Im vergangenen Jahr betrug die Preissteigerungsrate in Deutschland rund acht Prozent. Starke Preisanstiege gab es vor allem bei Energie (35 Prozent) und Nahrungsmitteln (13 Prozent). Die Reallöhne (Bruttolöhne nach Abzug der Inflation) sanken um 4,1 Prozent– nach bereits kleineren Rückgängen in den beiden Vorjahren. In diesem Jahr erwarten die Wirtschaftsforscher eine Inflationsrate zwischen sechs und sieben Prozent, die Kaufkraft wird also erneut sinken.
Kein Wunder, dass die Gewerkschaften nun reagieren – schließlich würden ihnen sonst die Mitglieder weglaufen. Nach Jahrzehnten relativer Lohnzurückhaltiung liegen die Forderungen in diesem Jahr nun erstmals wieder im zweistelligen Bereich. Ver.di und der Beamtenbund (DBB) verlangen für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten bei Bund und Kommunen 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens jedoch eine Erhöhung um 500 Euro pro Monat für die untersten Einkommensklassen. Deutlich mehr wird für die etwa 160.000 Beschäftigten bei der Post aufgerufen, nämlich 15 Prozent für die kurze Laufzeit von zwölf Monaten. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) geht für die Verhandlungen mit einer Forderung von zwölf Prozent, mindestens 650 Euro pro Monat ins Rennen. Deutschland droht ein heißes Streikjahr.
Dabei kommt den Gewerkschaften inzwischen auch der demographische Wandel zupass. Der aus der Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge resultierende und sich immer weiter verschärfende Mangel an Arbeitskräften hat aus dem bisherigen Arbeitgebermarkt einen Arbeitnehmermarkt gemacht. Das könnte mittelfristig dazu führen, dass Beschäftigte künftig einen höheren Anteil an der Wertschöpfung für sich durchsetzen können.
Dass am Freitag für einen Warnstreik in einer frühen Phase der Verhandlungen gleich ein Großteil des deutschen Passagierverkehrs lahmgelegt wurde, zum Beginn eines Wochenendes, an dem auch noch die Münchener Sicherheitskonferenz mit ihrer weltweiten Anziehungskraft stattfand, stieß jedoch auf wenig Verständnis. Die Börsen ließen sich davon indes nicht beeindrucken. Sie setzen trotz der grundsätzlichen Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite auf eine Fortsetzung des kooperativen Modells. Der deutsche Leitindex DAX beendete den Handel bei 15.482 Punkten mit einem kleinen Minus von 0,3 Prozent. Für den MDAX der mittelgroßen Unternehmen ging es um 0,6 Prozent auf 28.858 Punkte nach unten. Das Wochenplus verringerte sich mit dem Ergebnis vom Freitag auf 1,1 Prozent.
Mit dem Warnstreik hatte das kaum zu tun. Die Furcht vor hohen Zinsen treibt die Anleger nach jüngst robusten US-Konjunkturdaten wieder stärker um – und deckelt die Kurse. Zuletzt warnte EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel, die Finanzmärkte könnten die Entschlossenheit der EZB im Kampf gegen die hohe Inflation unterschätzen.
