Tichys Einblick
Schadstoffe überall

Feinstaub: Gemessene Schadstoffe – und trotzdem keine Fakten

Bei den Themen Feinstaub, Stickoxid, Diesel und Fahrverbote in deutschen Städten sind jede Menge Gefühle im Spiel. Deshalb sind Emotionen auch für Politik, Medien und sogar Behörden so nützlich, wenn sich etwas mit Fakten nicht belegen lässt. Und selbst wenn es Fakten gibt, werden oft nicht alle richtig berücksichtigt

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Die Polizei kann es aus statistischen Gründen nicht mit Fakten hinterlegen, aber gefühlt griffen Täter in Münster in den vergangenen Monaten häufiger zum Messer.“ Mit Gefühl also behelfen sich die „Westfälischen Nachrichten“, wenn die Statistik nicht reicht. Aber was wäre, wenn Städte ebenfalls zum Messer griffen, bildlich gesprochen, um sich gegen alternative Fakten und getrickste Statistiken zur Wehr zu setzen? Was wäre, wenn Deutschlands Städte im Kampf gegen Dieselfahrverbote mit den gleichen Waffen zurückschlagen würden wie das Umweltbundesamt? Wenn sie komplizierte Modellrechnungen einsetzten, um zu prüfen, wie sich Emissionen in der Luft verteilen? Unnötig, mag man urteilen, Feinstaub und andere Luftschadstoffe kann man doch messen. Sogar messerscharf. Dafür gibt es schließlich die insgesamt 250 sogenannten verkehrsnahen Messstationen, die das Umweltbundesamt für Deutschland auflistet. Ihre Lage, Zahl und die Art der Messung sind europaweit gesetzlich vorgeschrieben. Deshalb können deren Messwerte den Ausschlag geben für mögliche Fahrverbote.

Ein Trick der Statistik?

Ob diese Messstationen dort stehen, wo sie Gefahren für Menschen messen, darüber wird fleißig gestritten. Dass sie Gefahren messen, steht für die meisten Wissenschaftler und Journalisten jedoch außer Frage. Nur wenige widersprechen vehement, etwa der Lungenspezialist Dieter Köhler, ehemals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, oder der Statistikprofessor Walter Krämer. „Propaganda“ nennt Krämer die hochgerechnete Zahl von mutmaßlich bis zu 8.000 jährlichen Stickstoffdioxid-Opfern in Deutschland. Für Köhler ist die „vermeintliche Lebensgefährlichkeit“ der Schadstoffmengen in deutschen Städten „vor allem ein Trick der Statistik“.

In der Europäischen Union seien exakt 28456 vorzeitige Todesfälle im Jahr 2015 auf das Konto der Stickstoffdioxide zu verbuchen gewesen, rechneten Forscher aus Washington in der renommierten Fachzeitschrift „Nature“ vor. Auch wenn Letztere nicht angeben, wie viele Fälle davon auf Deutschland entfallen, müsste sich das grob abschätzen lassen. Proportional zur Einwohnerzahl wären es rund 3.000, proportional zum Pkw-Bestand rund 5.000. Die kleine Differenz zu den Zahlen des von Maria Krautzberger (SPD) geführten Umweltbundesamts: ein Messfehler?
Oder hat sich das Amt bloß verrechnet? Hat es womöglich gar nicht berücksichtigt, dass Menschen, die an viel befahrenen innerstädtischen Straßen wohnen, häufig einen anderen Lebensstil pflegen als diejenigen in den Vororten? Dass sie häufiger rauchen, weniger Sport treiben, sich schlechter ernähren, mehr Alkohol konsumie- ren und schlicht weniger Geld zur Verfügung haben? Neuere Studien berücksichtigen solche Störfaktoren und kommen zum Ergebnis, dass der rechnerische Einfluss von Schadstoffen im Niedrigdosisbereich dann auf Partikelgröße schrumpft.
Ein ursächlicher Zusammenhang von Stickstoffdioxid und Feinstaub mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs ist nicht bewiesen und wird von den Originalstudien auch nicht propagiert. Das hindert allerdings den Südwestrundfunk nicht daran, eine derartige Kausalität als „Fakt“ zu behaupten. Wieder darf das Umweltbundesamt als Beleg gelten. Diesmal sind es schon 45.000 Bundesbürger, die in Modellrechnungen verfrüht ihr Leben aushauchen, weil sie zu viel Feinstaub eingeatmet hatten. Wie verfrüht, das verschweigt der SWR, aber Köhler rechnet es vor, ebenfalls modellhaft. Sinkt die Lebenserwartung von Menschen, die mehr Feinstaub ausgesetzt sind, deshalb um ein Prozent (was nicht bewiesen ist), dann gilt: „Selbst wenn das so wäre, was ich ja bezweifle, wären das jeweils ein paar Stunden, die man früher sterben würde.“ Krämer bestätigt: „Tot sind letztlich immer 100 Prozent. Von eigentlicher Bedeutung ist aber doch nur, wie viel Lebenszeit uns etwas kostet.“

