„Die Filmindustrie hat Cannes, die Milliardäre haben Davos, und die Ökonomen haben Jackson Hole“, spottet an diesem Wochenende der Kommentator der „Neuen Zürcher Zeitung“. Damit beschreibt er die Aufmerksamkeit, die das jährliche, spätsommerliche Treffen der wichtigsten Notenbanker der Welt in den Rocky Mountains auf sich zieht. In dem idyllischen Rückzugsort der Reichen und Schönen diskutieren sie dort über die Weltwirtschaft und vor allem über ihr Metier, die Geldpolitik.
Das jeweils aufmerksamstärkste Ereignis ist die Rede des Fed-Vorsitzenden, die in der Regel am Freitagmorgen Ortszeit stattfindet. Da er in diesem Rahmen entscheidende Signale setzen kann, ist dieser Termin mittlerweile der einzige Teil der geschlossenen Konferenz, der öffentlich übertragen wird. Eine große Überraschung blieb in diesem Jahr aus. Gleich zu Beginn zog Jerome Powell, der Chef der amerikanischen Notenbank (Fed), allen Zinsoptimisten den Zahn: „Meine Ausführungen werden zwar etwas länger ausfallen, aber die Botschaft ist dieselbe wie im vergangenen Jahr.“ Und dann erläuterte er seine Befürchtung, dass die massiven Leitzinserhöhungen der vergangenen Monate die Wirtschaft angesichts der jüngsten Arbeitsmarkt- und Wachstumszahlen möglicherweise noch nicht genügend abgebremst hätten, um die Inflation wirklich gebändigt zu haben. Das spreche dafür, die Zinsen vorerst auf dem erreichten Niveau zu halten oder sie bei anziehender Dynamik sogar weiter zu erhöhen, um den Preisauftrieb unter Kontrolle zu bringen: „Ein paar gute Daten sind nicht genug, um den Sieg über die Inflation zu verkünden. Wir wollen weitere Fortschritte sehen, bevor wir davon überzeugt sind, die Situation wirklich unter Kontrolle zu haben.“
Die Fed hatte den Leitzins im Juli nach einer kurzen Pause noch einmal um einen Viertelpunkt auf 5,5 Prozent erhöht, der damit den höchsten Stand seit 22 Jahren erreicht hat. Die nächste Sitzung wird am 19. und 20. September stattfinden. Dann wird das Fed den delikaten Spagat fortsetzen, den überhitzten Arbeitsmarkt mit den bemerkenswerten Lohnsteigerungen abzukühlen sowie die Investitionstätigkeit und den Konsum so weit zu bremsen, dass die Inflation weiter zurückgeht, ohne einen unnötig starken Konjunkturabschwung zu provozieren.
Tatsächlich hatte die amerikanische Inflation zwar nach ihrem 9-Prozent-Hoch im vergangenen Sommer zunächst deutlich nachgegeben, war aber im vergangenen Monat wieder leicht gestiegen. Die Kerninflation dagegen, also die Preise wenig zyklischer Güter und Dienstleistungen, geht nur langsam zurück, und Skeptiker fürchten, nach dem Wegfall der bis jetzt eher günstig ausgefallenen statistischen Basiseffekte brauchten zum Beispiel nur die Energie- und Rohstoffpreise etwas anzuziehen oder die Löhne weiter zu steigen, und die Inflationsdynamik würde neu angeheizt. „Wie so oft orientieren wir uns an den Sternen unter einem wolkenverhangenen Himmel“, formulierte Powell sein Dilemma.
Die Vertreter der sogenannten „Modern Monetary Policy“ würden dagegen gerne schnell wieder auf den Weg des billigen Geldes zurückkehren, um das Wachstum anzukurbeln. Das würde natürlich auch der Wall Street gefallen, aber den Preisauftrieb mit Sicherheit von neuem anheizen. Powells Rede belastete die Wall Street indes nur zeitweise etwas. Die US-Börsen erholten sich weitgehend von ihren Vortagesverlusten. Der Dow Jones Industrial beendete den Handel mit einem Plus von 0,7 Prozent auf 34.347 Punkte, was auf Wochensicht einen Verlust von einem halben Prozent bedeutet. Für den marktbreiten S&P 500 ging es am Freitag ebenfalls um 0,7 Prozent auf 4.406 Zähler hoch. Der Nasdaq 100 gewann 0,9 Prozent auf 14.942 Punkte. Auf Wochensicht legte er damit um 1,7 Prozent zu.
Tags zuvor hatten Anleger vor allem an der Technologiebörse Nasdaq ein Rekordhoch der Nvidia-Aktie nach sehr starken Quartalszahlen des KI-Lieblings und Chip-Konzerns letztlich für Gewinnmitnahmen genutzt. Das Papier hatte dadurch fast unverändert geschlossen und die Chipbranche allgemein war unter Druck geraten, womit eine wichtige Stütze für den Gesamtmarkt wegfiel. Am Freitag sackte Nvidia dann um 2,4 Prozent ab. Nach einer Verdreifachung des Kurses im Jahresverlauf sind die Anleger nun vorsichtiger geworden. Ansonsten zogen Boeing an der Dow-Spitze um 2,8 Prozent an. Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg unter Verweis auf Insider berichtet, bereitet der Flugzeugbauer nach vier Jahren die Wiederaufnahme von Boeing-737-Max-Lieferungen nach China vor.
