Derart turbulent war die Börse zuletzt vor einem Dutzend Jahren. Mitten in der Finanzkrise, als die US-Investmentbank Lehman Brothers in die Pleite geschlittert war und der US-Versicherer AIG ins finanzielle Nichts zu stürzen drohte, verloren die Kurse ähnlich stark. Damals halfen Regierungen und Zentralbanken; die einen gaben Staatsgarantien oder Notkredite, die anderen senkten die Zinsen und gaben den Banken Liquiditätshilfen. Heute versuchen sich Anleger angesichts des medialen Hypes über die weitere Ausbreitung des Coronavirus und die sich daraus ergebenden übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen von Politik und Unternehmen zu orientieren. Erste Hilfe ist durch die kräftige Leitzinssenkung (um 0,5 Prozentpunkte) der Fed erfolgt, Regierungen stellen fiskalpolitische Maßnahmen in Aussicht.
Für den Dow Jones Industrial ging gleichwohl am Freitag ein nervöser Handelstag relativ versöhnlich zu Ende. In der letzten Handelsstunde gelang es dem US-Börsenbarometer, seine Verluste deutlich einzudämmen. Nach zeitweiligen Abgaben von mehr als drei Prozent schloss der Dow mit einem Minus von 0,98 Prozent auf 25.865 Punkte. Im Wochenverlauf bedeutet das sogar ein Plus von 1,8 Prozent. Allerdings hatte er in der letzten Handelswoche im Februar auch einen massiven Verlust von etwas mehr als zwölf Prozent eingefahren. Der S&P 500 gab am Freitag um 1,7 Prozent auf 2.972 Punkte nach. Der technologielastige NASDAQ 100 verlor 1,6 Prozent auf 8.530 Zähler. Zugleich setzte sich die Flucht in US-Staatsanleihen fort. Deren Renditen fielen zeitweise auf neue Rekordtiefs.
Mitten in dieser Gemengelage treten nun auch noch die Vorwahlen in den USA in die entscheidende Phase. Dass bei den Demokraten Joe Biden jetzt vor dem Sozialisten Bernie Sanders liegt, schob den US-Index S & P 500 ein gutes Stück nach oben. Am DAX ging dieser Impuls weitgehend vorbei. Den Frankfurter Leitindex belasteten überdies die starke Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von chinesischen Vorprodukten sowie deren intensive Verflechtung mit Chinas Absatzmärkten. Keine Frage: Den DAX trifft diese Krise besonders hart. Seit Beginn der harten Corona-Korrektur an den Weltbörsen, die man auf den 21. Februar datieren könnte, hat der DAX stärker verloren als der S & P 500. Diese relative Schwäche wird wohl weiter belasten.
Die Anleger am deutschen Aktienmarkt warfen jedenfalls vor dem Wochenende erst einmal das Handtuch. Der Dax fiel zeitweise auf den niedrigsten Stand seit August vergangenen Jahres und büßte zum Handelsschluss 3,4 Prozent auf 11.542 Punkte ein. Auf Wochensicht bedeutet dies einen Verlust von 2,9 Prozent.
Konjunkturdaten spielten am Freitag kaum eine Rolle: Selbst ein starker US-Arbeitsmarktbericht für Februar vermochte die Anleger nicht aus der Deckung zu locken. In nur zwei Wochen verlor der deutsche Leitindex mehr als 2.000 Punkte. Vom Rekordhoch Mitte Februar bei 13.795 Punkten hat der Index mittlerweile mehr als 16 Prozent eingebüßt. Der Fall unter eine Unterstützung bei etwa 11.800 Punkten habe dem Leitindex „die nächste Breitseite verpasst“, schrieben die Analysten der Bank HSBC. Der MDAX der mittelgroßen Börsentitel sank zum Wochenschluss um 3,6 Prozent auf 24.751 Punkte. An den europäischen Handelsplätzen sah es ähnlich düster aus. Aus Furcht vor zunehmenden wirtschaftlichen Risiken durch das sich ausbreitende Virus entschieden sich Anleger gegen Aktien und für als sicher geltende Anlagemöglichkeiten: Kurse von Bundesanleihen und der Goldpreis stiegen am Freitag.
Zum Jahresende hatten sich die Finanzexperten in den Leitmedien mühsam einen Reim darauf gemacht, wie Welthandel, Klimaschutz und die Unwägbarkeiten der Digitalisierung sich in Zahlen für das neue Jahr niederschlagen würden. Die Sentimentanalyse von Analystenzitaten in internationalen Wirtschaftsleitmedien durch Media Tenor zeigte im Dezember wieder mehr Zuversicht für das neue Jahr, passend zur wachsenden Zuversicht an der Börse. „Das neue Koordinatensystem fragte nach CO2-Reduktion und Adaption digitaler Geschäftsmodelle“, so Matthias Vollbracht, Leiter Research beim Züricher Medienanalyseinstitut. Die Nachrichten vom Coronavirus und seinen Auswirkungen haben dieses mittel- und langfristige Koordinatensystem zunächst einmal überrollt, ein scharfes Agenda-Cutting. Die Reaktionen an der Börse deuten darauf hin, dass die Experten sich zunächst mit der Einstufung der Auswirkungen des Virus schwer getan haben. In den Analystenstimmungen schlägt sich das im Vergleich von Januar zu Februar wie folgt nieder: Das Sentiment für China von minus drei auf minus 43, für die Eurozone von plus zwei auf minus neun, für Deutschland von plus drei auf minus sieben, für Japan von null auf minus 42, für die USA von plus 13 auf minus sieben. „Für die USA scheint vor allem die Abhängigkeit des Technologiesektors von der Produktion in China den Finanzexperten Sorgen zu machen“, so Vollbracht. Insgesamt wurden über 7.000 Aussagen für die Zeit von Dezember bis Februar untersucht.
Und selbst James Bond kann derzeit scheinbar nichts gegen das Coronavirus ausrichten. Eigentlich sollte der neue Bond-Streifen „Keine Zeit zu sterben“ in Kürze Premiere feiern. Nun wird der Filmstart auf November verschoben. Ein herber Schlag für die ohnehin unter der Pandemie leidende Kinobranche. So sind etwa die Aktien des Kinobetreibers Cineworld seit Anfang des Jahres um 40 Prozent eingebrochen.