Unternehmensseitig standen vor dem Wochenende die Geschäftszahlen von Allianz und Mercedes-Benz im Fokus. Der Versicherer wies für 2022 einen operativen Rekordgewinn aus und übertraf damit die Analystenerwartungen. Dennoch büßten die Aktien als einer der größten Verlierer im Dax 1,9 Prozent ein. Am Vortag hatte Analyst Michael Huttner von der Privatbank Berenberg den Anlegern Hoffnung auf einen weiteren größeren Aktienrückkauf gemacht. Diese erfüllte sich aber nicht. Beim Stuttgarter Autobauer sorgte dagegen die Ankündigung eines milliardenschweren Aktienrückkaufprogramms – neben dem erfreulichen Zahlenwerk für 2022 und dem optimistischen Ausblick auf 2023 – für ein Kursplus von 2,8 Prozent. Damit führten die Titel die Gewinnerliste im Leitindex an. Negative Analystenaussagen belasteten die Deutsche Post und Gea. Die Aktien des Logistikkonzerns büßten 1,3 Prozent ein, nachdem die US-Bank JPMorgan sie abgestuft hatte. Beim Anlagenbauer Gea sieht Barclays-Analyst Lars Brorson die Marge in Gefahr. Gea verloren im MDax 1,8 Prozent. Die Aktien des Halbleiterunternehmens Elmos setzten ihre Rekordrally fort. Dabei stützte eine frische Kaufempfehlung von Hauck Aufhäuser. Zum Handelsende standen sie an der Spitze im Nebenwerteindex SDax 6,9 Prozent höher.
Der nahende Abschied des Gasherstellers Linde von der Frankfurter Börse und damit aus dem Dax verhilft wie erwartet der Commerzbank zur Rückkehr in Deutschlands bekanntesten Aktienindex. Der Indexanbieter Stoxx, eine Tochter der Deutschen Börse, gab die von Experten so erwartete Entscheidung am späten Freitagabend bekannt. Den freiwerdenden Platz im MDAX bekommt wie ebenfalls erwartet der Windkraftanlagenbauer Nordex. Auch der Einzug der italienischen Bank Unicredit für Linde im EuroStoxx 50 kommt für Experten nicht überraschend. Kursbeeinflussend sind solche Indexänderungen, weil Fonds, die sich stark an Indizes orientieren oder diese real nachbilden (wie physisch replizierende ETF), nun Umschichtungen vornehmen müssen.
Am Rentenmarkt stieg die Umlaufrendite von 2,47 Prozent am Vortag auf 2,54 Prozent. Der Euro hatte am Freitag zwischenzeitlich bei 1,0613 US-Dollar den tiefsten Stand seit gut einem Monat erreicht, erholte sich dann aber wieder. Zuletzt notierte die Gemeinschaftswährung bei 1,0674 Dollar.
Später verabschiedete sich New York mit unterschiedlichen Vorzeichen ins lange Wochenende. Bevor am Montag der „Tag der Präsidenten“ gefeiert wird, waren Zinssorgen das bestimmende Thema. Vor allem im Technologiesektor reagierten die Anleger verstimmt. Allerdings konnten die wichtigsten Indizes ihre Verluste merklich reduzieren, der Dow Jones Industrial schaffte es sogar ins Plus. Trotz des finalen Schlussspurts von 0,4 Prozent auf 33.827 Punkte beendete der Dow die Woche 0,1 Prozent tiefer. Der technologielastige Nasdaq 100 konnte es mit Mühe vermeiden, dass seine Bilanz der vergangenen Tage noch negativ wurde. Nach dem Minus von 0,7 Prozent auf 12.358 Zähler liegt das Wochenergebnis bei plus 0,4 Prozent. Der breit gefasste S&P 500 beendete den Freitagshandel 0,3 Prozent niedriger mit 4.079 Zählern. Der Optimismus der Investoren sei angesichts der weiter sehr hohen Erzeugerpreise ins Wanken geraten, sagte Marktanalyst Craig Erlam vom Broker Oanda. Zum Wochenschluss wurde jedoch in den USA bekannt, dass der Preisauftrieb bei importierten Gütern im Januar stärker als von Analysten prognostiziert nachgelassen hatte. Dies wurde von Anlegern zumindest als entlastend gewertet.
Unter den Einzelwerten gehörten im Dow die Aktien von Coca-Cola und Procter & Gamble nach Kaufempfehlungen der US-Bank Citigroup mit 1,5 beziehungsweise 2,1 Prozent zu den Stützen. Recht weit hinten standen im Leitindex die Tech-Vertreter Salesforce und Microsoft mit Einbußen von bis zu 1,8 Prozent. Unter Druck standen außerdem Ölwerte wegen des weiter fallenden Ölpreises, wie Chevron mit minus 2,2 Prozent als Dow-Schlusslicht zeigte. Die Spekulation auf weiter steigende Zinsen wirkte sich auch am Ölmarkt negativ aus. Befürchtet wird eine Konjunkturbremse, die die Rohöl-Nachfrage beeinträchtigen würde.
