökonomen diese Frage gar nicht aufwerfen. Denn damit würde das Brüsseler Dogma der Unumkehrbarkeit der Europäischen Währungsunion in Zweifel gezogen. So beeilte sich der Brüsseler Ökonom Gros, in einem Papier für das Europäische Parlament die Prognosefehler der EZB apologetisch zu deuten. DIW-Chef Fratzscher ist sogar der Meinung, dass die EZB die Inflation gar nicht kontrollieren könne und daher ein zinspolitisches Gegensteuern sinnlos sei.
Gleiches gilt für das qualitative easing, also die Erweiterung notenbankfähiger Pfänder und die Herabstufung der Anforderungen an ihre Bonität. Die EZB meint, die in den Europäischen Verträgen geregelte Mindestanforderung an Pfänder („adequate collateral“) je nach der Liquiditätssituation der Banken absenken zu dürfen. Nur eine winzige Zahl von Makroökonomen hat die Kollateralpolitik überhaupt auf ihrem Radar und umschreibt die Risiken für die Bilanz der EZB sowie die davon ausgehenden Wettbewerbsverfälschungen. Dabei wäre es gerade die Aufgabe der Wissenschaft, das transparent zu machen und vorurteilsfrei zu problematisieren, was der Öffentlichkeit aufgrund seiner Komplexität entgeht. Wenig Kritik ist von Finanzkapital-affinen Makroökonomen zu der Frage zu hören, wieso trotz Beendigung der Covid-Pandemie die Tilgungsbeträge aus dem Pandemischen Notkaufprogramm (PEPP) bis Ende 2024 unabhängig von dem EZB-Kapitalschlüssel so wiederangelegt werden, dass es keine zu große Zinsspreizung zwischen deutschen und italienischen Anleihen gebe. Genauso wenig wird problematisiert, wieso im PEPP griechische Anleihen trotz unzureichender Bonität erworben und ihre Tilgungsbeträge bis zum 31. Dezember 2024 wieder angelegt werden.
Die Makroökonomie hat sich weitgehend zum Liebediener der EZB-Politik gemacht. Doch ihr imperialer Anspruch wird zunehmend von der tristen Realität unikater Inflationsraten und historisch einmaliger öffentlicher Schuldenstände erschüttert. Man ist versucht, an Lord Denning zu erinnern: „Be you ever so high, the law is above you.“ Auf die ausstehenden Urteile des Bundesverfassungsgerichts darf man gespannt sein.