Die Inflation zieht deutlich an – etwa die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise. Laut dem Statistischen Bundesamt verteuerten sich Tomaten um 42,6 Prozent zwischen Mai 2020 und Mai 2021, Handelsgewächse wie Raps und Zuckerrüben um 30,7 Prozent, Getreide um 20,4 Prozent und Gemüse um 13,5 Prozent. Energie kostete innerhalb eines Jahres 10 Prozent mehr, wohl auch wegen der CO2-Steuer. Besonders verteuerten sich Heizöl (35,4 Prozent) und Kraftstoffe (27,5 Prozent).
Insgesamt lag die Inflationsrate im Mai bei 2,5 Prozent. In den USA war die Teuerungsrate mit 5 Prozent so hoch wie seit der Finanzkrise 2008 nicht.
Dabei dürften der tatsächliche Kaufkraftverlust noch höher ausfallen. „Die Zusammensetzung der Warenkörbe, die der Berechnung zu Grunde liegen, werden manipuliert und verändert und sind auch willkürlich”, sagt der Professor für Volkswirtschaftslehre Philipp Bagus. Etwa ergaben Berechnungen von Unicredit, dass die gefühlte Inflation im Mai bei 4,2 Prozent lag. Die Ökonomen der italienischen Großbank gewichteten die Güter nach Kaufhäufigkeit – Kraftstoffe hatten etwa einen fast dreimal größeren Anteil am Warenkorb als beim Statistischen Bundesamt. John Williams schätzt den Anstieg der US-Verbraucherpreise zum Jahr 2021 sogar auf über 10 Prozent. Der US-Ökonom verwendete dabei die alte Berechnungsweise der US-Statistikbehörde aus dem Jahr 1980.
Philipp Bagus kritisiert auch, dass die Statistiker nicht die Vermögenspreise berücksichtigen. Diese steigen nämlich kräftiger als die Verbraucherpreise, etwa bei Aktien, Immobilien oder Luxusgütern. Laut dem Flossbach von Storch Research Institute betrug der Vermögenspreisanstieg 11,9 Prozent zum ersten Quartal – das sei der höchste Wert seit Beginn der Erhebung im Jahr 2005.
Gleichzeitig fehlten den Unternehmen aufgrund der günstigen Finanzierungsbedingungen die Anreize, um Effizienzgewinne und Innovationen voranzubringen, sagt Schnabl. Die gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwächse, die Grundlage von Lohnerhöhungen seien, würden sinken. Schnell wuchernde Regulierungen des Staates verschärften die Produktivitätsverluste. „Damit kommen die Löhne unter Druck, insbesondere von jungen Menschen und Berufseinsteigern. Da junge Menschen erst Vermögen bilden wollen, sind sie die größten Verlierer dieser Geldpolitik der Zentralbanken”, sagt Schnabl, der an der Universität Leipzig das Institut für Wirtschaftspolitik leitet.
Dass die Inflation in diesem Jahr weiter anziehen dürfte, legen auch repräsentative Zahlen der Bundesbank zu den Inflationserwartungen nahe. Demnach glaubten im Mai fast 80 Prozent der Deutschen, dass die Inflationsrate deutlich oder geringfügig ansteigen wird. Rund 30 Prozent gingen von einem deutlichen Anstieg aus. Zum Vergleich: Im Juni 2019 erwarteten nur etwas mehr als 60 Prozent einen geringfügigen oder deutlichen Anstieg.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi kündigte in einer Mitteilung bereits an, wie die Strategie aussehen wird, wenn sich der Staat mit den leeren Kassen zu Corona-Zeiten herausreden sollte: „Unsere Antwort lautet, dass es eine politische Frage und kein Sachzwang ist, wofür Geld da ist und ausgegeben wird.” Bereits im vergangenen Jahr betrug das Lohnplus 3,2 bis 4,5 Prozent – abhängig von der Höhe des Lohns, wie Verdi mitteilte. Das war wohlgemerkt im Oktober, als sich bereits ein erneuter Lockdown abzeichnete und das deutsche BIP im zweiten Quartal um 9,7 Prozent eingebrochen war – laut Statistischem Bundesamt der stärkste Quartalsrückgang seit Beginn der Berechnungen im Jahr 1970.
