Tichys Einblick
Der Marktausblick

Wahl ist schon abgehakt, Risikobewusstsein steigt

"Risk-off“, raus aus dem Risiko, nennen Händler das Phänomen, wenn Investoren besonders schwankungsintensive Assets plötzlich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.

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An der Kursentwicklung der Aktien an der Nasdaq war der Effekt soeben zu beobachten: Die Notierungen vieler Werte an der US-Technologiebörse gerieten unter Druck, nachdem Inflationsängste und Sorgen vor steigenden Zinsen hochgekocht waren. Anleger verkauften die risikobehafteten Techs und stürzten sich angesichts steigender Rohölpreise in den Energiesektor. Das Kalkül: Energiekonzerne profitieren hier unmittelbar, ihre Gewinne steigen zeitnah. Bei innovationsgetriebenen Techs hingegen liegen die Erträge oft weit in der Zukunft. Der Gegenwartswert dieser Gewinne aber sinkt bei tendenziell steigenden Zinsen, weil stärker abdiskontiert wird. Ein Risk-off-Verhalten war schon im März zu beobachten, nachdem US-Präsident Joe Biden seine billionenschweren Investitionsprogramme angekündigt hatte und die Inflationserwartungen gestiegen waren. Doch der Favoritenwechsel hielt nicht lange, und auch dieses Mal dürften die Techs zurückkommen. Vielleicht schon im Oktober, der die saisonal schwächeren Monate ablöst. Unser saisonaler Indikator dreht wieder auf Grün. ​

Joe Biden steht innenpolitisch wohl vor den schwersten Hürden seiner noch jungen Amtszeit. Der 46. US-Präsident kämpft derzeit um die Durchsetzung zweier billionenschwerer Investitions- und Sozialpakete. Am Donnerstag kam es zur ersten entscheidenden Abstimmung des US-Kongresses. Beide Kammern beschlossen schließlich am Abend eine Übergangsfinanzierung, um einen teilweisen Stillstand („Shutdown“) der Bundesbehörden zum 1. Oktober abzuwenden, weil die Mitarbeiter in unbezahlten Zwangsurlaub hätten geschickt werden müssen. Das war aber nur die erste Hürde. Es droht ein Zahlungsausfall der Regierung ab dem 18. Oktober, falls der Kongress bis dahin keine Anhebung oder Aussetzung der Schuldenobergrenze verabschiedet. Finanzministerin Janet Yellen warnt eindringlich: „Das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit der USA würde leiden, und unser Land steht als Ergebnis vor einer Finanzkrise und einer Rezession.“

Im Zuge der Verhinderung des Shutdown am späten Donnerstag und als Folge eines Kurssprungs bei den Aktien von Merck & Co konnte sich der Dow Jones Industrial am Freitag von seinen Vortagesverlusten weitgehend erholen. Die Nachricht, dass der Pharmakonzern mit einem Medikament gegen Covid-19 vor dem Durchbruch stehe, rückte nach Tagen der Zinsangst wieder die Hoffnung auf einen Ausweg aus der Pandemie in den Mittelpunkt.

Der Leitindex rückte um 1,4 Prozent auf 34.326 Punkte vor. Er verbuchte damit einen freundlichen Start in den Oktober. Der breiter gefasste S&P 500 stieg um 1,2 Prozent auf 4.357 Zähler. Für die wachstumsträchtigen Tech-Werte, denen die Angst vor einer strafferen Geldpolitik zuletzt besonders stark zugesetzt hatte, fiel die Erholung etwas milder aus. Der von diesen geprägte Auswahlindex Nasdaq 100 legte um 0,7 Prozent auf 14.792 Punkte zu.

Börsianern zufolge gingen einige Anleger nun auf Schnäppchenjagd, um das reduzierte Kursniveau von Aktien zum Einstieg zu nutzen. Übergeordnet bleibe es aber spürbar, dass sie wegen der hohen Inflation und der Gefahr einer baldigen Straffung der Geldpolitik besorgt seien. Das Ergebnis sei eine in diesen Tagen erhöhte Nervosität und damit auch höhere Volatilität der Kurse.

Als Anstoß der Erholungsrally galten Studiendaten zu einem neuen Corona-Medikament vom Pharmakonzern Merck & Co, die besagten, dass das neue Mittel die Wahrscheinlichkeit sehr schwerer Verläufe bei Risiko-Patienten halbiere. Der Konzern will sich nun so schnell wie möglich um die Zulassung in den USA bemühen und auch entsprechende Anträge bei Behörden weltweit stellen.

Derartig oral verabreichte Medikamente würden wahrscheinlich eine Schlüsselrolle bei der Entlastung der Krankenhäuser spielen, die aktuell Corona-Patienten behandelten, schrieb Analyst Andrew Baum von der US-Bank Citigroup. Die Aktien von Merck & Co setzten sich mit einem Kurssprung von 8,4 Prozent klar an die Dow-Spitze.

Stark von dem neuen Hoffnungsschimmer in der Pandemie profitierten auch die Papiere aus der Reise- und Freizeitbranche. Die Papiere von American, Southwest, Delta und United Airlines schossen um zwischen 5,5 und 7,9 Prozent nach oben. Die Papiere der Hotelkette Mariott zogen um 5,3 Prozent an. Walt Disney legten um vier Prozent zu. Der Medienkonzern ist auch für seine Freizeitparks bekannt.

