Kaum etwas hassen Investoren so sehr wie Unsicherheit. Und die schwebte so lange über den Anleihen- und Aktienmärkten, wie der Chef der US-Notenbank Jerome Powell zwar schon angekündigt hatte, die Geldpolitik straffen zu wolle – aber nicht, wann, und wie stark. Seit dem 15. Dezember müssen die Anleger nicht mehr warten und rätseln. Powell verkündete erstens eine raschere Reduzierung der Fed-Anleihenkäufe, die jetzt um 30 statt wie bisher angekündigt um 15 Milliarden Euro pro Monat sinken sollen. Damit läuft das Fed-Kaufprogramm schon im Frühjahr 2022 aus. Und es folgen im kommenden Jahr drei Zinsschritte von je 25 Basispunkten, also 0,25 Prozent. Zurzeit liegen die US-Zinsen in einem Bereich zwischen Null und 0,25 Prozent. Ende 2022 stehen sie damit maximal bei einem Prozent. Angesichts einer Inflationsrate von derzeit über sechs Prozent befinden sich die Realzinsen dann immer noch weit im negativen Bereich.
Die erwartete Straffung fällt dezenter aus, als viele Anleger vermutet hatten. Und die Entwicklung der Märkte lässt sich jetzt besser vorhersehen. Anders, als es etliche Beobachter befürchtet hatten, endete deshalb die Aktienparty in den USA nicht. Nach Powells Stufenplan stieg der Leitindex Dow Jones um 1,08 Prozent auf 35.927 Punkte. Auch Gold kletterte wieder über die Marke von 1 800 Dollar pro Unze. Die Geldpolitik im Dollarraum, so lautete das Fazit, normalisiert sich. Aber die Inflation dürfte damit nicht schnell verschwinden, sondern lange bleiben, und allenfalls langsam auslaufen. Den Vorwurf, mit seiner sachten Zinsankündigung vor allem den Aktienbesitzern gedient zu haben, muss Powell nicht zu schwer nehmen. Denn in den Vereinigten Staaten liegt die Aktienquote – also der Anteil der Aktienbesitzer an der Bevölkerung – bei über 50 Prozent. Dort hängt auch die Altersvorsorge von LKW-Fahrern und Verkäuferinnen an der Entwicklung der Anteilsscheine. Zeitgleich vollzog auch die Bank of England die lange erwartete (leichte) Zinswende: In Großbritannien steigen die Zinsen um 0,15 auf 0,25 Prozent. Bei einer Inflationsrate auf der Insel von 5,1 Prozent (November 2021) bleibt der Realzins ebenfalls kräftig negativ. Aber auch hier signalisierte die Bank, dass sie vorsichtig das Ende der ultralockeren Geldpolitik einleitet.
Ganz anders dagegen die Sitzung der EZB in dieser Woche: Sie verfolgt mehr und mehr einen geldpolitischen Sonderweg. „Nach der Fed leitet auch die EZB den Ausstieg aus ihrer ultralockeren Geldpolitik ein“, meldete die Tagesschau irreführend. Sie erklärte, die EZB lasse das pandemiebegründete Sonder-Ankaufprogramm PEPP im Frühjahr auslaufen. Das war allerdings auch schon früher exakt so angekündigt worden. Dagegen läuft das reguläre Anleihenkaufprogramm unverändert weiter; die Zinserträge aus PEPP können sogar wieder zum Kauf neuer Papiere verwendet werden. Und vor allem: EZB-Chefin Christine Lagarde machte deutlich, dass sie noch nicht einmal an eine Zinsanhebung denkt. Dabei lag die Inflation in der gesamten Eurozone im November bei 4,9 Prozent, also mehr als doppelt so hoch wie die angeblich angestrebte Teuerungsrate von „unter zwei Prozent“. In Deutschland rangierte die Geldentwertung im November sogar bei 5,2 Prozent. Noch gröber als die ARD redete das ZDF die Lage schön: Dort behauptete eine Reporterin faktenfrei, die EZB habe in den nächsten Jahren „Klimaschutz, Digitalisierung und Infrastruktur“ zu finanzieren – da kämen Nullzinsen doch gerade Recht.
In Wirklichkeit steht Preisstabilität als einzige Aufgabe der Euro-Notenbank im Statut. Und: Beim ZDF scheint auch der Unterschied zwischen Noten- und Geschäftsbanken nicht mehr geläufig zu sein.
Lagarde argumentierte, der Preisschub liebe vor allem an den stark gestiegenen Energiekosten. Und dagegen könne die EZB erstens nichts tun, und zweitens werde dieser Effekt 2022 auch wieder von allein verschwinden.
Die Deutschen, typischerweise klassische Sparer, trifft die Mischung aus vorerst endlosen Nullzinsen und ebenfalls endloser Inflation besonders hart. Denn die Bundesrepublik rangiert nicht nur mit der Immobilienbesitz-Rate ganz am Ende der EU-Skala, auch die Aktienquote liegt deutlich unter 20 Prozent.
