Tichys Einblick
Servus, Onkel Herbert …! Oder:

Zeitenwende in Wolfsburg

Die Ära Herbert Diess ging am Freitag abrupt und für die Öffentlichkeit völlig überraschend zu Ende. Für Insider erfolgte die Ablösung des Volkswagen-Chefs zu spät. Denn unter seiner Führung ist Deutschlands und Europas größter Autokonzern und Arbeitgeber in eine gefährliche Schieflage geraten.

Vorstandsvorsitzender Herbert Diess (Volkswagen AG) beim VIP Event – Wiener Elektro Tage am 16. Juni 2022 in Wien, Österreich

IMAGO / SEPA.Media

Noch im April 2018 kam der Spiegel unter der Headline „Onkel Herbert kommt“ zu dem Schluss, der neue Volkswagen-Boss Herbert Diess, Österreicher von Geburt, habe sich von einem der meistgehassten Manager in Wolfsburg zum Hoffnungsträger gewandelt. Auch die Betriebsräte unterstützten ihn und haben ihm inzwischen den liebevollen Beinamen Onkel Herbert gegeben. Aber schon damals orakelte das Wochenmagazin, das sei „nur ein Frieden auf Zeit“. Der Spiegel sollte recht behalten, Onkel Herbert muss zum 1. September 2022 gehen.

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Die Ära Herbert Diess ging am Freitagnachmittag, 22.07.2022, kurz nach 16 Uhr und zwei Tage vor Beginn des VW-Werkurlaubs (25. Juli bis 12. August), mittig in den Sommerferien von Niedersachen und Sachsen-Anhalt, abrupt und für die Öffentlichkeit völlig überraschend zu Ende. Zwei Stunden später genau um 18 Uhr kam aus der außerordentlichen – nomen est omen – Aufsichtsratssitzung die Meldung: „Oliver Blume folgt auf Herbert Diess als Vorstandsvorsitzender des Volkswagen Konzerns.“

Man danke dem bisherigen Chef für seine Transformationsanstöße gerade in schwierigen Zeiten und gehe „im gegenseitigen Einvernehmen“ auseinander. Was im Wirtschaftsjargon so viel heißt wie: Herbert Diess wurde gefeuert und der „Goldene Handschlag“ stimmte! Für Öffentlichkeit und Medien mag dieser Schritt völlig überraschend gekommen sein!

Viel wurde naturgemäß in Öffentlichkeit und Medien über die Gründe für den plötzlichen Rauswurf gerätselt. Manches wurde dabei an der schillernden Persönlichkeit von Herbert Diess festgemacht, einerseits seinem eloquenten österreichischen Charme („Küss die Hand, Frau Klatten“). Andererseits seinem teils schroffen und egozentrischen Gehabe gegenüber Kollegen und Mitarbeitern, seiner Beratungsresistenz und Überheblichkeit bei Sachentscheidungen. Diess wusste alles, und wenn nicht, so wusste er es zumindest besser. Soziale Kompetenz und diplomatisches Verhalten waren Diess laut Menschen, die mit ihm professional lange zu tun hatten, fremd. Diess war nie Teamplayer, und wird es auch jetzt, nach seiner Ablösung im gegenseitigen Einvernehmen, nicht mehr werden müssen. Steiermark, ich komme …

Auf der Habenseite von Onkel Herbert stehen Mut und Entschlossenheit, Visionen und eine Fülle von Ideen, die er auch brauchte, um das Dickschiff VW-Konzern nach dem Dieselskandel wieder aus den Schlagzeilen und auf einen neuen Kurs zu bringen. Und dieser Kurs hieß für den überzeugten petrol head Diess: Elektromobilität. Es war eine radikale Entscheidung. Zu radikal?
Verbrenner ade, E-Autos sollten künftig die Schlagzeilen um den VW-Konzern beherrschen – abgesehen von den ständigen Querelen zwischen Vorstand und Betriebsrat.

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Es war mutig, dass Herbert Diess mit großem Elan den Ausbau der Elektromobilität in der deutschen Automobilindustrie vorangetrieben, quasi als Speerspitze gegen die hochgelobte Erfolgsspur von Tesla und seinem Gründer Elon Musk, inzwischen mit nur einer Million Elektroautos der reichste Mann der Welt – aber nicht mehr lange. Kein anderer europäischer Autokonzern wäre dazu in der Lage gewesen außer VW. Und Herbert Diess hat den Konzern wachgeküsst. Kritiker allerdings sehen da fast schon einen Todeskuss.

