Tichys Einblick
Der Marktausblick

Analysten warnen vor Börseneuphorie

Nur auf den ersten Blick stimmt die Nachricht froh: Die US-Inflation geht deutlich zurück. Im März lag der Anstieg der Konsumentenpreise gegenüber dem Vorjahresmonat um einen ganzen Prozentpunkt tiefer – bei fünf statt sechs Prozent, wie das Bureau of Labor Statistics bekanntgab. Doch bei der für die Geldpolitik viel entscheidenderen Kerninflation, welche die Kosten für Energie und Nahrungsmittel herausrechnet, sieht es umgekehrt aus: Diese stieg um 0,1 Prozentpunkte.

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Der für für die Société Générale tätige Analyst Albert Edwards sieht dafür die Verantwortung weniger bei der Politik der Notenbanken, sondern eher bei den Unternehmen. Er unterstellt den Managern nichts geringeres als „Preistreiberei“. Seinen Erhebungen zufolge steigen die Absatzpreise momentan nämlich schneller als die Herstellkosten. Mit anderen Worten: Eigentlich sind die Preiserhöhungen nicht länger gerechtfertigt. Und weil die blanke Gier um sich greife, spricht Edwards sogar von „Gier-flation“. Paul Donovan, Chefökonom im Global Wealth Management der UBS schlägt in die gleiche Kerbe: Er sieht eine Gewinnmargen-Inflation, bei der die Preisanstiege nicht primär auf das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage zurückzuführen sind, sondern werden durch „geschickte Inszenierung“ (so Donovan gegenüber der „Neuen Zürcher Zeitung“) durchgesetzt werden. Diese benutzten externe Ereignisse wie die Corona-Pandemie, Lieferkettenprobleme oder Knappheiten bei Rohmaterialien, um höhere Preise zu rechtfertigen.

In der Tat nährt der Verlauf der Inflation diese Theorie. Bei der ersten Welle stiegen aufgrund von Lieferkettenengpässen die Preise von Gebrauchsgütern wie Lampen, Möbeln oder Fahrzeugen. Die zweite Teuerungswelle wurde durch steigende Energiepreise ausgelöst. „Derzeit befinden wir uns in einer dritten Phase der Inflation, die mehrheitlich durch anhaltend hohe Gewinnmargen von Unternehmen hervorgerufen wird“, so Donovan. Die Universität Massachusetts Amherst lieferte in einer Studie die Belege: Unternehmen, die von steigenden Inputkosten betroffen seien, würden naturgemäß die Preise an ihre Kunden weitergeben. Nun würden sie sie aber auf hohem Niveau halten, obwohl die Kosten vieler Vorprodukte wieder gesunken seien. Die Notenbanken haben die Problematik erkannt. Andrew Bailey, der Governor der Bank of England, forderte bereits Ende März die Unternehmen auf, ihre Preise zu senken, und drohte im Nachgang mit einer weiteren Zinserhöhung. Für Paul Donovan ist klar, dass die Konsumenten bald nicht mehr bereit sein dürften, unbegründete Preissteigerungen einfach hinzunehmen. In Phasen der Gewinnmargen-Inflation dauere es in der Regel etwa zwölf Monate, bis Unternehmen die Preise wieder senken müssten. Er geht davon aus, dass die derzeitige Phase noch etwa sechs Monate dauere.

Vor diesem Hintergrund warnt JPMorgan-Stratege Marko Kolanovic, dass die Risikofreude hinter der jüngsten Aktienrally bald zum Erliegen kommen werde. Gegenwind durch Bankenturbulenzen, einen Ölschock und ein sich verlangsamendes Wachstum könnten die Kurse wieder in Richtung ihrer Tiefs von 2022 schicken. „Die US-Notenbank hat keine Absicht bekundet, die Zinssätze in diesem Jahr zu senken, und dennoch erleben Risikoaktiva eine beispiellose Rally, wobei europäische Aktien in der Nähe von Allzeithochs gehandelt werden und US-Aktien die jüngsten Verluste wieder wettmachten”, schrieb Kolanovic am vergangenen Montag in einer Mitteilung an seine Kunden. Und fügte düster hinzu: „Wir gehen davon aus, dass sich die Risikostimmung umkehrt und der Markt in den kommenden Monaten den Tiefststand des vergangenen Jahres erneut testet.“

Noch wird Kolanovic aber noch nicht gehört, und der US-Finanzsektor verzeichnete nach starken Geschäftszahlen deutliche Kursgewinne. Den Gesamtmart konnten sie allerdings nicht vor leichten Verlusten bewahren. Der Dow Jones Industrial verlor 0,4 Prozent auf 33.886 Punkte. Damit steht für den Leitindex auf Wochensicht aber noch ein Plus von 1,2 Prozent zu Buche. Der tags zuvor besonders starke technologielastige Nasdaq 100 gab am Freitag um 0,2 Prozent auf 13.080 Zähler nach. Der breit gefasste S&P 500 sank um 0,2 Prozent auf 4.138 Punkte. Im Späthandel dämmten die Indizes die Verluste etwas ein.

