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Eingebautes Tempolimit

Eingebautes Tempolimit: Der faule Werbetrick von Volvo

Kein neuer Volvo soll schneller als 180 km/h fahren können. Der schwedisch-chinesische Autohersteller Volvo will seinen Wagen einen Image-Turbo der "Sicherheit" verpassen.

Wer modern sein will, der fährt mit gebremstem Schaum. Volvo jedenfalls hat für sich entdeckt, dass ein besonderer Aspekt der Verkehrssicherheit möglicherweise prima als Imageturbo und als Kaufargument herhalten kann. Der schwedische Autobauer setzt auf ein Tempolimit. Genauer: Nicht das staatlich verordnete, sondern das selbst verordnete und serienmäßige. Letztes Jahr wurde diese Maßnahme angekündigt und nun beginnt die Phase der Umsetzung. Mercedes, BMW und Audi sind auf diesem Weg zwar schon seit Jahren unterwegs, allerdings ist erst bei 250 km/h Schluss. Dann wird den Autos sozusagen der Saft abgedreht. Aber weil nur die wenigsten mit diesem Tempo durch die Gegend brettern, ist diese Art von Tempolimit auch nicht im Bewusstsein der autofahrenden Deutschen.

Volvo, seit 2010 zum chinesischen Geely-Konzern gehörend, ist radikaler und hat dieses eingebaute Limit auf 180 km/h festgelegt, gültig für das jetzt beginnende Modellbaujahr 2021, und spricht dabei interessanterweise von „abgesichert“. Das Wort ist mit Bedacht gewählt, denn es schwingt „Sicherheit“ mit. Soll wohl andeuten, dass sich die Insassen solch eines Autos im besten Sinne in Sicherheit wiegen können. Und dafür will Volvo künftig mit seinem Namen stehen.

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Dementsprechend fällt die Begründung für die Tempobremse aus: Weil überhöhte Geschwindigkeit die häufigste aller Unfallursachen ist. Ohne Zweifel spielt zu viel Tempo beim Unfallgeschehen eine Rolle. Aber nicht, wie mit dieser Aktion insinuiert wird, dass die Raserei auf Autobahnen das Übel wäre, das an der Wurzel angepackt werden müsste. Denn: Was ist Raserei? Tempo 35 in der 30er-Zone? 60 km/h in der 50er-Zone? Oder 160 Sachen auf der Autobahn bei freier Fahrt? Etwa Dreiviertel all jener Unfälle mit Verletzten und Toten, die auf überhöhte Geschwindigkeit zurückzuführen sind (sofern das überhaupt zu ergründen ist), passieren in Städten, auf Land- oder auf Bundesstraßen. Und dort gibt es seit Jahrzehnten jeweils Tempolimits nämlich 50, 80 oder 100 km/h. Was also will Volvo erreichen, wenn man mal von einer Marketing-Neupositionierung am Markt absieht? Einfache Antwort: Die Aussage soll sich im Bewusstsein künftiger Autokäufer mit dem Gefühl verankern, dass Volvo eine Art Lebensretter ist, der Verantwortung übernimmt. Gewünschtes Motto im Bauch der Volvo-Kunden: Die tun was für die Verkehrssicherheit.

In der einschlägigen Pressemitteilung wird dazu folgendermaßen argumentiert:

„Als Vorreiter der automobilen Sicherheit geht Volvo einmal mehr mutig und konsequent voran. Wie schon mit der Einführung des Drei-Punkt-Sicherheitsgurts im Jahr 1959, der weltweit mittlerweile mehrere Millionen Menschenleben gerettet hat, sendet der schwedische Premium-Automobilhersteller erneut ein starkes Signal: Mit der Absicherung auf 180 km/h …. nimmt das Unternehmen seine Verantwortung wahr und arbeitet aktiv auf das Ziel hin, die Zahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr auf null zu minimieren.“