Soweit die persönliche Seite von Herbert Diess. Für Insider und Branchenkenner kam seine Entlassung nicht überraschend. Im Gegenteil, sie kam, wie Ex-Weggefährten TE anvertrauten, „ein Jahr zu spät“. Denn für Außenstehende, auch für die niedersächsischen Kapitaleigner und Mandatsträger aus der Landespolitik, blieb der Hauptgrund fast unbemerkt: Unter der Führung von Herbert Diess ist Deutschlands und Europas größter Autokonzern und Arbeitgeber in eine gefährliche Schieflage geraten. So wie ehemals der Daimler-Konzern unter Jürgen Schrempp nach dem Kauf von Chrysler mit Vollgas gegen die Wand gefahren worden war, und bei dessen Ende 2005 die Nobelmarke kurz vor dem Chaos stand.

So cool blieb auch Diess bei seinem Abgang. Nach Berichten der Süddeutschen Zeitung verlautet er am Freitagnachmittag nach der – seiner letzten – Sitzung auf LinkedIn: „Enjoy the break“, genießen Sie die Sommerpause! Denn Volkswagen sei besser gerüstet für die zweite Jahreshälfte. Das bleibt zu bezweifeln, Diess hinterlässt seinem Nachfolger Oliver Blume einen Scherbenhaufen an Problemen. Für seine Ablösung war nicht ein zentraler Grund verantwortlich, sondern eine Gemengelage diverser Errors and Omissions:

Die schlimmste Sünde, die eine so exponierte Führungspersönlichkeit der Autoindustrie wie Herbert Diess seinem Unternehmen, der nationalen wie europäischen Automobilindustrie sowie der gesamten Volkswirtschaft antun kann, ist die völlig einseitige technische Fokussierung des Verbrenner-Giganten Volkswagen auf eine völlige fremde Antriebstechnik, den Elektroantrieb. Und zwar nicht nur im hochpreisigen Nobelsegment, sondern auch im Brot-und-Butter-Golf-Segment des VW-Konzerns.

Die automobile Fachwelt beobachtete den rigorosen Kehrtschwenk bei Volkswagen seit Jahren mit größter Sorge. Dazu äußert sich Branchen-Insider und Vorsitzender der wissenschaftlichen Gesellschaft für Kraftfahrzeugtechnik und Motorenbau wkm sowie Institutsleiter am Karlsruher Institut für Technologie, Professor Thomas Koch, in einem Interview mit sehr klaren Worten. Koch beklagt, dass sich beispielsweise Stellantis und Renault als Massenhersteller und Wettbewerber von VW stets eindeutig von einer „Battery-Electric-Vehicle-only“ Strategie distanziert und einen Plan B von der Politik gefordert haben. Gleichzeitig riskiert der größte deutsche Autokonzern VW, seinen absoluten Markenkern von bezahlbaren und reichweitentauglichen Fahrzeugen für die Breite der Bevölkerung aufzugeben.

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Für Automobilmarktexperten war das ein unverzeihlicher Fehler von Diess. Und der VW-CEO ist bis zuletzt unbelehrbar bei dieser einseitigen „electric only“-Strategie im Volumenfahrzeugsegment für Europa geblieben. Völlig ohne Not, und ohne jegliche Technologieoffenheit, wie es eigentlich zum Ingenieurwesen dazu gehört. Und für die die „Oliver Brothers“, BMW-Chef Oliver Zipse laut und vernehmlich und noch Porsche-Chef Oliver Blume als Diess-Mitarbeiter nur leise, aber durch faktisches Tun, immer wieder eingetreten sind.

Gesichtswahrende Kompromisslösungen hätte es gegeben, Diess hat alle verschmäht. Im Gegenteil: Volkswagen hat in den Fahrzeugverbänden ohne Not gegen die Firmen argumentiert, welche eine Technologiefreiheit und eine Koexistenz von mehreren Antriebsstranglösungen präferierten. Als Konsequenz aus dieser Politik ist bekanntermaßen eine Zerrissenheit der Verbände wie VDA und ACEA resultiert.

