Die romanische Wirtschaftspolitik unter der Führung Frankreichs ist seit Colberts Zeiten geprägt durch merkantilistische Denkweisen. Zur Erinnerung: Jean-Baptiste Colbert (* 29. August 1619 in Reims; † 6. September 1683 in Paris) war ein sehr erfolgreicher Finanzminister unter „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. Er finanzierte dessen Luxus-Hofhaltung, sanierte den Staatshaushalt, und betrieb dazu eine Wirtschaftspolitik, die darauf abzielte, hohe Überschüsse in der Leistungs- und Handelsbilanz zu erzielen, das heißt möglichst viele Fertigwaren aus dem Land auszuführen und möglichst wenige Waren nach Frankreich hinein zu lassen. Colbert wurde damit zum Begründer des Merkantilismus (Colbertismus) und kann zur vorklassischen Ökonomie gezählt werden. Erste Strukturen des modernen Kapitalismus entstanden unter Colbert.
Merkantilismus und Dirigismus – der Staat als Macher und Lenker – bestimmen die französische Wirtschafts- und Industriepolitik also seit Jahrhunderten. Erfolgreich durchgesetzt hat sie sich zum einen in den 1980er-Jahren bei der Abschirmung des europäischen Automobilmarktes gegen die japanische Exportoffensive („Made in Japan“) in Form eines informellen – nie öffentlich bestätigten – Abkommens der jeweiligen Spitzenverbände zur Beschränkung des japanischen Marktanteils. (Bemerkung: Die Vereinbarung wurde nie aktiv gebraucht, weil die japanische Exportoffensive sich totlief und die europäischen Hersteller eine erfolgreiche Gegenoffensive starteten. – Geht doch!).
An diese Formel mag Renault-Chef Luca de Meo gedacht haben, als er vor Kurzem in einem Aufsehen erregenden „Brief an Europa“ die Idee promovierte, in Europa durch Kooperation aller Automobilhersteller quasi einen „Airbus der Automobilindustrie“ (Automobilwoche vom 20. März 2024) zu schaffen. Wobei er wohl vor allem an Volkswagen, Stellantis und sein eigenes Unternehmen Renault gedacht haben dürfte, denn sonst sind außer Daimler und BMW keine selbständigen Autohersteller in der EU mehr übrig, und diese scheiden aufgrund ihrer Marktstellung von vornherein aus.
Sicherlich, Ausgangspunkt von de Meos Initiative ist zum Teil auch die angespannte Absatz- und Finanzlage beim Renault-Konzern selber. Doch schwerer wiegt wohl die Furcht der französischen und italienischen Autohersteller, im Massenmarkt, ihrer angestammten Absatzdomäne, einem möglichen gnadenlosen Verdrängungswettbewerb mit der chinesischen Autoindustrie ausgesetzt zu werden.
Angeheizt wird diese Furcht aktuell durch den drohenden Zutritt von chinesischen Herstellern auf dem europäischen Automarkt mit unschlagbar kostengünstigen kleineren Elektroautos von hoher Qualität. Der Wettbewerb wird durch die Chinesen nochmals zuungunsten der europäischen Hersteller im Massensegment verschärft, sodass zwangsläufig der heutige Wettbewerb zwischen den europäischen Autokonzernen und ihren zahlreichen Marken, so Renault, Stellantis und Volkswagen, nochmals weiter dramatisch zunehmen dürfte – wenn keine ordnende Hand den Marktprozess steuert!
Nicht ohne Grund also hat der polyglotte Renault-CEO (Luca De Meo spricht Italienisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch) vor kurzem den Brief an Europa gerichtet. De Meo wendet sich in dem zwanzigseitigen Dokument an alle Akteure des europäischen politischen Lebens, um indirekt und verschwurbelt vor allem auf die Probleme der europäischen Automobilindustrie hinzuweisen und einen kollektiven Handel analog der Airbus-Industrie zu fordern. „Indem wir die Kooperationsinitiativen verstärken, werden wir unsere Industrie auf den Weg der Wiederbelebung bringen.“ Denn: „Die Amerikaner stimulieren, die Chinesen planen, die Europäer regulieren.“
Im Einzelnen warnt de Meo vor der chinesischen Exportoffensive, die bei Autos der C-Klasse (etwa Golf-Klasse) einen Kostenvorteil von 25 Prozent des Verkaufspreises ausmachten. Mit für die Wettbewerbsnachteile der europäischen Autoindustrie verantwortlich seien unterschiedliche „Regulierungsmodelle“ im Ausland, so
- 110 bis 160 Milliarden Euro Subventionen für das Verarbeitende Gewerbe in China für den Zeitraum bis 2022,
- 40 Milliarden Dollar für Steuergutschriften für umweltfreundliche Produktion in den USA aus dem «Inflation Reduction Act».