Der Landmaschinenhersteller Deere wusste mit seinen Zahlen zum ersten Quartal dagegen zu überzeugen: Der Kurs zog nach übertroffenen Erwartungen um 7,5 Prozent an. Angesichts einer starken Nachfrage hob das Unternehmen sein diesjähriges Gewinnziel an – auf ein Niveau, das laut der JPMorgan-Analystin Tami Zakaria die Anleger weiter für die Aktie begeistern sollte.
Die Kurse von US-Staatsanleihen drehten im Verlauf ins Plus, die Rendite der zehnjährigen Staatspapiere fiel auf 3,82 Prozent
Wie ambivalent und schwierig Investitionsentscheidungen sind, zeigt das Beispiel von Glencore. Das Geschäftsjahr des Schweizer Rohstoffkonzerns wurde von der „bösen“ Kohle geprägt. Etwas mehr als die Hälfte des Betriebsgewinns (vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen) erzielte das Unternehmen mit der Förderung und dem Verkauf des klimaschädlichsten Energieträgers: 17,9 Milliarden Dollar – nicht viel weniger, als man im Vorjahr 2021 insgesamt im Konzern verbucht hatte. Der Rohstoffkonzern aus Baar ist einer der weltweit größten Exporteure von Kraftwerkskohle und konnte die Preissteigerungen infolge des Krieges in der Ukraine für sich nutzen. Kohle kostete im vergangenen Jahr lange Zeit so viel wie nie zuvor, als Importe von Energieträgern aus Russland zurückgingen und Kunden rund um den Erdball umsatteln mussten. Insgesamt erwirtschaftete Glencore im Jahr 2022 einen angepassten Betriebsgewinn von 34,1 Milliarden Dollar, ein Plus von 60 Prozent. Dieses Rekordergebnis erlaubte es Glencore nicht nur, die Schulden von sechs Milliarden auf niedrige 75 Millionen Dollar zu reduzieren. Aktionäre sollen auch in den Genuss von Dividenden und Aktienrückkäufen im Volumen von 7,1 Milliarden Dollar kommen. Ob sich das Rekordergebnis der Kohlesparte dieses Jahr wiederholen lässt, ist fraglich. Längerfristig schränken die weltweit geringen Investitionen in die Kohleproduktion das Angebot zwar ein. Im Jahr 2022 führten jedoch ein teilweiser Ausfall der französischen Atomkraftwerke und die neuen Handelsströme wegen des Ukraine-Krieges zu höheren Preisen.
Glencore steckt im Dilemma. Das Unternehmen versucht seit Jahren, zwei Ziele im Gleichgewicht zu halten: Einerseits sollen die Einnahmen aus dem Kohlegeschäft maximiert werden, andererseits gilt es, die Aktionäre mit einem glaubwürdigen Plan zum Abbau der Treibhausgasemissionen bei der Stange zu halten. Kohle ist der fossile Brennstoff, dessen Einsatz von aktivistischen Finanzinstitutionen am stärksten kritisiert wird. Einige institutionelle Investoren wollen bereits nicht mehr in Unternehmen Kapital stecken, die Kohle abbauen. In einer Flucht nach vorne verpflichtete sich Glencore dazu, das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens zu verfolgen, und versprach, bis zum Jahr 2035 alle direkten und indirekten Emissionen des Unternehmens im Vergleich mit dem Niveau von 2019 zu halbieren. Bis zum Jahr 2050 will das Unternehmen das Netto-Null-Ziel erreicht haben. Die Investitionen sollen vor allem in den Abbau von Metallen fließen, die für die Energiewende benötigt werden.