Vor allem die Diess-seitige Distanzierung von der einstmals weltweit geachteten Industrieikone VW Golf ist besorgniserregend. Die Qualität der VW-Fahrzeuge, über Jahrzehnte der Markenkern schlechthin – die Autos waren mitunter hässlich, aber stets zuverlässig – sind teilweise problematisch. Vorbei die Zeiten von „Spaltmaß-Ferdl“ Ferdinand Piech oder der Dieselgater Winterkorn und Hackenberg; zwischenzeitlich der Markenkern Fahrzeugqualität gerade im Wettstreit mit koreanischen Wettbewerbern unter die Räder gekommen.

Den schlimmsten strategischen Fehler aber hat Diess begangen, dass er auch dann noch fanatisch den Verbrenner in seinem eigenen Konzern ächtete, als die Werkshallen in Wolfsburg mit der Golf-Produktion nur noch zur Hälfte ausgelastet waren und sich am Horizont eine klimafreundliche Lösung der CO2-Verbrennerproblemtak in Form von Wasserstoff und Wasserstoff-Derivaten als Öko-Sprit bzw. e-Fuels abzeichnete, die dem Elektroantrieb als Solo-Lösung den Rang ablaufen könnten.

Diess blieb bei seiner klaren „Diesstanzierung“ gegenüber Wasserstoff und e-Fuels! Selbst dann, als Porsche-Chef Blume dafür in Chile schon eine Pilotanlage bauen ließ. Genau diese Fehleinschätzungen der zukünftigen Antriebstechnologie dürften die Hauptursache der jetzigen Abberufung von Diess durch den Aufsichtsrat sein. Und für die Berufung des technologieoffenen Blume als seinen Nachfolger.

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Koch kann dafür Preisbeispiele als Belege nennen. Diess hat noch im Juli 2022 betont, dass CO2-neutrale Kraftstoffe für die Masse nicht bezahlbar sind, obwohl im eigenen Konzern bei Porsche für Pilotanlagen bereits Kosten von nur noch 1,0  bis 1,5 Euro pro Liter genannt wurden. Vertreter der Mineralölindustrie haben bereits Kosten von 0,8 Euro pro Liter bestätigt. Für Koch ist ein Touchdown von 0,50 Euro pro Liter längerfristig machbar. Damit wäre e-fuel als Öko-Sprit voll wettbewerbsfähig.

Zudem hat Volkswagen klammheimlich (TE berichtete) parallel den biogenen Dieselkraftstoff HVO für seine Fahrzeuge freigegeben. Dies wurde von Diess für Volkswagen bislang offiziell abgelehnt.
Diess’ Nachfolger Oliver Blume ist so ziemlich das Gegenteil seines Vorgängers. Für Koch ist Blume eine exzellente Wahl des Aufsichtsrates. Blume ist Hausgewächs, kennt den komplizierten Firmenverbund des Volkswagenkonzerns auch aus seiner Zeit bei Audi, ist bestens verdrahtet und führt die Marke Porsche nachweislich sehr erfolgreich. Er genießt größten Respekt bei den Mitarbeitern, gilt als besonnen, fair, meinungsstark, ist trotzdem ein sehr guter Teamplayer und kann zuhören.

Vor allem ist er technologieoffen und ein aktiver Verfechter von Öko-Sprit als klimaneutrale Antriebsquelle für den Verbrenner. Der Markenkern von Porsche, das Verbrenner-Portfolio des Volkswagenkonzerns, sowie der Altbestand von 1,6 Milliarden Verbrennerfahrzeugen rund um den Globus hätten somit eine Zukunft.

Für Insider steht fest: Herbert Diess hat die Glaubwürdigkeit der Automobilindustrie beschädigt und war nicht mehr haltbar. Seine Ablösung erfolgte zu spät! Sollte der heutige Audi-Chef Markus Duesmann, der, ebenfalls als vormals leidenschaftlicher „Verbrennermann“ von BMW kommend, in den letzten Jahren den Elektro-Kurs von Herbert Diess bei Audi sklavisch durchgepeitscht hat, nunmehr ebenfalls die Segel streichen müssen, ergäbe sich eine wunderbare Konstellation: In der Süd-Steiermark könnte sich ein Skat-Club aus Ex-Führungskräften des VW-Konzerns konstituieren, der dritte Mann wartet dort schon.

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