Das Rechnen ist offensichtlich schwierig. Aber was ist, wenn noch nicht einmal die verwendeten Messwerte stimmen, die in solche Hochrechnungen eingehen? Von einem „Mess-Chaos“ spricht sogar das ARD-Wirtschaftsmagazin „Plusminus“. Die wahren Trickser seien die Städte, die ihre Messstationen teils in viel zu großen Abständen aufstellen würden, um ihre Schadstoffbelastung künstlich klein zu messen. Die Hamburger messen auf dem niedrigsten zulässigen Niveau von 1,50 Metern, die Münchner liegen mit vier Metern am Gipfel des Erlaubten. Zehn Prozent Messdifferenz seien da schon zu erwarten.

Virtuelle Leitplanke

Aber es könnte auch anders sein, etwa in Oldenburg. Dort meldete am 21. Oktober die Station am Heiligengeistwall einen alarmierenden Tageshöchstwert von 54 Mikrogramm Stickstoffdioxid – weit über dem Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Dabei fuhr an diesem Tag dort stundenlang überhaupt kein Auto vorbei, weil die Straße wegen eines Marathonlaufs gesperrt war. Schon fünf Tage später war sich der niedersächsische Umweltminister Olaf Lies (SPD) sicher, dass die Messstation korrekt aufgestellt gewesen sei. Das ist, wenn man es genau nimmt, ein feiner Unterschied zu der Antwort auf die Frage, ob die Station denn korrekt gemessen habe. Dabei ist diese Antwort von zentraler Bedeutung, weil die Deutsche Umwelthilfe auch in Oldenburg Fahrverbote durchsetzen will.

Es scheint, dass für deutsche Umweltschützer in Sachen Messgenauigkeit nicht sein kann, was nicht sein darf. Deswegen braucht es auch keine Plausibilitätsprüfung. Dabei machen Städte wie Zürich längst vor, wie segensreich hierzu die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung sein können. Mithilfe von 3-D-Stadtmodellen lassen sich Modellrechnungen erstellen, die beispielsweise die Ausbreitung von Schall- wellen, Sonnenstrahlen und GPS-Signalen simulieren können. Das dient der Abschätzung, welche Effekte Neubauten auf die Lebensqualität besitzen oder wie gut die Straßen für das autonome Fahren geeignet sind. Warum sollte man also nicht auch an Modellrechnungen für die Ausbreitung von Schadstoffen denken? Statt weniger punktueller Messungen ließe sich flächendeckend die Belastung abschätzen, zumindest in Form eines Korridors. Der könnte als „virtuelle Leitplanke“ dienen und umgekehrt Alarm schlagen, falls gemessene Werte zu weit aus der simulierten Spur driften.

Wo Fakten fehlen, braucht es mehr als Gefühl. Ergänzen muss man: Was Fakten sind und was lediglich danach aussieht, das gehört gelegentlich geprüft. Selbst wenn der Glaube, dass es schon stimmen wird, ein noch so gutes Gefühl vermittelt.


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