Umgekehrt führten die Nachrichten zu Kursverwerfungen bei den Papieren von Impfstoffherstellern. Hier wirkte die Aussicht auf die Markteinführung eines wirksamen Medikaments zeitweise wie ein Schock, die in New York hauptgehandelten Papiere von Biontech sackten in der Spitze um mehr als 15 Prozent ab. Am Ende relativierte sich der Abschlag hier auf 6,7 Prozent. Bei Moderna blieb ein deutlicheres Minus von mehr als elf Prozent übrig, die Titel waren so der größte Verlierer im Nasdaq-100-Index.

Der DAX hatte sich zuvor von seiner schwächeren Seite gezeigt. Der Leitindex schloss 0,7 Prozent im Minus bei 15.156 Punkten.

Die Wahl ist an der Börse zwar abgehakt, gleichwohl ließen die deutschen Anleger am Freitag Vorsicht walten. Zu Beginn fiel der Leitindex unter die psychologisch wichtige Marke von 15.000 Punkten. Im Tagesverlauf dämmte er seine Verluste aber merklich ein. An der 200-Tage-Durchschnittslinie für den längerfristigen Trend griffen dann die ersten Schnäppchenjäger zu und läuteten damit die Wende ein. Dennoch sei noch keine echte Trendumkehr zu erkennen, schrieb Marktbeobachter Andreas Lipkow von Comdirect. „Die Gesamtsituation bleibt fragil.“ Die Anleger seien weiterhin sehr nervös und nutzten die Kursschwäche nur für sehr ausgewählte Käufe. Auch seien viele spekulativ eingestellte Investoren unterwegs, die vor dem Wochenende ihre Positionen schlössen.

Alternativen zu Aktien seien weiterhin rar gesät, sagte Rick Meckler, Partner beim Vermögensverwalter Cherry Lane. „Es gibt immer noch eine gute Unterstützung von Käufern, daher glaube ich nicht, dass der Markt seine Fähigkeit zu Kursrallys nach Rücksetzern eingebüßt hat.

Auf Unternehmensseite standen die Autowerte im Fokus. Daimler gab auf der außerordentlichen Hauptversammlung Details zum IPO seiner LKW-Sparte bekannt. Im Dezember soll Daimler Trucks an die Börse gehen und 2023 erstmals eine Dividende ausschütten. Der Münchener Konkurrent BMW hob gleichzeitig die Jahresprognose an. Die operative Marge – bezogen auf das Ergebnis vor Zinsen und Steuern – im Automobil-Segment soll demnach nun bei 9,5 bis 11,5 Prozent liegen. Zuvor hatte sich BMW nur sieben bis neun Prozent zugetraut. Die Prognose-Anhebung durch den Autobauer komme zwar nicht überraschend, sagte ein Börsianer. Die neuen Ziele lägen aber über den Erwartungen.

Der Fernsehkonzern ProSiebenSat.1 verkauft seinen Online-Sexshop Amorelie an die niederländische EQOM-Gruppe, die zu den führenden Unternehmen der Branche in Europa gehört. EQOM-Chef Eric Idema sagte am Freitag: „Gemeinsam können wir nun weiter wachsen.“ Zum Kaufpreis wurden keine Angaben gemacht.

In der Finanzwelt wird derweil lebhaft darüber diskutiert, wie lange der weltweite Inflationsschub noch anhalten werde. Denn während die meisten Notenbanker darin nur ein temporäres Phänomen sehen, das auf Sonderfaktoren wie die Spätfolgen der Lockdown-Bedingten Unterbrechung der globalen Lieferketten zurückzuführen sei, bleiben Vermögensverwalter vorsichtiger. Das bestätigt eine Umfrage des Fixed-Income-ETF-Anbieters Tabula Investment Management Limited unter 100 institutionellen Investoren und Vermögensverwaltern, die insgesamt rund 100 Milliarden US-Dollar managen. „Professionelle Anleger erkennen zunehmend die Gefahr und nehmen dies zum Anlass, die von ihnen verwalteten Portfolios hinsichtlich hartnäckiger hoher Inflation wetterfest zu machen“, erklärt Tabula-Chef Michael John Lytle. So ergab die Umfrage, dass etwa 95 Prozent der Geldprofis bereits in Strategien engagiert sind, die von steigenden oder zumindest höher als erwarteten Inflationsraten profitieren. Und rund 90 Prozent der Befragten wollen sich darauf vorbereiten, ihre strategische Asset-Allokation hinsichtlich anziehender Inflationsraten auszubauen. Über ein Drittel geht von signifikanten Umschichtungen innerhalb der Portfolios aus. Genutzt werden hierfür inflationsgeschützte Anleihen, aber auch Aktien, Gold und andere Rohstoffe.

Der Superstar in Sachen Aktienperformance auf Länderebene in den vergangenen Jahrzehnten sind nicht etwa die USA,Wirtschafts- und Finanzmacht Nummer 1, sondern das beschauliche Dänemark. Das zeigt eine Auswertung der Sutor Bank. Dafür haben die Hamburger die Länderindizes der 22 größten entwickelten Märkte von 1997 bis 2020 untersucht. Und mit Blick auf diesen Zeitraum weist Dänemark mit einer jährlichen Rendite von zwölf Prozent die beste Wertentwicklung auf. Die USA kommen dagegen mit 8,5 Prozent jährlich nur auf den zweiten Rang, gefolgt von Finnland mit 8,1 Prozent per annum. Mit sechs Prozent pro Jahr landete Deutschland im Mittelfeld der 22 untersuchten Länder. Irland schaffte als Schlusslicht nur eine Durchschnittsrendite von gerade einmal 1,3 Prozent pro Jahr.


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