Lagardes Voodoo-Ökonomie widersprechen mittweile führende Banker, etwa der Deutsche Bank-Chef Christian Sewing. Dessen Expertise bedürfte es eigentlich nicht. Mittlerweile lesen die deutschen Verbraucher in Mitteilungen von Dienstleistern selbst nach, wie die Preise auch 2022 weiter hartnäckig anziehen werden.
- Laut Verbraucherportal Check24 kündigten bisher 439 Versorger ihren Kunden deutlich höhere Preise für das kommende Jahr an. Dem Portal zufolge verlangen die Anbieter dann durchschnittlich 24,6 Prozent mehr.
- Die Bahn verlangt ab 12. Dezember höhere Preise für die Bahncard: Die Bahncard 25 kostet dann in der 2. Klasse 56, 90 statt 55,70 Euro, für die die Bahncard 50 werden 234 statt 229 Euro fällig.
- Auch die Post greift ab Januar 2022 stärker zu: Der Standardbrief soll dann 85 statt 80 Cent kosten, die Postkarte 70 statt 60 Cent.
- Engpässe beim Material und gestiegene Energiepreise treiben auch die Baukosten erheblich. Laut Statistischem Bundesamt legten die Baupreise im 3. Quartal 2021 um 12,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu– der stärkste Preissprung in diesem Sektor seit 1970.
Die von der neuen Bundesregierung geplante Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, weiter steigende Energiepreise und deutlich aufwendigere Energiespar-Vorschriften dürften die Baupreise auch 2022 weiter treiben – und damit mittelfristig auch das Miet- und Kaufpreisniveau im Neubaubereich.
Mit ihrer Entscheidung machte Lagarde deutlich, dass sie vor eines im Auge hat: Die Lage der stark verschuldeten Euro-Länder, für die jedes Viertelprozent mehr Zinsen hunderte Milliarden Euro mehr Zinsen bedeuten würde. Außenstände von insgesamt gut 11,5 Billionen Euro lasten auf der Euro-Zone. Griechenlands Schulden erreichten Ende 2021 fast 210 Prozent seiner Wirtschaftsleistung; Italien steht mit rund 160 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts im Schuldenregister, Frankreich mit 117 Prozent. Dazu kommen auch viele Unternehmen, die nur noch durch den ständigen Nachschub von Billiggeld überleben. Die EZB rechnet damit, dass das Volumen der faulen Kredite in der Eurozone, das vorübergehend schon einmal unter eine Billion Euro gefallen war, bis 2022 auf 1,4 Billionen Euro ansteigen könnte. Schon eine minimale Leitzinserhöhung würde die Schuldenstaaten in schwere politische Turbulenzen stoßen – und tausende Firmen in den Abgrund. Im Euro-Gebiet herrscht deshalb das, was Ökonomen Fiskaldominanz nennen: Die (dramatische) Lage der Staatshaushalte diktiert längst die Politik der auf dem Papier unabhängigen Zentralbank.
Theoretisch könnte die neue Bundesregierung einiges gegen die Inflation tun, wenn schon die EZB nicht gegen die Geldentwertung kämpfen will. Aber alle Gegenmittel kommen aus ideologischen Gründen nicht in Frage. Eine längere Laufzeit für die restlichen sechs deutschen Kernkraftwerke würde den Anstieg der Gaspreise zumindest begrenzen (und gleichzeitig die CO2-Bilanz verbessern). Mit einer derartigen Kehrtwende gleich nach dem Regierungsantritt würden sich die Grünen allerdings pulverisieren. Auch ein Verzicht auf die nächsten Stufen der CO2-Steuer könnte die Geldentwertung dämpfen. Aber auch dieser Preisaufschlag gehört zu den politischen Kernanliegen der Grünen. Helfen würde es, wenigstens keine zusätzliche schuldenfinanzierte Geldumverteilung in der EU in Gang zu setzen. Aber auch hier gilt: die Lösung praktisch aller tatsächlichen oder politisch entworfenen Probleme gelingt nur mit viel öffentlichem Geld. Und das nicht nur national, sondern am besten immer via Brüssel.
Unter den EU-Ländern erholt sich Deutschland bis jetzt nur schleppend von den Folgen der Lockdowns. Seine Wachstumsraten liegen unter denen von Italien – die Inflationsrate aber deutlich darüber. Normalerweise ist die Inflation ein normaler Begleiter von Boom und Hochkonjunktur. Aus genau diesem Grund verträgt die Wirtschaft dann auch hohe Zinsen. Der Euro-Zone und speziell Deutschland droht allerdings das schlechteste aus beiden Welten: Kaufkraftverlust bei schleppendem Wachstum, gedrosselt durch hohe Energiepreise, aber auch durch immer mehr staatliche Regulierung. Der Fachbegriff für dieses spezielle Gespenst lautet: Stagflation, also eine Mischung aus Stagnation und Inflation.
Gegen die EZB-Entscheidung des Immer-weiter gab es einige oppositionelle Stimmen im Direktorium – die Minderheit der üblichen Verdächtigen. Auch der mutmaßlich neue Bundesbankchef Joachim Nagel, zurzeit noch in der Führung der Bank für internationalen Zahlungsausgleich – wird an diesem Kräfteverhältnis nichts ändern können, in dem die Sparer die Rolle der Verlierer übernehmen müssen.