Erstaunlich, wie schnell sich die größten Hürden für die Aktienmärkte in Luft aufgelöst zu haben scheinen. In Großbritannien haben die Parlamentswahlen vom 12. Dezember für Klarheit gesorgt: Am Freitag stimmte das Unterhaus mit überwältigender Mehrheit dem von Boris Johnson mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag zu. Damit herrscht nun endlich Klarheit. Die USA und China haben ein Teilabkommen im Handelsstreit erzielt, es soll Anfang Januar unterzeichnet werden. Die Chinesen überraschten mit unerwartet starken Industriedaten, die Wirtschaft läuft besser als gedacht. An der Wall Street gab es neue Rekordstände. Und selbst die europäischen Aktienmärkte lassen aufhorchen: Der breite Index Stoxx Europe 600 markierte ein neues Allzeithoch. Alles glitzert vor Weihnachten? Nicht ganz. 2020 erscheinen die politischen Gespenster wieder. Trumps Störfeuer dürfte anhalten, wenngleich mit geringerer Intensität, die Europäer könnten dabei ins Visier geraten. Vor der US-Wahl wird er seine Macht demonstrieren wollen. Briten-Premier Boris Johnson plant, das Ende der Vertragsgespräche mit der EU per Gesetz auf Silvester 2020 festzunageln. Auch das Szenario eines harten Brexits ist damit nicht vom Tisch, Johnson braucht es als Drohkulisse. Anleger sollten die Feiertage gleichwohl genießen. Sie haben es sich nach einem turbulenten, aber letztlich tollen Börsenjahr verdient.
Nicht nur die Kurse, sondern auch die Stimmung der Fondsmanager kletterte im vergangenen Monat kräftig nach oben. Das zeigt die aktuelle Fondsmanagerumfrage der Bank of America Merrill Lynch. Demnach setzen die Geldprofis derzeit aus Renditegründen so stark auf Aktien wie seit einem Jahr nicht mehr. Zudem ist die Zahl derer, die die Wachstumsaussichten der Weltwirtschaft für das kommende Jahr positiv bewerten, innerhalb eines Monats so stark gestiegen wie noch nie zuvor.
Kein Wunder, dass die Anleger vor diesem Hintergrund auch am letzten Handelstag der Woche in den USA zu Aktien griffen. Die großen Börsenindizes erklommen am Freitag erneut historische Höchststände. „Anleger jagen jetzt dem Markt hinterher“, sagte Analyst Kenneth Worthington von der Bank JPMorgan. Der Dow Jones Index stieg um 0,3 Prozent auf 28.455 Punkte. Auf Wochensicht brachte er es auf einen Gewinn von gut einem Prozent. Seit Jahresbeginn steht für den Dow damit ein beachtliches Plus von 22 Prozent zu Buche.
Neue historische Höchstmarken meldeten auch der marktbreite S&P 500 und der technologielastige NASDAQ 100. Der S&P 500 rückte um 0,5 Prozent auf 3.221 Zähler vor und der Nasdaq 100 um 0,4 Prozent auf 8.678 Punkte. Beide Börsenbarometer sind nunmehr sieben Handelstage in Folge auf neue Rekordmarken geklettert.
Von der guten Stimmung konnten allein Nike-Aktien am Freitag nicht profitieren. Trotz ordentlicher Quartalszahlen verloren die Aktien 1,2 Prozent. Zuvor waren die Papiere allerdings von einem Rekordhoch zum nächsten geeilt, so dass Anleger nun Kursgewinne mitnahmen.
Zu den Gewinnern im Dow gehörten Aktien von Merck & Co mit plus 1,8 Prozent. Sie stiegen auf den höchsten Stand seit fast 20 Jahren. Der gemeinsam mit dem Biopharma-Unternehmen NewLink Genetics entwickelte Impfstoff Ervebo erhielt von der US-Gesundheitsbehörde FDA grünes Licht für den Einsatz gegen das Ebolavirus. Aktien von NewLink Genetics schossen in der Spitze gar um fast 50 Prozent nach oben – und lagen am Schluss noch mit gut 16 Prozent im Plus.
Bei Boeing reißen die schlechten Nachrichten rund um den Unglücksflieger 737 Max nicht ab. United Airlines will die Maschine bis Juni kommenden Jahres nicht einsetzen. Konkurrenten wie American Airlines und Southwest haben den Flugzeugtyp vorerst bis April suspendiert. Boeing-Aktien verloren als Dow-Schlusslicht 1,7 Prozent. Noch steiler nach unten ging es für den Stahlproduzenten US Steel. Dessen Aktie stürzte nach einer Gewinnwarnung, der Ankündigung von Werksschließungen und einer gekürzten Dividende um fast elf Prozent ab.
