Auf 66 Seiten listeten die Beamten von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck vor kurzem auf, wie sie sich Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung vorstellen. Das Papier im Entwurfsstadium trägt den Titel „Nationales Reformprogramm 2023“, außerdem den VS-Vermerk („nur für den Dienstgebrauch“). Gleich im Eingangskapitel stellen die Wirtschafts-Ministerialen Deutschlands Ökonomie und damit indirekt auch sich selbst ein gutes Zeugnis aus.
„Weder ist es zu einer akuten Energieknappheit gekommen, noch mussten Betriebe flächendeckend ihre Produktion einstellen oder Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen“, heißt es dort. Mit anderen Worten: Bisher ging doch alles noch gut. Richtig ist, dass Unternehmen ihre Produktion bisher nicht flächendeckend einstellten und dass die Energie- und Gasversorgung im Winter nicht zusammenbrach. Aber: Die trotz eines leichten Rückgangs nach wie vor hohen Energiepreise, die wachsende Versorgungsunsicherheit und die immer engeren staatlichen Regulierungen und Vorgaben treiben inzwischen sehr viele Unternehmen dazu, hierzulande Arbeitsplätze abzubauen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern und neue Investitionen gleich dort vorzunehmen, wo sie günstigere Bedingungen finden. Und das geschieht durchaus flächendeckend – vor allem in den alten Industriezentren im Westen. Und es bedeutet: Firmen entlassen zwangsweise viele Menschen in die Arbeitslosigkeit.
Die Versorgungslücke entsteht durch die Abschaltung grundlastfähiger Kraftwerke einerseits, aber auch durch den steil wachsenden Stromverbrauch auf der anderen Seite. Habeck sagte vor kurzem, bis 2030 werde der Stromverbrauch von derzeit gut 550 Terawattstunden im Jahr auf 750 Terawattstunden 2030 ansteigen. Angesichts seiner Pläne, den Verkehr durch Batterieautos und das Heizen durch Wärmepumpen im großen Stil zu elektrifizieren, führt auch nichts an dieser gewaltigen Verbrauchserhöhung in wenigen Jahren vorbei – wenigstens auf dem Papier.
Auf die Frage, wie die Lücke real gestopft werden soll, zucken Energie-Fachleute mit den Schultern. Auch der Zubau von Windenergie, von Habeck als der Weg ins grüne Wunderland schlechthin gepriesen, dürfte in den nächsten Jahren noch nicht einmal kompensieren, was durch die Atomkraftswerks-Abschaltung an Kapazität rechnerisch wegfällt.
Auch in dem Strategiepapier des Wirtschaftsministers findet sich nichts, was aus dieser Misere weist. Unternehmensführer müssen also damit rechnen, dass die Energie in Deutschland nicht nur kostspielig bleibt, sondern auch zu einem knappen Gut wird. Zusammen mit hohen Steuern, drückender Bürokratie und staatlicher Gängelung durch Berlin und die EU bildet das eine toxische Mischung. Zurzeit findet ein regelrechter Kehraus bei der Industrie statt.
Ende Februar verkündete BASF-Chef Martin Brudermüller den großen Kahlschlag in Deutschland: insgesamt baut der Konzern 2.500 Stellen ab, davon 700 in der Produktion am Stammsitz Ludwigshafen. Dort legte das Unternehmen auch zwei große Anlagen still.
Neben der Grundstoff- und der Metallindustrie trifft die Deindustrialisierungswelle den Fahrzeugbau mit voller Härte – teils wegen der Klima-Vorgaben, teils auch aus Kostengründen. Nachdem Ford schon 2022 ankündigte, sich von seinem Standort Saarlouis zu verabschieden, erklärte das Unternehmen im Februar 2023, auch die Standorte Köln und Aachen stark zu schrumpfen. In der Domstadt soll die Produktion des dort seit 1979 hergestellten Fiesta im kommenden Jahr enden. Das Kölner Werk, so das Management, werde dann komplett auf die Fertigung von Elektroautos umgestellt. Allerdings zeichnet sich der Bau von Batterieautos durch eine geringere Fertigungstiefe aus. Er kommt mit weniger Beschäftigten aus. Folglich streicht Ford in Köln und Aachen insgesamt 2.300 Arbeitsplätze.
Mehrere deutsche Fahrzeugbauer und Zulieferer zieht es in die USA. Erstens, weil dort die Energiepreise niedrig liegen, zweitens, weil keine Versorgungsknappheit droht. Außerdem überschüttet die Administration von Präsident Joseph Biden Investoren per Inflation Reduction Act mit milliardenschweren Subventionen. Deshalb baut VW demnächst seinen Elektrowagen Scout in einem neuen Werk, das der Konzern ab Mitte 2023 nahe Columbia in South Carolina errichtet. Im Jahr 2026 soll die zwei Milliarden Dollar teure Fabrik produzieren und 4000 Menschen Arbeit geben. Der Inflation Reduction Act erklärt diesen Kapitalstrom nach Nordamerika nicht allein. Denn Volkswagen möchte auch ein großes Batteriewerk im kanadischen Ontario errichten. Den Ausschlag gibt auch hier die kostengünstige, sichere Stromversorgung.
In einem „Welt“-Interview kündigte der Chef des Auto-Zulieferers Schaeffler Klaus Rosenfeld ebenfalls an, das Wachstum künftig in den USA zu suchen. „Die bestehende Produktion werden wir nicht in die USA verlagern“, so Rosenfeld: „Aber die nächsten Werke bauen wir eher in Amerika.“ Und: „Es besteht die Gefahr, dass Europa der Verlierer dieser Umverteilung wird.“
Neben Chemie- und Fahrzeugbranche befindet sich auch Pharma auf dem Rutsch Richtung West und Ost. „Europa macht einige wirklich große Fehler“, meinte Bayer-Pharmachef Stefan Oelrich vor kurzem in einem Interview mit der „Financial Times“. Er kündigte an, der Konzern werde sich bei der Weiterentwicklung seiner Pharmaproduktion in Zukunft stark auf die USA und China konzentrieren. Die EU nannte Oelrich „innovationsunfreundlich“.
Robert Habecks Rezept dagegen lautet: Dann muss der Staat eben schon verlorengegangene Branchen wie die Solarindustrie wieder in Deutschland ansiedeln. Da kein Hersteller aus diesem energieintensiven Sektor Deutschland sonderlich attraktiv findet, müsse der Steuerzahler die Werke, so meint der Wirtschaftsminister, eben subventionieren. Nicht nur bei der Ansiedlung, sondern dauerhaft. „Wir müssen die Produktionskapazitäten für erneuerbare Energien und Stromnetze in Deutschland und Europa stärken“, so Habeck auf dem „Produktionsgipfel“ in Berlin, der im Februar stattfand: „Das ist wichtig für das Gelingen der Energiewende und um Arbeitsplätze und Wertschöpfung in Deutschland und Europa zu sichern.“
Erst Bedingungen schaffen, die Produzenten reihenweise aus dem Land treiben, um dann einige Branchen wieder mit Steuer-Milliarden anzulocken – so etwa stellt sich seine Umbaustrategie derzeit dar. Zur massen- und dauerhaften Subventionierung von Produktion und Arbeitsplätzen gab es in Deutschland schon einmal ein Großexperiment. Es nannte sich DDR. Ausgang bekannt.