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat – kurz vor der angestrebten
Wiederwahl im Amt – diese Botschaft sofort aufgegriffen: „Der Preis der (China-) Autos wird
durch Staatssubventionen gedrückt – das verzerrt unseren Markt“, und lässt Strafzölle auf
chinesische Autos prüfen. – Die nahende Europa-Wahl lässt grüßen!
Soweit so gut. Die Frage ist, ob die De-Meo-Initiative – aus Mikro-Sicht zwar verständlich – auf ökonomischer Makroebene wirtschaftspolitisch sinnvoll ist. Die Automobilwoche schließt nicht aus, „dass Renault mit dem Ruf nach staatlicher Hilfe seine eigenen spezifischen Probleme, etwa eine limitierte Finanzausstattung mit entsprechend begrenzten Entwicklungsbudgets, auszubügeln gedenkt“. Ist der „Automobil-Airbus“ also nur eine fixe Idee des Renault-Chefs oder ist die Richtung wirtschaftspolitisch und gesamt-ökonomisch sinnvoll?
Diese Antwort ist ebenso richtig wie die daran geknüpften Forderungen blauäugig und gut, sie ähneln allerdings jenen bei einem Kindergeburtstag: Nicht alles, was man will, erhält man auch. Gegen fehlende strategische Rohstoffe und unschlagbar niedrige Lohnkosten sowie gegen mögliche reale Exportbeschränkungen und Handelsrestriktionen im China-Handel helfen gutgemeinte Forderungen der europäischen Wirtschaft nicht, auch nicht der Automobilindustrie. Will sagen: Alle wollen reich und gesund sein, die Wirklichkeit sieht leider anders aus.
Richtig ist, dass ein „Automobil-Airbus“, richtig aufgestellt, die Marktmacht der europäischen Autoindustrie stärken und die Gesamt-Kosten strukturell senken könnte. Doch der Weg dahin ist weit und steinig. An Werksschließungen zwecks Zusammenlegung und Kostensenkung würde kein Weg vorbeiführen. Endlose Querelen mit Gewerkschaften und Betriebsräten sowie Bürgermeistern und Regionalpolitikern, die sich um die Arbeitsplätze sorgen, wären zu erwarten. Auch kartellrechtliche Fragen wären zu klären.
Vor diesem Hintergrund macht der De-Meo-Vorschlag ökonomisch Sinn. Getreu dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“! Richtig ist aber auch, dass die Realisierungschancen einer solchen automobilen Kooperation à la Airbus gering sind, weil die Zustimmung gerade bei den deutschen Herstellern gegen Null gehen dürfte. Für BMW und Mercedes darf man das unterstellen, bei Volkswagen weniger. Da es sonst keine eigenständigen europäischen Hersteller mehr gibt, bliebe also ein Dreier-Bündnis übrig. Präsident Macron würde das sicherlich begrüßen.
Die Autobauer aus dem Reich der Mitte haben in Qualität und Design dank europäischer Ingenieure und Designer schnell gelernt und aufgeholt, ihre strategischen Kosten-Wettbewerbsvorteile bei Elektroautos sind zu groß und strukturell von den Europäern nicht einholbar. (Nebenbei bemerkt: Die Amerikaner haben das erkannt, und haben ihren Automarkt für China-Autos dichtgemacht.) Das bedeutet aber, grob gesprochen, nur das Ende der heutigen europäischen Autoindustrie in Europa selber. In Zukunft werden die europäischen Hersteller den europäischen Markt dann mit Elektroautos aus China versorgen. Zumindest die deutschen Hersteller sind massiv mit eigenen Werken im Riesenmarkt China vertreten.
Die europäischen Autobauer werden vom Grundsatz her also auch in Zukunft im Ausland als Autobauer überleben, aber eben nicht mehr in Europa selber. Bleibt die Verbrennertechnik als Domäne der europäischen Autobauer in einer klimaverträglichen Variante nach 2035 erhalten und wird umweltfreundlich weiterentwickelt, haben die europäischen Hersteller am Standort Europa eine reale Überlebenschance. Und die Beschäftigten in der Autoindustrie auch.
Das heißt konkret: Auch wenn de Meos „Brief an Europa“ nicht zum angestrebten „Automobil-Airbus“ führt, ist er als Problemanalyse und nachhaltiger Weckruf dennoch in den Köpfen der Politik-Verantwortlichen angekommen. Möglicherweise sogar bei den Gewerkschaften. Womit sich erneut die Volksweisheit bestätigt: „Es ist nicht wichtig, wie groß der erste Schritt ist, sondern in welche Richtung er geht.“