Ein Bloomberg-Bericht, die private Beteiligungsgesellschaft Veritas Capital sei interessiert, das gesamte Unternehmen zu erwerben, sorgte für einen Kurssprung bei Blackberry um 18,1 Prozent. Die Gespräche sind aber offensichtlich noch in einem frühen Stadium. Dagegen brach die Rite-Aid-Aktie um 51 Prozent ein. Laut „Wall Street Journal“ will die Apothekenkette Gläubigerschutz nach Chapter 11 beantragen. Hintergrund seien Klagen im Zusammenhang mit dem angeblichen Verkauf von Opioiden. Eine Einigung mit den Klägern sei bisher nicht erreicht worden, hieß es.
Der Euro wurde zum Börsenschluss an der Wall Street mit 1,0798 Dollar gehandelt. Im frühen Europa-Geschäfte hatte er nach schwachen Konjunkturdaten bei 1,0766 Dollar den tiefsten Stand seit Mitte Juni erreicht. Am US-Rentenmarkt fiel der Terminkontrakt für zehnjährige Staatsanleihen. Die Rendite stieg auf 4,24 Prozent.
Zuvor hatte der Dax kaum verändert geschlossen. Zu Handelsschluss legte der Dax um 0,07 Prozent auf 15.632 Punkte zu. Auf Wochensicht verbuchte er damit ein Plus von 0,4 Prozent. Zuvor hatte der Index dreimal in Folge ein Minus verzeichnet. Der MDax mit den mittelgroßen deutschen Aktien gab dagegen am Freitag um 0,4 Prozent auf 26.999 Zähler nach.
Im Dax wechselten die Spitzenreiter, letztlich war Eon mit einem Anstieg um knapp ein Prozent die beste Aktie im Leitindex. Versorger gelten unter Anlegern generell als gute Anlagemöglichkeit in Zeiten hoher Zinsen. Auch andere defensive Branchenwerte wie der Konsumgüterkonzern Beiersdorf und die Deutsche Telekom zählten mit bis zu 0,9 Prozent zu den Gewinnern.
Unter den Nebenwerten verteuerten sich die Aktien von Süss Microtec um 3,1 Prozent. Analyst Jonah Emerson von Hauck Aufhäuser Investment Banking hatte seine Kaufempfehlung für die Papiere des Halbleiterindustrie-Ausrüsters nach starken Quartalszahlen des US-Riesen Nvidia bekräftigt. Die Nvidia-Resultate, die getrieben seien vom Boom mit Künstlicher Intelligenz (KI), rückten auch Süss in ein positives Licht, so Emerson.
Am Rentenmarkt stieg die Umlaufrendite von 2,50 Prozent am Vortag auf 2,56 Prozent.
Von Zinssorgen geplagte Anleger dürften auch in der neuen Woche die weitere Entwicklung des Dax bestimmen. Schlechte Wirtschaftsnachrichten sind derzeit fast schon Balsam, weil diese den Druck auf die Notenbanken erhöhen, den geldpolitischen Straffungskurs zu beenden. Die ING Bank interpretierte Powell so, dass die Fed bei weiteren Zinserhöhungen vorsichtig sein werde.
Der deutsche Ifo-Index signalisierte am Freitag mit dem vierten Rückgang in Folge, dass die Stimmung in der deutschen Wirtschaft gedämpft bleibt. Die sich fortsetzende Schwäche der chinesischen Wirtschaft, die anhaltende Straffung der Geldpolitik in Europa und den USA sowie die politische Unsicherheit hinsichtlich der Energiewende und der Energiepreise belasteten derzeit in den Unternehmen die Stimmung, folgerte am Freitag Analyst Carsten Brzeski. Es scheine, als ob der Optimismus vom Beginn des Jahres dem Realitätssinn gewichen sei.
Für die Europäische Zentralbank (EZB) wird die Gratwanderung damit nicht einfacher, darf sie doch bei ihrem Kampf gegen die Inflation die wirtschaftlichen Gefahren nicht unterschätzen. Kritisch hinterfragt werden dürften daher in den kommenden Tagen einige Wirtschaftsdaten. Auf die aktuellen Zahlen zu den deutschen Verbraucherpreisen am Mittwoch folgen Zahlen vom US-Arbeitsmarkt mit dem offiziellen Beschäftigungsbericht am Freitag. Dann wird das Programm abgerundet vom Einkaufsmanagerindex für die US-Industrie, der vom Institut ISM vorgelegt wird.
Vor den nächsten Zinsentscheidungen, die in der Eurozone und den USA am 14. beziehungsweise 20. September erwartet werden, droht die Unsicherheit aber anzuhalten.