Auch der Dax ließ sich von der guten Stimmung mitreißen und schloss wieder über der Marke von 13.300 Punkten und sicherte sich so einen kleinen Wochengewinn. Mit einem Aufschlag von 0,8 Prozent auf 13.319 Punkte ging er am Freitag aus dem Handel. Bis zum Rekordhoch von 13.596 Punkten ist es nun nicht mehr weit. Für den MDAX ging es am Freitag nach einem Rekordhoch im Tagesverlauf letztlich um 0,4 Prozent auf 28.441 Zähler nach oben.
Unter den Einzelwerten war im Dax die Aktie der Deutschen Börse ohne Nachrichten der Favorit mit plus 2,7 Prozent, während das Papier des Zementherstellers HeidelbergCement als Schlusslicht 1,4 Prozent einbüßte. Adidas, die zunächst noch von starken Quartalszahlen des US-Konkurrenten Nike belastet worden waren, konnten die Verluste im Handelsverlauf abschütteln. Die Papiere des Sportartikelherstellers verteuerten sich um 1,1 Prozent. Konkurrent Puma schlug sich mit 3,2 Prozent Plus noch besser. Im SDax gewannen die Ceconomy-Aktien (Mediamarkt, Saturn) nach einer Kaufempfehlung der Baader Bank und einer positiven Studie von JPMorgan 5,3 Prozent.
Es sind goldene Zeiten für die Aktionäre von Palladiumproduzenten wie Norilsk Nickel, AngloAmerican Platinum und North American Palladium,deren Kurse in diesem Jahr um bis zu 160 Prozent zugelegt haben. Grund für die glänzende Rally ist, dass der Preis des silberweißen Edelmetalls allein seit Juni um 40 Prozent auf ein neues Allzeithoch von über 2000 US-Dollar die Unze gestiegen ist. Den letzten Kursschub gab es durch Engpässe in der Energieversorgung von Südafrika, einem der wichtigsten Palladiumproduzenten weltweit. Gleichzeitig steigt die Nachfrage aus der Autoindustrie, da die verschärften Abgasnormen den stärkeren Einsatz des Metalls fordern. Auch wenn Experten kein schnelles Ende des Booms sehen, wird der Anstieg als übertrieben angesehen.
Eine Langfriststudie zu Analystenzitaten in internationalen Wirtschaftsmedien durch Media Tenor International in Zürich zeigt, dass sich die Prioritäten am Finanzmarkt gerade massiv verändern. Dazu wurden alle Aussagen der Finanzexperten in zwei Gruppen gegliedert: solche, die Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen (ESG) im weitesten Sinne betreffen, und andere Aussagen, die primär Finanzzahlen, Strategie und ähnliche Themen umfassen. Den ESG-Aussagen wurden auch Aspekte wie Produktqualität und Sicherheit zugeordnet, weil sie das Kundenvertrauen stark beeinflussen. „Am stärksten fokussieren die Finanzanalysten auf ESG-Aspekte im Automobilsektor, im abgelaufenen Jahr betrifft das fast 35 Prozent aller Aussagen“, erklärt Matthias Vollbracht, Leiter Research bei Media Tenor. Im Jahr 2012 lag der Anteil noch bei nur 20 Prozent. Und die Analysten sehen den Autosektor hier noch lange nicht im grünen Bereich: Im Jahr 2012 bewerteten die Analysten den Autosektor zu ESG-Themen noch ausgewogen (plus 1,2), im Jahr 2019 mit minus 36. Bei einer Reihe von Branchen sehen die Analysten mehr Risiken als Chancen, wenn nicht nachhaltig gegengesteuert wird. Dazu zählt die Chemie (minus 45 negative zu positiven Wertungen), unter anderem auch wegen der Plastik- und Pflanzenschutzdebatte, der Rohstoffsektor (minus 52), etwa wegen Umweltproblemen und Zuliefererkette, oder auch die Versorger (minus 22), sofern sie nicht erfolgreich gegensteuern. „Bei den Nachhaltigkeitschancen sind die Finanz-experten noch vorsichtig im Urteil“, erklärt Vollbracht. Hier ragt der Bausektor deutlich hervor (plus 61), bei Handel, Gesundheit, Telekomsektor und Versicherungen ist der Saldo der Wertungen nur leicht positiv. Insgesamt wurden 280.837 Aussagen ausgewertet.