Das klingt ehrenhaft und ist auf den ersten Blick auch plausibel. Bei genauer Betrachtung sieht es jedoch anders aus. Denn während Volvo vor allem auf das moralische Gewissen der Kundschaft setzt, dass derjenige, der Leben retten will, immer zu den Guten zählt und mit diesem Anspruch Punkte auf dem Konto der Ehrenhaftigkeit sammelt, muss man zwei Begrifflichkeiten sauber unterscheiden, mit denen hier unterschwellig hantiert wird: Es geht einerseits um die so genannte aktive und andererseits um die passive Sicherheit. Aktive Sicherheit bedeutet, dass der Hersteller Systeme ins Auto einbaut, die es ermöglichen, einen Unfall (aktiv) zu verhindern. Das wäre zum Beispiel das Elektronische-Stabilitätsprogramm (ESP), das in zu schnell angefahrenen Kurven das Gas automatisch und rechtzeitig wegnimmt, weil es in Millisekunden den entsprechenden Lenkeinschlag mit der Geschwindigkeit abgeglichen hat. Und passive Sicherheit heißt, dass es im Auto technische Einrichtungen wie Sicherheitsgurte, Gurtstraffer, Airbags oder Knautschzonen gibt, die bei einem Unfall die Auswirkungen minimieren. Volvo vermischt beides bei der neuen Tempolimit-Argumentation. Motto: Egal ob aktiv oder passiv, Hauptsache Leben retten. Denn diese Botschaft ist nicht nur super glaubwürdig, sie lässt sich obendrein auch prima vermarkten.

Die Wahrheit ist jedoch, dass das Tempo an sich kein Kriterium ist, das automatisch zu mehr Gefährlichkeit führt. Es ist vielmehr der Umgang damit und die Fähigkeit des Menschen, es zu kontrollieren oder es zu beherrschen. Genau an dem Punkt der menschlichen Fehlbarkeit setzt Volvo mit der neuen Aktion an, um eine Art von Verkaufsargument zu zimmern. Fortan ist es nicht mehr nur der vermeintlich sichere Schwedenstahl alleine, der einen im Falle des Knalles womöglich überleben lässt, sondern das eingebaute Limit bei 180 Sachen. Doch was ist mit den Toten und Schwerverletzten, die bei weit geringeren Tempi auf Stadt-, Land- und Bundesstraßen bei Unfällen ihr Leben lassen oder sich verletzen? Wie wäre es also mit einem weit sinnvolleren elektronischen System, das erkennt, auf welcher Straße gerade gefahren wird und dort das Limit auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit automatisch begrenzt? Das ginge ja mit Hilfe der heute üblichen schlauen Navigationssysteme ohne Weiteres.

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Doch darauf geht Volvo nicht ein. Irgendwie ist das auch zu verstehen. Denn das ausgetüftelte Sicherheitsargument würde dadurch wohl zertrümmert. Anscheinend soll die propagierte Tempobremse nicht jene Minderheit erreichen, die differenziert denkt, Argumente kennt, kritisch ist und abwägt, sondern man will offenbar den Bauch der großen Masse erreichen, die sich wenig oder keine Gedanken um Verkehrssicherheit macht, die die tatsächlichen Unfallzahlen des Straßenverkehrs nicht interessiert oder nicht kennt und die das diffus-griffige Argument der Tempodrosselung für glaubhaft und dies vom Gefühl der größeren Sicherheit vor allem auch für richtig hält.

Dazu passt eine weitere Formulierung aus der Pressemitteilung Volvos, die den lebensrettenden und damit hohen moralischen Ansatz der Firma klar macht: „Wir glauben, dass ein Autohersteller die Verantwortung hat, zur Verbesserung der Verkehrssicherheit“, erklärt Malin Ekholm, Leiterin des Volvo Cars Safety Centre in Göteborg. Das macht Eindruck. Und weiter: „Die Geschwindigkeitsbegrenzung und der Dialog, der dadurch in Gang gesetzt wurde, passen zu diesem Ansatz. Dank der Absicherung … erkennen Menschen, wie gefährlich zu schnelles Fahren ist …“

Richtig an dem Argument ist: Der Schwachpunkt ist immer der Mensch. Unausgesprochen nimmt Volvo Bezug auf Paragraph 3 der Straßenverkehrsordnung, der sagt: „Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen.“ Richtig ist aber auch, dass das Unfallgeschehen auf Autobahnen, auf die das neue Volvo-Tempolimit ja zielt, weit besser ist als auf den übrigen Straßen. Wer also nur die reinen Zahlen gelten lässt, für den erscheint das neue Volvo-Limit als blanker Unsinn oder gar als Bevormundung. Wer so denkt, steht argumentativ allerdings auf glitschigem Parkett und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ihm/ihr ein Menschenleben nicht besonders wertvoll zu sein scheint, nur weil es auf Autobahnen relativ wenig Opfer gibt. Schließlich ist nicht nur jeder Verkehrstote oder Verletzte einer zu viel, sondern hinter den nüchternen Zahlen stecken auch immer bittere menschliche Schicksale.