Indes könnte nicht nur weitere Inflation drohen, sondern auch Stagflation – also steigende Verbraucherpreise bei stagnierendem Wirtschaftswachstum. Er halte das für “wahrscheinlich”, sagt etwa Gunther Schnabl. Die Regulierungen dürften aufgrund von Klimaschutz-Maßnahmen und eines möglicherweise wieder auflebenden Corona-Schutzes zunehmen. Das erhöhe die Lohnstückkosten und zwinge die Unternehmen auf Dauer zu Preiserhöhungen, argumentiert der Professor.
Eine Stagflationsperiode gab es bereits in den 70er- und 90er-Jahren. Der spanische Ökonom Jesús Huerta de Soto hält Stagflation indes für ein universelles Phänomen, das auf eine besonders massive Geldschöpfung der Zentralbanken zurückzuführen sei. Banken leiteten das frische Geld vor allem in die Industrien, die in der Wertschöpfungskette weiter hinten lägen, also entfernt von Konsumbranchen wie dem Handel. Dort komme es zu einer Überbeschäftigung von Arbeitskräften und Kapitalgütern. Die Preise von Produktionsgütern stiegen kräftiger an als die Preise von Konsumgütern. Diese Fehlleitungen der Produktionsmittel würden umso größer, je länger der durch ungedecktes Zentralbankgeld herbeigeführte Boom dauere.
Schließlich komme aber der Punkt, an dem sich der Prozess umkehre und die Verbraucherpreise kräftiger anstiegen als die Löhne und Güterpreise in den Produktionsgüterindustrien. Das könne durch Flaschenhälse in der Wertschöpfungskette passieren – also durch Lieferengpässe wegen der Fehlleitungen von Kapital und Arbeit –, wodurch weniger Konsumgüter am Markt ankämen. Das treibe die Verbraucherpreise nach oben und lasse die Wirtschaft stagnieren, erklärt Huerta de Soto.
Laut dem spanischen Professor ist die Wertschöpfungskette in der Corona-Krise produktionslastiger geworden, weil Konsum weggebrochen sei und davon besonders Tourismus- oder Einzelhandelsunternehmen betroffen seien. Ein größerer Anteil der Arbeitskräfte und Kapitalgüter ist laut ihm also in Branchen beschäftigt, die weiter hinten in der Wertschöpfungskette angesiedelt sind. Gleichzeitig ging aber auch in den hinten gelegenen Industrien die Beschäftigung zurück, wenn auch weniger stark als beim Konsum.
Diese Fehlausbildungen der Produktionsstruktur dürften mit zu den Flaschenhälsen geführt haben, die derzeit bei vielen Vorprodukten bestehen – etwa Kunststoffe, Holz, Stahl, Halbleitern oder Baumaterialien. Laut dem Bundesverband des Deutschen Getränkefachgroßhandels fehlen etwa in der Getränkelogistik LKW-Fahrer. Wegen des Lockdown habe es weniger Fahrer gebraucht, erklärt Markus Rütters von der Deutschen Getränke Logistik. „Weil etliche Fahrer aber nicht in Kurzarbeit wollten, sind sie in andere Branchen oder sogar Berufe abgewandert”, sagt er.
Anzeichen, dass die Wirtschaft stagniert, mehren sich. Laut dem Statistischen Bundesamt ist die Zahl der Baugenehmigungen von März auf April um 22,9 Prozent eingebrochen. Die Industrieproduktion ging um 1,0 Prozent zurück. Auch das BIP stagnierte zuletzt: Im ersten Quartal schrumpfte es um 1,8 Prozent zum Vorquartal und um 3,1 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Insgesamt lag es 5 Prozent unter dem vierten Quartal 2019.
