Tichys Einblick
Unbequem für die Bundesregierung

Martin Werding, der Herr der Rentenlöcher, wird zum Wirtschaftsweisen

Der Ökonom Martin Werding kritisierte kürzlich die Bundesregierung in einer Studie für ihre mangelnde rentenpolitische Vorsorge. Auf Wunsch der Arbeitgeber wurde er als „Wirtschaftsweiser“ in den Sachverständigenrat berufen. Für die Regierenden könnte das unbequem werden.

Martin Werding, neues Mitglied im Sachverständigenrat und Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum

IMAGO / Jürgen Heinrich

Nach einem Bonmot unter Insidern hat die Bundesregierung zum Sachverständigenrat (SVR), ihrem höchsten Beratergremium in Wirtschaftsfragen seit Gründung 1963 unter Ludwig Erhard, in der Ägide Merkel ein Verhältnis entwickelt wie der Betrunkene zur Straßenlaterne: sie braucht zwar Halt, aber kein Licht.

In diesem Rat „zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, meist unter dem Spitznamen der sogenannten „Wirtschaftsweisen“ bekannt, wird nun künftig mit dem Sozialpolitik-Experten Martin Werding jemand sitzen, der sich nicht scheut, der Bundesregierung ihre strukturellen Versäumnisse vorzuhalten. Das hat Martin Werding, Professor für Sozialpolitik und Öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum gerade mit einem alarmierenden Bericht für den Bundesrechnungshof bewiesen, in dem er vorrechnete, wie viele Milliarden demnächst in Alters- und Staatskassen fehlen – und grundlegende politische Veränderungen anmahnte. Die angesprochenen Ministerien gaben ihm dafür eine offene Abfuhr. TE berichtete.

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Die Nominierung Werdings durch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat eine längere Vorgeschichte. Zunächst unterließ es die Bundesregierung, den Dienstvertrag des bis dahin amtierenden Rats-Vorsitzenden des Fünfergremiums zu verlängern: der renommierte liberale Freiburger Ökonomen Lars Feld musste im Februar 2021 gegen seinen Willen gehen. Feld hatte dem Rat seit 2011 auf Vorschlag der Regierung angehört, im Frühjahr 2021 wurde ihm aber unter der schwarz-roten Regierungskoalition eine dritte Amtszeit verweigert. Hintergrund waren parteipolitische Konflikte um die Ausrichtung des Gremiums. Das Fünfergremium blieb seither nur zu viert, ohne wissenschaftlichen Richtungsgeber und Mannschaftskapitän. 

Die Ratskrise sollte sich dann im Februar 2022 nochmals überraschend weiter zuspitzen, als der renommierte Frankfurter Finanzwissenschaftler Volker Wieland die Ratssegel strich und seinen Rücktritt verkündete. Der Wirtschaftsweise Wieland hat das Gremium der Regierungsberater Ende April verlassen und ist damit weit vor Ablauf seiner zweiten Amtszeit Ende 2023 aus dem Gremium ausgeschieden.

Da waren es nur noch Drei (vgl. Tichys Einblick Heft 06/2022). Nachdem zwischenzeitlich Bundesfinanzminister Christian Lindner den Ex-Rats Vorsitzenden Feld als finanzpolitischen Berater für sein Haus gewinnen konnte, und damit die ökonomische Expertise des Sachverständigenrates von dessen Dienstsitz in Wiesbaden am Rhein an die Spree nach Berlin holte, witterten Kenner der Szene  eine hinterlistige Absicht der Bundesregierung, den stets aufmüpfigen Sachverständigenrat durch personelle Ausdünnung langsam aber sicher dem Ende zuzuführen.

Offensichtlich hat die gemurmelte Kritik gewirkt. Das zuletzt auf drei Mitglieder geschrumpfte Gremium der „Wirtschaftsweisen“ – die Ökonominnen Veronika Grimm und Monika Schnitzer (auf Vorschlag der Regierung) und Achim Truger (auf Vorschlag der Gewerkschaften) wird wieder aufgefüllt. Nun füllt sich die Runde also wieder: Martin Werding wird auf Ratsmitglied Volker Wieland folgen.

