Tichys Einblick
49-Euro-Ticket

Bahn und Co können die Erwartungen ihrer neuen Kunden nicht „einlösen“

Das 49-Euro-Ticket ist schon jetzt nicht so erfolgreich, wie sich die grün-rot-gelbe Politik erhofft hat. Doch die echten Probleme beginnen erst. Die „Revolution“ im Ticketwesen sehen die Revolutionäre schon viel sachlicher.

IMAGO / Wolfgang Maria Weber

Berliner Bahnkunden sind gebürtige Bingo-Spieler: Wer in der Hauptstadt S-Bahn fährt, kann Gründe für eine verspätete Heimkehr sammeln: Personalausfall, defektes Stellwerk, Motorschaden der Lok, medizinischer Einsatz, Stromausfall im Leitsystem – Bingo! Aber immerhin fährt in Berlin öffentlicher Nahverkehr. Theoretisch. Wer zum Beispiel im saarländischen Hierscheid lebt, braucht mit öffentlichen Verkehrsmitteln mehr als vier Stunden bis zum Frankfurter Flughafen – von dort sind es weniger als vier Stunden bis zum Flughafen in Antalya. 200 Kilometer in Deutschland können mit öffentlichen Verkehrsmitteln also zu einer Weltreise werden.

Ausbau und Sanierung des Schienennetzes
Für Bahnkunden wird es bald reichlich unbequem
Mit dem 49-Euro-Ticket sollte das alles besser werden. Es war die „Revolution“ – darunter tut es die Ampel nicht – im Ticketverkauf. Doch angesichts der Verkaufszahlen bleibt es bestenfalls bei einer Evolution. 11 Millionen Kunden haben die „Deutschland-Tickets“ bis Mitte Juni erreicht, wie der Dachverband der Verkehrsbetriebe, der VDV, mitteilt. Tusch. Riesenerfolg. So würden andere Medien an dieser Stelle aufhören und dabei vor Lob sprudeln wie eine Flasche Champagner.

TE schaut sich lieber an, wie sich diese elf Millionen Tickets verteilen. 46 Prozent der Tickets wurden an Kunden verkauft, die bereits ein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr abonniert hatten. 44 Prozent waren bereits ohne Abonnement Kunden des öffentlichen Nahverkehrs – etwa indem sie sich regelmäßig eine Monatskarte gekauft haben. Nur acht Prozent sind echte Neukunden, zwei Prozent haben keine Angaben gemacht. Die Zahlen hat der VDV veröffentlicht.

Startschwierigkeiten
Das 49-Euro-Ticket – eine sehr deutsche Revolution
Rechnet man also großzügig, dann hat der öffentliche Nahverkehr 1,1 Millionen Neukunden durch das 49-Euro-Ticket gewonnen. Also fließen monatlich 53,9 Millionen Euro an zusätzlichem Geld in das System. Rechnet man konservativ, dann sparen Stammkunden durch das neue Angebot 20 Euro im Schnitt. Also fehlen dem System im Schnitt monatlich 198 Millionen Euro. Unterm Strich macht das einen Gesamtverlust von 144,1 Millionen Euro. Im Monat. Also 1,73 Milliarden Euro im Jahr. Der Revolution geht das Geld aus.

Nun ist aber Sommer. Und die Menschen können mit dem 49-Euro-Ticket günstig nach Sylt fahren, ins Sauerland, den Thüringer Wald oder in die deutschen Alpen. Es sei denn, die Gewerkschaft EVG zieht ihren Streik durch. Dann gibt es statt günstigem Deutschlandurlaub stillstehende Räder. Vielleicht streikt im Herbst aber auch die Gewerkschaft der Lokführer. Dann gibt es wieder einen Grund, warum keine Züge fahren. Oder auch: Bingo, wie der Berliner dazu sagt.

Serverausfall, lange Schlangen, Datenpannen
Massive Probleme rund um das 49-Euro-Ticket
Mit 1,1 Millionen Neukunden blieb das 49-Euro-Ticket unter den Erwartungen der Politik. Zumindest der grünen, roten und gelben Politik. Trotzdem bedeuten auch 1,1 Millionen Neukunden zusätzlichen Aufwand: mehr Züge und mehr Personal. Beides können Deutsche Bahn und Co nicht leisten. Zum einen wegen des bekannten Arbeitskräftemangels, zum anderen wegen eines unzureichenden Netzes. Auf den viel befahrenen Strecken sei es schon zu 125 Prozent ausgelastet, antwortete jüngst das Verkehrsministerium. Marode ist das Schienennetz obendrein. In den nächsten Jahren müssen rund 40 Strecken für Reparaturen vorübergehend stillgelegt werden. Bingo!

Woher soll also das Geld für ein besseres Angebot kommen, das für die künstlich geschaffene Nachfrage nötig wird? Der Bund soll es geben, sind sich Länder, Verkehrsbetriebe und die Extremisten der Letzten Generation einig. Will der Bund das? Wie viel Geld steht im Haushalt bereit, den Finanzminister Christian Lindner (FDP) im Frühjahr vorgestellt hat? Nichts, denn es gibt den Entwurf noch nicht. Die Ampel kann sich nicht darauf einigen, wofür sie das Geld der Steuerzahler ausgeben will. Ein Streitpunkt ist das Bahnnetz, für das Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) aus den genannten Gründen mehr Geld beansprucht.

Die Champagner-Laune ist verflogen. VDV-Präsident Ingo Wortmann bemüht sich zwar, die Zahlen als Erfolgsmeldung zu verkaufen. Klingt dabei aber mittlerweile anders als noch im April: „Allerdings müssen wir auch berücksichtigen, dass mit einer bundesweiten Nutzung des Tickets auch eine Erwartungshaltung einhergeht, die wir nicht immer adäquat einlösen können.“ In den Städten brauche es mehr Kapazitäten, im ländlichen Räumen mehr Angebote. Was passiert jetzt: „Hierzu werden wir in den kommenden Monaten intensiv mit Bund und Ländern in den fachlichen Austausch gehen.“ Die Revolution wird zum Arbeitskreis.

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