Jeder Billard-Spieler weiß, was gemeint ist, wenn über die Bande gespielt wird. Vor einer Karambolage muss der Ball die Bande an den Seiten des Tisches berühren, das Ziel wird nicht direkt, sondern indirekt erreicht. Jeder der nach Brüssel fährt, wird, wenn er die richtigen Gesprächspartner beim EU-Besuch findet, erfahren, was es mit dem „Über-die-Bande-spielen“ in der Politik auf sich hat. Alles, was sich in einem Land nicht direkt durchsetzen lässt, wird an übergeordnete Institutionen mit der Bitte geschickt, die Durchsetzung zu forcieren.
So verhält es sich auch bei Verordnungen und Entscheidungen, bei denen die Bürokratie in Brüssel die Finger im Spiel hat. In Brüssel erfährt wohl jeder, der ein wenig genauer nachfragt, wie dort über die Bande gespielt wird. Wenn etwas in einem Mitgliedsland nicht durchsetzbar ist, werden die demokratisch wenig legitimierten Instanzen in Brüssel bemüht. Beschlüsse werden dann durch die Kommission initiiert und durchgesetzt, wenn nötig wird ein Abnicken des EU-Parlaments eingeholt. Der Ball kommt dann „über die Bande Brüssel“ zurück ins Mitgliedsland, von dem die Durchsetzung gefordert wird. Die Initiatoren des Bandenspiels im Mitgliedsland waschen ihre Hände in Unschuld.
Von der grünen Forderung 5 DM für den Liter Benzin …
Wer die Klagedrohung der EU-Kommission zur Durchsetzung von Abgasgrenzwerten jetzt im Zusammenhang mit den Forderungen von Umweltverbänden und Grünen sieht, kommt ziemlich schnell auf die Idee, auch hier könne ein Bandenspiel, in der doppelten Wortbedeutung, praktiziert werden. Denn die Ziele und Forderungen der grünen Umweltschützer sind alt, nur konnten sie bislang nicht durchgesetzt werden. Erinnern wir uns: 1998 beschlossen die Grünen, dass der Preis pro Liter Benzin auf 5 DM steigen sollte. Die Bürger sollten dazu veranlasst werden, das Auto stehen zu lassen und auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen. Das klappte nicht. Es kostete die Grünen heftig Stimmen bei Wahlen, so dass der Beschluss schnell wieder einkassiert wurde. Bei aller Ideologie, Opportunität ging vor.
Doch damit war die Idee längst nicht vom Tisch. Während der Ausbau der Bundesautobahnen, der Straßen und der Brücken von der grün ausgerichteten Anti-Auto-Politik regelrecht verschlampt wurde, entstand ein immenser Schaden für die Infrastruktur des Wirtschaftslandes Deutschland. Jeder, der sich heute mit dem Auto durch das bundesdeutsche Baustellennetz kämpft, erkennt die aufgelaufenen, kaum zu bewältigenden Probleme. Indes wurde das Geld anderweitig ausgegeben und in eine „Verkehrsbehinderungsinfrastruktur“ investiert. Doppelspurige Straßen in Städten wurden zurückgebaut, Verkehrspoller wurden zur Behinderung des fließenden Verkehrs aufgestellt, Straßen partiell verengt, Bremsschwellen wurden eingebaut, innerstädtische Parkplätze abgeschafft, Haltebuchten für Busse wurden mit erheblichem finanziellen Aufwand zurückgebaut, damit sich der Verkehr hinter den Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs staut, und Großstädte führten in ihren Ampelschaltungen die „Rote Welle“ ein, um den Autoverkehr aufzuhalten. Das Auto verursacht Staus, Fahrer drehten Runde um Runde, um endlich einen Parkplatz zu finden. Intelligente Verkehrslenkung sieht anders aus. Der grünorientierten Verkehrspolitik war offenbar jedes Mittel recht für ihr Ziel, die Bürger aus dem Auto in die öffentlichen Verkehrsmittel zu drängen. Dass dabei Staus entstanden, die die Luft verpesten: ein Kollateralschaden, der jetzt nicht einmal unwillkommen ist, kann er doch benutzt werden, den Auto-Verkehr für die angeblich so schlechte Luft verantwortlich zu machen. Tatsächlich gibt es in den meisten Städten aber gegenüber 1990 sehr viel bessere Luftwerte, 60 Prozent weniger Stickoxide. Eine Verbesserung, die sicherlich nicht auf die genannten Maßnahmen zur Ausbremsung des Verkehrs zurückzuführen ist.