In dem Zusammenhang muss man sich die Aussage eines Experten wie des Unfallchirurgen Christoph Spering vor Augen halten, der am Uni-Klinikum Göttingen arbeitet und die dramatische Praxis bestens kennt. Er sagte kürzlich dem Spiegel: „Die Geschwindigkeit ist bei Unfällen entscheidend für die Schwere der Verletzungen … Wer in einem modernen Fahrzeug mit 30 km/h gegen ein Hindernis fährt, kommt heutzutage meist mit Prellungen und Verstauchungen davon, bei der vierfachen Geschwindigkeit kommt es oft zu Bauchverletzungen durch die Sicherheitsgurte, die den Körper zurückhalten müssen. Auch Verletzungen der Halswirbelsäule bis hin zu Knochenbrüchen sind möglich, gleichzeitig kann die Verformung des Pkw zu Verletzungen des Beckens, des Brustkorbs und des Kopfes führen … Bei einem Unfall mit beispielsweise 160 statt 130 km/h muss die Karosserie viel Energie abfangen. Dabei kommt es oft zu einer so starken Verkleinerung des Fahrgastraumes, dass der Großteil der Energie auf den Körper übertragen wird. Innerhalb dieser 30 km/h kann deshalb die Grenze zwischen Leben und Tod verlaufen. Menschen, die solche Unfälle erleiden, schaffen es oft gar nicht mehr in die Traumazentren oder bis auf den OP-Tisch, weil sie an ihren Verletzungen vor Ort sterben. Solche schweren Unfälle können durch ein Tempolimit zurückgehen.“

Spering hat am kürzlichen Beschluss des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR) mitgearbeitet, der Bundesregierung ein Tempolimit von 130 auf Autobahnen zu empfehlen. Er weist darauf hin, dass es jedes Jahr etwa 5000 Schwerverletzte durch Autobahnunfälle gibt und dass die relativ geringe Todesrate (Autobahn 2019: circa 350, übrige Straßen: circa 2700) „von vielen Einflussfaktoren abhängt und alleine keine gute Messgröße ist. Wir haben in Deutschland ein sehr dichtes Netz von Traumazentren, ein ärztlich besetztes Rettungswesen und über 100 Hubschrauberstandorte. Europaweit hat kein anderes Land ein so umfangreiches Rettungssystem und Kliniknetzwerk. Unser Gesundheitssystem trägt maßgeblich dazu bei, höhere Todesraten zu verhindern, nicht nur die vermeintliche Sicherheit der Autobahnen“. Nach einer Statistik des DVR für 2018 ergibt sich folgendes Bild: Nach wie vor ereigneten sich die meisten Unfälle mit Personenschaden innerhalb von Ortschaften (69 Prozent); jedoch wurden hier nur 30 Prozent der Getöteten registriert. Auf den Außerortsstraßen (ohne Autobahnen) passierten 24,3 Prozent der Unfälle mit Personenschaden, aber 57 Prozent der Verkehrsopfer kamen hier ums Leben. Auf den Autobahnen wurden 6,7 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden und 12,9 Prozent aller Getöteten gezählt.

Ob Tempolimit oder nicht, die Frage ist ein unlösbares moralisches Dilemma. Um aus dieser Zwickmühle raus zu kommen könnte man argumentieren, dass alles, was das Unfallrisiko irgendwie reduziert, seine Berechtigung hat. Doch eine weitere Wahrheit ist auch, objektiv gibt es keine Handlungsempfehlungen für die Politik auf Basis des Unfallgeschehens. Jeder Weg, den die Bundesregierung in diesem Zusammengang einschlagen könnte, hat seine Tücken. Das Lager der Tempo-130-Befürworter wird Beifall klatschen, würde es demnächst ein verbindliches Limit auf Autobahnen geben. In der Hoffnung, dass dadurch die Aggressivität und das Risiko, schwer zu verunglücken, minimiert würde. Kann sein, dass genau das eintritt. Die andere Seite wird aber ins Feld führen, dass eben diese Gleichmacherei zu schläfriger Eintönigkeit führen werde, wodurch der gefährliche Sekundenschlaf am Steuer gefördert würde und am Ende die Unfallzahlen steigen könnten. Auch gut möglich. Dann hätten wir eine neue Tempolimit-Diskussion.

Klar ist lediglich eines: Würde die Bundesregierung demnächst Tempo 130 beschließen, könnte Volvo die sorgsam ausgetüftelte Limit-Kampagne in die Tonne treten.


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