In der aktuellen Berichtssaison jagt eine Hiobsbotschaft die nächste. Die meisten börsennotierten Unternehmen melden tiefrote Zahlen. Wohl noch nie in der modernen Wirtschaftsgeschichte kontrastierten diese Verlustmeldungen aus der Realwirtschaft derart krass mit gleichzeitig stabilen bis steigenden Kursen an den Börsen. Das Muster der Nachrichten ist meist dasselbe: Tiefrote Zahlen, aber Hoffnungsschimmer. Und das reicht den Anlegern offenbar, um die Kurse allenfalls nur leicht zu korrigieren, aber letztlich doch auf einem Niveau zu halten, das fast schon wieder den Höchstständen kurz vor dem Corona-Crash entspricht.
Jüngste Meldung: Der Bayer-Konzern hat das zweite Quartal 2020 mit einem Verlust von 9,5 Milliarden Euro abgeschlossen. Der Chemie- und Pharmakonzern hatte nicht nur unter den Corona-Maßnahmen zu leiden, sondern auch noch unter gewaltigen Kosten für einen Vergleich in mehreren Schadenersatzverfahren wegen des Unkrautvernichters Glyphosat und anderen Rechtsstreitigkeiten. Aber auch den Ausblick für das laufende operative Pharma- und Agrageschäft hat der Konzern gesenkt. Selbst angesichts solcher Katastrophenmeldungen ist der Finanzmarkt auch gegenüber Bayer noch einigermaßen milde gestimmt. Vor einem Jahr jedenfalls war die Bayer-Aktie noch weniger wert als heute.
Schon vor rund zwei Wochen, am 17. Juli hatte Daimler seine roten Quartalszahlen abgeliefert. Und war dafür nicht bestraft, sondern belohnt worden. Das Automarkt-Morgenrot aus China und die drastischen Sparankündigungen des neuen Vorstandschefs Ola Källenius übertrumpften am Kapitalmarkt offensichtlich die tiefroten Zahlen aus der Gewinn- und Verlustrechnung. „Es hätte schlimmer kommen können“, scheint die bevorzugte Reaktion der Märkte zu sein.
Ein ähnliches Bild nun auch beim Halbleiter-Konzern Infineon. Im abgelaufenen Quartal (bei Infineon ist es „Q3“, da das Geschäftsjahr schon im Herbst beginnt) meldet man einen „Konzernfehlbetrag“ – vulgo: Verlust – von 128 Millionen Euro und das bei sogar gestiegenen Umsatzerlösen. Dennoch verfängt auch hier der forcierte Optimismus der Anleger, der sogar den von Vorstandschef Reinhard Ploss zu toppen scheint. Während Ploss sich „vorsichtig optimistisch“ für das laufende Quartal zeigt, ist die Börse offenbar satt optimistisch und gönnt dem Unternehmen, das gerade rote Zahlen offenbarte, einen ordentlichen Kursgewinn, so dass die Infineon-Aktie wieder etwa dort steht, wo sie vor der Corona-Krise im März schon stand.
Was soll man auch tun mit all dem Geld, das neu geschaffen wird? Oder, wie in einem Börsenbericht der ARD zu lesen war: „Ein sehr wichtiges Argument für Aktien bleibt dennoch einmal mehr das viele Geld, für das bei der Suche nach attraktiven Anlagemöglichkeiten eigentlich nur der Aktienmarkt bleibt.“ Einer solchen Aktienhausse können rote Zahlen aus den Unternehmen und staatlichen Statistiken offensichtlich wenig anhaben. Denn der Preisanstieg der Aktien ist offensichtlich ebensowenig durch die Qualität der Aktien selbst bedingt, wie eine hohe Inflation der Konsumgüterpreise durch die Qualität der Konsumgüter bestimmt ist. Kein Wunder, dass immer wieder Stimmen laut werden, die die lästige Pflicht zur Quartalsberichtserstattung abschaffen wollen.
Die Erklärung für die gegenwärtigen Aktienkurse ist ganz offensichtlich weniger in den realwirtschaftlichen Leistungen der notierten Unternehmen zu finden, sondern in erster Linie im (Zentral-)Bankensystem, das immer ungehemmter Geld aus dem Nichts schafft, das vor allem bei denen landet, die ohnehin schon das meiste haben. Die Anleger, die da mitmachen, und das neue Geld in Vermögenswerte stecken, verhalten sich keineswegs irrational. Sie profitieren einfach von der Inflationierung der Vermögen, die ihren Vorsprung vor den wenig oder gar nicht Vermögenden immer weiter ausbaut. Und wer nicht mitmacht, der wird, ohne es recht zu merken, ärmer.