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Von den fünf Plätzen im „Rat der Fünf Weisen“, der im Auftrag der Bundesregierung tätig ist und jährlich bis zum 15. November ein Gutachten „Zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland“ vorzulegen hat, wird traditionell je einer auf Vorschlag der Arbeitgeber und Gewerkschaften besetzt. Da Geldexperte Volker Wieland, Professor für Monetäre Ökonomie in Frankfurt, 2013 von den Arbeitgebern nominiert worden war, lag es nun an der BDA, einen Nachfolger für Wieland zu finden. Bei Martin Werding wurde man fündig. Der Bochumer Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler soll neues Mitglied des Sachverständigenrats werden. Seine Berufung wertet das wirtschaftspolitische Gremium der Bundesregierung auf.

Der gebürtige Rheinländer Werding, Jahrgang 1964, ist nach seiner Tätigkeit beim ifo-Institut in München, wo auch heute noch seine Familie wohnt, seit 2008 Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Universität Bochum. „Er brilliert in seinen Fachgebieten, statt seinen Senf auf jedes Thema von Inflation bis Gas-Embargo zu drücken“ (Süddeutsche Zeitung). 

Werding hat in den vergangenen Jahren bereits einige Erfahrung als Politikberater gesammelt. So erstellte er beim Ifo-Institut im Auftrag des Bundesfinanzministeriums Langfristprojektionen zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Er gilt als marktliberal, kühl und als kluger Rechner, nicht als ideologischer ökonomischer Eiferer. Und als Raucher auch nicht als Asket.

Werding hat in den vergangenen Jahren auch eine vor der BDA eingesetzte Sozialstaatskommission geleitet und mit ihr 2020 einen umfangreichen Bericht vorgelegt. Er sollte aufzuzeigen, wie sich die Sozialausgaben stabilisieren lassen, damit die Sozialbeiträge nicht über 40 Prozent des Bruttolohns steigen. Einer Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung kam dabei eine wesentliche Rolle zu. Werding rechnete vor, dass ohne eine solche Reform das Rentensystem unfinanzierbar würde.  Er schlug vor, mit steigender Lebenserwartung auch das Rentenalter zu erhöhen. Tosender Applaus der SPD für seine Berufung blieb erwartungsgemäß aus. Überdies hat Werding für die FDP die Aktienrente kalkuliert, die die Ampel-Regierung dann einführte. 

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Ohne Zweifel füllt Werding im Sachverständigen mit seinem Fachwissen nicht nur eine organisatorische Lücke, er ist der richtige Mann zur richtigen Zeit. Ausufernde Staatsverschuldung und nicht mehr bezahlbare, weil ebenfalls ausufernde Sozialsysteme sind die beiden großen Zukunftsthemen für Politik und Gesellschaft in Deutschland. Werding hat auf beiden Gebieten schon emsig gerechnet und geforscht. Der Ökonom Martin Werding gilt in erster Linie als sozialpolitischer Mahner und Warner, die Süddeutsche Zeitung nennt ihn daher „Herr der Rentenlöcher“.  

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger lobte Werding beim der Vorstellung als Ökonomen, dessen Expertise außer Frage stehe. „Wir verbinden unseren Vorschlag mit der Erwartung, dass es in gemeinsamer Anstrengung gelingen wird, den Sachverständigenrat wieder zu einem renommierten und allgemein akzeptierten Gremium der Politikberatung zu machen“, erklärte Dulger. 

Mit Werdings Ernennung ist zumindest ein erster – überfälliger – Schritt zur Wiederbelebung des Gremiums gemacht. In die Hängepartie um die Berufung von Ratsmitgliedern kommt nun Bewegung. Zu mehr als zur Wiederherstellung der Patt-Situation vor dem Wieland-Exit reicht das aber noch nicht. Offen ist noch, wer die Nachfolge des Freiburger Ökonomen Lars Feld antreten soll. Und wer dann das Fünfer-Gremium als Vorsitzender in die Zukunft führen soll. 

Möglicherweise ist der Personalvorschlag der Arbeitgeber ein Vorzeichen, dass die Ampelregierung nun bald auch mit einer Klärung der Feld-Nachfolge vorankommt.

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