Am Anfang muss diesmal das Ergebnis stehen: Die EU hat den Weg frei gemacht für Strafzölle auf chinesische Elektrofahrzeuge in Höhe von bis zu 35,3 Prozent. E-Autos aus China könnten damit in der EU also um mehr als ein Drittel teurer werden.
Seit längerem überschwemmt Peking den Markt mit eigenen E-Autos, die besonders billig sind, weil China sie hoch subventioniert. Die europäischen Hersteller ächzen unter der staatlich massiv geförderten Konkurrenz, mit deren Preisen sie nicht mithalten können. Auf den ersten Blick wirkt die Maßnahme also plausibel: Die EU, so scheint es, schützt ihre eigenen Hersteller von Elektrofahrzeugen vor der unfairen chinesischen Konkurrenz, die sich dank staatlicher Unterstützung einen unfairen Wettbewerbsvorteil verschafft.
Doch wie so oft, sieht die Sache auf den zweiten Blick etwas anders aus.
In der EU herrscht nämlich diesmal nicht die sonst übliche „German Angst“ vor einer chinesischen E-Auto-Invasion, sondern vor allem eine „French Angst“. Chinesische Elektrofahrzeuge fahren vor allem in der Unter- und der Mittelklasse. Dort machen sie vor allem französischen und italienischen Marken Konkurrenz – und nur einigen wenigen Tochterfirmen von Volkswagen. Dagegen sind BMW, Mercedes sowie Audi und Porsche mit ihren E-Autos fast ausschließlich in der Oberklasse unterwegs.
Diese deutschen Autobauer sind umgekehrt sehr erfolgreich in (und sehr abhängig von) China, dem größten Automarkt der Welt. Sie verkaufen dort gut jedes dritte Fahrzeug und sichern damit viele Arbeitsplätze in Deutschland. Französische und italienische Marken sucht man auf den Straßen des asiatischen Riesenreichs dagegen nahezu vergeblich.
Wenn die EU mit ihren Strafzöllen jetzt einen kleinen Handelskrieg lostritt, wird Peking schon zur Wahrung des Gesichts gar nicht anders können, als mit Gegenzöllen zu reagieren. Franzosen und Italiener würde das kaum treffen: Ihr winziger Marktanteil in China würde eben einfach nur noch etwas winziger. Richtig wehtun würde das hingegen den deutschen Herstellern. Seitdem die Pläne der EU-Kommission ruchbar wurden, hat die deutsche Automobilindustrie deshalb auch kaum etwas unversucht gelassen, um die Strafzoll-Entscheidung abzuwenden.
Doch im Berliner Regierungsviertel fand die nach wie vor mit Abstand wichtigste deutsche Wirtschaftsbranche kaum Verbündete.
Außenministerin Annalena Baerbock setzte sich im Gegenteil vehement für die EU-Lösung ein. Europa müsse sich gegen China wehren, war das Credo der Grünen. Dass selbst der chronisch übervorsichtige Verband der Automobilindustrie (VDA) unter seiner zauderhaften Präsidentin (und Ex-Merkel-Vertrauten) Hildegard Müller zum Wohle deutscher Arbeitsplätze gegen die Pläne aus Brüssel Sturm lief, war Baerbock egal.
Baerbocks ewiger innerparteilicher Widerpart Robert Habeck wählte die Wachsweich-Variante: Der Wirtschaftsminister schlug vor, dass Deutschland sich in Brüssel ja enthalten könne. Damit hätte man zwar keinen einzigen deutschen Arbeitsplatz beschützt, aber man hätte zumindest auch nicht ganz so offen gegen die Interessen der deutschen Automobilbranche gehandelt. (Und auch nicht so schlimm gegen die Wünsche von Baerbock, die Habeck für seine Mission „Grüner Kanzlerkandidat“ noch dringend braucht.)
Einzig die FDP schlug sich auf die Seite der Autohersteller. Aber wer interessiert sich dieser Tage noch für die FDP?
Diese Ausgangslage bot dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz urplötzlich und ohne eigenes Zutun eine Möglichkeit zur Profilierung. Der SPD-Mann wirkt zwar öfter wie ein Schlumpf auf Valium, hier aber schlug er zu: Er machte von seiner sogenannten „Richtlinienkompetenz“ Gebrauch und ordnete mit viel Medien-Tamtam an, dass Deutschland sich in Brüssel nicht nur nicht enthält, sondern gegen die Strafzölle stimmt.
Vermutlich sah er schon die Schlagzeilen: „Scholz sagt nein“, „Scholz kämpft für Deutschlands Auto-Branche“. Schön wär’s gewesen. Doch dieses „Nein“ aus Berlin ist bei näherem Hinsehen nur ein weiteres, allerdings besonders dreistes, Beispiel für die wichtigste Grundlinie der Ampel: den Gratismut.