… über die „Verkehrsbehinderungsinfrastruktur“ …
Nun wird die angebliche Luftverpestung als Argument angeführt, um den Auto-Verkehr in den Städten zu stoppen. Ziel ist es wieder, die Menschen in Busse und Bahnen zu zwängen. Nachdem sich Umweltverbände und Grüne bei den bisherigen Maßnahmen nicht gerade Freunde in der Bevölkerung gemacht hatten, hatten sie nun ein leichtes Spiel. Durch den Diesel-Skandal, den dümmlich agierende Manager von Auto-Konzernen verursacht hatten, gelang es den Grünen und der Deutschen Umwelthilfe, ein wirkungsvolles Feindbild aufzubauen: die „fiese, betrügerische Auto-Industrie“ mit ihrem „schmutzigen“ Diesel-Auto, die doch gefälligst zahlen soll. Dadurch gelang es den vermeintlichen Umweltschützern, selbst ein wenig in den Hintergrund zu treten. Geschichten über grüne Politiker in spritfressenden Nobelkarossen und den Chef der „Deutsche Umwelthilfe“, der, nachdem er lt. Munzinger-Archiv 1986 ein Studium der Verwaltungswissenschaften ohne Abschluss beendete, in der Lufthansa-VIP-Lounge verkehrt und mit einer Vielfliegerkarte um die Welt jettet, um diese zu retten, gerieten so nur sporadisch an die Öffentlichkeit. Da wird wohl Wein getrunken und Wasser gepredigt.
Es ist leicht, sich hinter Grenzwerten zu verstecken und sie einzufordern, ohne diese selbst in Frage zu stellen. Es ist aber wenig plausibel, warum Grenzwerte der EU für die Außenluft in der Stadt gelten sollen, die Werte für die maximale Arbeitsplatzkonzentration (MAK) bei Handwerksbetrieben aber um ein Vielfaches höher sind. Selbst für die Luft von Innenräumen, das sind beispielsweise Privathäuser, Büros, aber auch Krankenhäusern und KITAs, sind immerhin noch mehr als doppelt so hohe Stickoxidwerte zulässig. Nachzulesen auf der Seite des Bundesumweltamtes. Warum die Außenluftgrenzwerte in diversen Ländern recht unterschiedlich bewertet werden, ist auch nicht recht plausibel. Vielleicht, weil die Werte durch Epidemiologen festgelegt werden, die vor allem korrekt oder vermeintlich korrelierende statistische Werte miteinander in Beziehung setzen.
… zum Geschäftsmodell Dieseljagd
Besser wäre es sicherlich, auch einmal ausgewiesene Mediziner und Toxikologen zu fragen. Diese kämen, wie der Toxikologe Prof. Dr. Helmut Greim von der TU München, wahrscheinlich zu anderen Schlüssen. Doch da wird per Bandenspiel gleich ein Riegel vorgeschoben, beispielsweise indem die Sendung „Panorama“ dem renommierten Wissenschaftler Industrienähe, damit Befangenheit unterstellte und dessen Ruf in unvorteilhaftem Licht erscheinen ließ. Ganz nebenbei: Umweltministerin Hendricks überreichte Prof. Greim 2015 das große Bundesverdienstkreuz mit Stern, die höchste deutsche Ehrung. Auch Versuche der RWTH Aachen, eine der renommiertesten deutschen Forschungsstätten, wurden in ein schiefes Licht gestellt. Dort hatten sich bezahlte freiwillige studentische Probanden für einen begrenzten Zeitraum in einen Raum begeben, in dem 400 µg/m³ Stickoxid vorhanden war – also nicht einmal die Hälfte von zugelassenen Arbeitsplatzgrenzwerten. Das Medienecho war verheerend, sogar völlig unangebrachte Assoziationen zu Gaskammern wurden hergestellt, von „Menschenversuchen“ wurde gesprochen.
Es scheint also, als ginge es den selbsternannten Umwelthelfern nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern um politische Ziele im öffentlichen Nahverkehr. Dafür spricht auch, dass kurz nach der Anti-Diesel-Kampagne bereits erste Forderungen von Umweltschützern in der Presse verbreitet wurden, dass auch moderne Benziner mit Fahrverboten belegt werden sollten, weil sie angeblich zu viel Feinstaub erzeugten. Ich hatte eine solche Kampagne bereits Wochen zuvor in meiner Bekanntschaft vorhergesagt, hatte aber vermutet, es werde nicht um Feinstaub gehen, sondern um aromatische Kohlenwasserstoffe. Merkwürdigerweise traten diese Forderungen an die Benzinautos aber vor dem Leipziger Urteil zurück. Vielleicht hatte man erkannt, dass dann das politische Ziel der gesamten Kampagne zu offensichtlich wurde.