Dass der Nachholeffekt nur kurzzeitig bestehen dürfte, legen auch Zahlen der Creditreform nahe. Bei einer repräsentativen Umfrage gaben 40 Prozent der Deutschen an, in den nächsten Monaten Anschaffung für den Haushalt auf Kredit tätigen zu wollen – acht Prozent mehr als im Oktober. Häufiger als je zuvor kündigten die Befragten „sonstige Anschaffungen“ an. „Dies kann als Zeichen für eine diffuse Konsumlust interpretiert werden, mit der Verbraucher die Zeit überwinden wollen, in der Konsum nicht oder nur online möglich war“, sagte Stephan Vila von der Wirtschaftsauskunftei.
Gleichwohl wollen die Deutschen aus Angst vor Zahlungsproblemen sparen. Die Sparneigung sei so hoch wie nie seit der ersten Umfrage im Jahr 2010, teilte die Creditreform mit. Finanziellem Stress unterlägen nicht mehr nur Geringverdiener. Jeder dritte Befragte fürchtete demnach, in den kommenden 12 Monaten regelmäßige oder außergewöhnliche Verbindlichkeiten nicht begleichen zu können. Zwei von fünf Haushalten mussten sogar Einkommenseinbußen in der Corona-Krise hinnehmen. Die Wirtschaftsauskunftei erwartet deswegen, dass viele Haushalte nach Auslaufen der staatlichen Hilfen überschuldet sein dürften. „Höchstwahrscheinlich wird die Spitze der Neuverschuldung erst nächstes oder übernächstes Jahr erreicht werden“, sagte Patrik-Ludwig Hantzsch.
Auch die EZB dürfte ihre expansive Geldpolitik wohl fortsetzen. Ansonsten würden die Zinsen von Staatsanleihen ansteigen, was Südländer wie Italien oder Spanien in finanzielle Schwierigkeiten bringen dürfte. Die Regierungen der führenden EU-Staaten wollen mit aller Macht verhindern, dass die Währungsunion auseinander bricht.
Außerdem dürfte nicht nur in Deutschland ein Insolvenzstau vorliegen, der die Volkswirtschaften stagnieren lassen könnte, sobald er sich entlädt. In Westeuropa gingen im Jahr 2020 ein Viertel weniger Unternehmen bankrott, teilte die Creditreform mit. Sollte die EZB die Geldmenge nicht rasch genug ausweiten, dürften die Kreditzinsen für Unternehmen steigen. Viele könnten pleite gehen, was die Wirtschaft weiter ausbremsen würde. Auch ein Ende der Corona-Hilfen oder des Kurzarbeitergelds könnte den Aufschwung vereiteln.
Selbst die Flaschenhälse könnten bei manchen Vorprodukten noch länger bestehen. Etwa sagte eine Managerin des Chip-Herstellers Flex, dass sie mit Lieferproblemen bis Mitte oder Ende 2022 rechne. “Manche schätzen gar das Jahr 2023”, sagte Lynn Tyrell gegenüber der Financial Times. Autohersteller wie Ford oder Daimler mussten ihre Produktion zeitweise stilllegen, weil Halbleiter fehlten. Bei Holz hat sich aber der Preis in den USA inzwischen etwas beruhigt, wie das Wall Street Journal berichtete. Gleichwohl erwarteten Branchenfirmen anhaltend hohe Preise, die deutlich über dem vor-Corona-Allzeithoch liegen sollen, weil in den kommenden Jahren die Wohnnachfrage hoch bleiben soll.
Die Zeichen stehen also weiter auf Inflation – bei womöglich gar stagnierendem Wachstum auf mittlere Sicht, sollten die Verbraucher Konsum nachgeholt haben.