Denn in der Frage der Strafzölle hat Deutschland kein formales Veto-Recht. Berlin konnte also völlig gefahrlos gegen den Beschluss stimmen – denn es war von Anfang an klar, dass es trotzdem eine Mehrheit dafür geben würde. Kein Ärger mit der EU also.
In Berlin kann Scholz jetzt so tun, als habe er mal ordentlich auf den Tisch gehauen. „Von der Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht“, das klingt doch nach was. Allerdings wissen natürlich auch die Grünen, dass das deutsche „Nein“ in Brüssel die Strafzölle nicht hätte verhindern können. In der Substanz hat sich Baerbock durchgesetzt. Sie gibt sich also ein bisschen angepiekst, mehr aber auch nicht. Für Habeck gilt dasselbe. Bezeichnenderweise gibt es von den Grünen denn auch nur einen dürren Kommentar: Man habe die Entscheidung von Scholz „akzeptiert“.
In der Auto-Branche wird Scholz jetzt nach Kräften so tun, als habe er wie ein Löwe um jeden einzelnen gefährdeten Job in jeder einzelnen Montagehalle gekämpft: Olaf, der Arbeiterführer. Doch das Gegenteil ist richtig. Denn in Wahrheit hätte die Bundesregierung die Strafzoll-Entscheidung in Brüssel natürlich verhindern können – wenn sie es denn nur ernsthaft gewollt hätte.
Deutschland ist immer noch das mit Abstand größte Land in der EU: das Land mit den meisten Einwohnern, das Land mit der größten Volkswirtschaft – und das Land, das so viel in die Brüsseler Kasse zahlt wie kein anderes. Wenn Berlin sich bei irgendetwas wirklich querstellt, dann geht in der EU nichts gegen Deutschland. Kohl hat es getan, Schröder hat es getan, Merkel hat es getan.
Scholz hat es noch nicht einmal versucht. Er hat immer nur so getan, als ob.
Das ist sein Politikansatz. An die Amtszeit von Olaf Scholz wird man sich später einmal als die Potemkin’sche Kanzlerschaft erinnern. Eine Fassade von Worthülsen und Sprechstanzen und symbolischen Nein-Stimmen in Brüssel – und dahinter: die große Leere.
Der SPD-Mann hat in seiner ganzen politischen Karriere noch nie ein anderes Ziel verfolgt als das Erringen, den Ausbau und die Verteidigung der eigenen Position. Politiker sollen, ja müssen machtbewusst sein – aber die Macht ausschließlich als Selbstzweck: Das ist neu im Kanzleramt.
Alle Vorgänger von Scholz – alle – haben politisch in Deutschland etwas bewirkt. Das war nicht immer vorteilhaft, wie in der Ära Merkel. Aber selbst Angela Merkel hat ihre persönliche Macht für politische Veränderungen genutzt (wenn auch für die falschen).
Olaf Scholz nutzt seine persönliche Macht politisch für – nichts.
Alles, was er tut, dient allein dazu, sich an der Macht zu halten. Dafür hält er seine Koalition mehr schlecht als recht zusammen. Dafür spielt er den deutschen Autoarbeitern Interesse an ihrem Schicksal vor. Dafür lässt er in der EU ein publikumswirksames, aber politisch völlig bedeutungsloses „Nein“ hinterlegen. Scholz riskiert keinen inhaltlichen Konflikt mit irgendwem: Die Richtlinienkompetenz würde er nie in einer wirklich umstrittenen Frage einsetzen. Für die Interessen der deutschen Autobranche in Brüssel in den Kampf zu ziehen, hat er nie auch nur eine Sekunde ernsthaft erwogen.
Alles, was er tut, ist: Er balanciert die Gewichte in seiner Koalition aus – so gut es eben geht und fernab von jedwedem gesellschaftlichen Anspruch, fernab von jedwedem politischen Inhalt, fernab von jedweder Substanz.
Scholz tut so, als würde er regieren. Tatsächlich simuliert er das Regieren nur.
Der Kanzler hat so ein politisches Vakuum erzeugt, das die Grünen vehement auszufüllen versuchen (die FDP spielt, wir haben es schon angemerkt, keine Rolle mehr). Scholz wird sie gewähren lassen, solange sie ihm für seinen persönlichen Machterhalt noch nützen können. Der Schaden, der derweil für Deutschland entsteht, ist ihm ersichtlich schnuppe.
Am Ende sind unsere hausgemachten Probleme womöglich noch schlimmer als Strafzölle für chinesische E-Autos.