So stand die heftige Drohung der Brüsseler EU-Kommission im Raum, Länder wegen der nicht eingehaltenen Grenzwerte zu verklagen, und auch das Umweltministerium kam kurz vor dem Urteilsspruch assistierend mit einer Studie heraus – natürlich waren da wieder die Epidemiologen am Werke. Sie besagt, dass die jetzigen Grenzwerte für die Außenluft noch viel zu hoch seien. Der Druck, der auf den Leipziger Richtern durch das Bandenspiel lag, war hoch, das Urteil lässt aber bei näherem Hinsehen trotz des Drucks der Lobbyorganisationen und EU-Kommission noch Spielräume. Fahrverbote für Dieselfahrzeuge können zwar von Städten eingeführt werden, die Städte müssen aber ihre Luftreinhaltepläne auf Verhältnismäßigkeit prüfen und gestalten.
In dem „aber“ des Gerichtes könnte die Chance liegen, die ideologisch geführte Diskussion auf eine rationale Ebene zu bringen. Denn als nächstes wird wohl gerichtlich darüber gestritten, was unter der geforderten Verhältnismäßigkeit zu verstehen sei. Da sollten seriöse Wissenschaftler und eben auch Toxikologen zu Rate gezogen werden.
Warum dürfen Kreuzfahrt- und Containerschiffe fahren?
Zum Beispiel im Fall der Stadt Kiel. Auch dort klagen die professionellen Umwelthelfer auf Fahrverbote. Dies, obwohl nicht allzu weit von der Messstation die Kieler Förde im Hafen der Stadt endet. Dort liegen im Sommer oft bis zu fünf große Kreuzfahrtschiffe. In der Nähe sind auch eine Müllverbrennungsanlage und eine Steinkohlekraftwerk, quasi der Auspuff der E-Autos, der tagein, tagaus vor sich hin qualmt. Und nicht zu vergessen: der Nordostsee-Kanal, die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt, die in der Förde endet. Wer ein wenig im Internet recherchiert wird gerade bei Umweltorganisationen die Behauptung finden, dass die Abgase der Schiffs-Dieselmotoren um ein Vielfaches höher und schädlicher sind als die von Autos. Da werden Werte um das Hundert- oder gar Tausendfache genannt. Diese Zahlen erscheinen vielleicht überhöht, wenn auch eine Vielfachbelastung belegt erscheint. Laut Naturschutzbund Deutschland (NABU) entweichen beispielsweise in der Nordsee bis zu 90 Prozent der Schiffsemissionen innerhalb von nur 90 Kilometern Entfernung zur Küste, so dessen Hintergrundpapier zu Luftschadstoffemissionen von Containerschiffen.
Wie sieht es dann wohl bei der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraße aus? Dort wird es nicht anders sein. Deren Mündung in die Förde liegt gerade einmal etwa 7 km Luftlinie von der Messstelle. Der Abstand der Liegestellen für die Kreuzfahrtschiffe ist nicht einmal 3 km entfernt, das qualmende Steinkohlekraftwerk ca. 5 km, die Müllverbrennungsanlage liegt knapp 2 km weit weg und wie die Messstation am Theodor-Heuss-Ring. Dass sich dort auch in den Stoßzeiten Autos stauen, steht außer Frage, liegt aber wohl auch an einer verfehlten grünorientierten Verkehrspolitik der Stadt Kiel. Wenn denn die Schiffsemissionen tatsächlich so viel höher und gefährlicher sind als die von Autos, warum wird dann nicht die Förde und der Nordostsee-Kanal für Schiffe mit Dieselmotoren gesperrt? Zumal an deren Stränden doch Ortschaften als anerkannte Seebäder liegen. Doch auch hier gilt für die Klagenden: es ist nicht opportun. In Städten wie Hamburg wird es sich ähnlich verhalten.
Eine Sperrung der Innenstädte für diverse Fahrzeuge wird sicherlich den Verkehr vermindern, ob es aber zur intendierten Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs führt, ist fraglich. Ob dadurch tatsächlich die von Epidemiologen drohend behauptete, aber wohl kaum kausal nachweisbare Krankheits- und Sterblichkeitsquote zurückgeht, ist ebenso ungewiss; schon allein, weil die Prämissen dieser Horrorszenarien nicht stimmen. Gewiss ist aber, dass die ausgesperrten Autofahrer mehr und mehr außerhalb gelegene Einkaufszentren und Outlets sowie Ausweichstrecken durch Wohngebiete nutzen werden. Gewiss ist auch, dass sich Amazon und Internetanbieter über viele neue Bestellungen freuen werden. Ob der Einzelhandel in den Innenstädten die Verbote überlebt, ist allerdings fraglich. Vielleicht erstickt er ja an der „sauberen“ Luft.
Bernd Steinbrink ist Medienwissenschaftler.