Die Geschäftsberichte aus der Finanzbranche kamen unterdessen gut an. JPMorgan gewannen 7,6 Prozent und Citigroup 4,8 Prozent. Wells Fargo schlossen nahezu unverändert. JPMorgan hatte das Gewinnziel für das laufende Jahr nach oben geschraubt, die Citigroup hatte im Handel mit fest verzinsten Wertpapieren deutlich besser abgeschnitten als am Markt erwartet, und Wells Fargo musste im ersten Quartal weniger abschreiben als befürchtet.

Anleger hatten nach den jüngsten Turbulenzen im Bankensektor mit Spannung auf die Bekanntgabe der ersten Geschäftsberichte von US-Großbanken gewartet. Die zentrale Frage war, ob und in welchem Ausmaß die jüngsten Schieflagen von US-Regionalbanken wie der Silicon Valley Bank auch in den Bilanzen der großen Investmenthäuser ihre Spuren hinterlassen haben. Hier zeichnet sich nun eine Entspannung ab.

Der Euro geriet am Freitag im Verlauf merklich unter Druck. Die Gemeinschaftswährung fiel bis auf 1,0972 US-Dollar, nachdem sie im europäischen Vormittagsgeschäft noch bis auf 1,1076 US-Dollar und somit auf den höchsten Stand seit Anfang April 2022 gestiegen war. Nach dem US-Börsenschluss wurde sie mit 1,0997 Dollar gehandelt. US-Anleihen verbuchten Kursverluste. Die Rendite von zehnjährigen Staatsanleihen stieg auf 3,51 Prozent.

Dank der noch zu deutschen Börsenzeiten veröffentlichten US-Bankenzahlen war der Dax zuvor noch auf 15.841 Punkten und damit auf seinen höchsten Stand seit Januar 2022 geklettert. Die Euphorie ließ aber bald wieder nach – zum Handelsende behauptete der deutsche Leitindex noch ein Plus von 0,5 Prozent auf 15.808 Punkte. Auf Wochensicht legte er damit um 1,3 Prozent zu; zur Rekordmarke von 16.290 Punkten aus dem November 2021 fehlen ihm damit nur noch rund drei Prozent. Der MDax der mittelgroßen Börsenwerte rettete am Freitag mit 27.788 Punkten einen Kursanstieg von 0,8 Prozent ins Ziel.

Die Aktien der Deutschen Bank und der Commerzbank belegten nach den Quartalszahlen der US-Konkurrenten mit Kursgewinnen von 4,6 beziehungsweise 5,7 die vorderen Dax-Plätze. Auch Immobilientitel waren vor dem Wochenende wieder gefragt. Mit plus 3,1 Prozent war im Dax Vonovia weit vorne, und auch im MDax sowie im Nebenwerte-Index SDax zählte die Branche zu den Lieblingen der Anleger. Allerdings gehört sie nach dem enttäuschenden Vorjahr auch 2023 bislang zu den am schlechtesten gelaufenen.

Covestro stieg dank starker Eckdaten für das erste Quartal um 2,5 Prozent. In einem schwierigen Branchenumfeld musste der Kunststoffhersteller zwar deutliche Geschäftseinbußen hinnehmen, doch brach das operative Ergebnis weit weniger stark ein als befürchtet. Hensoldt erreichten im MDax bei 36,70 Euro ein Rekordhoch. Die Aussicht auf die Beteiligung an Rüstungsprojekten im Zuge steigender Verteidigungsausgaben treiben Aktien wie Hensoldt und Rheinmetall schon länger an. An der SDax-Spitze stach Nagarro mit einem Kursgewinn von 7,8 Prozent heraus. Der IT-Dienstleister Nagarro schloss das vergangene Jahr mit einem Gewinnsprung ab und will eigene Aktien zurückkaufen.

Am Rentenmarkt verharrte die Umlaufrendite bei 2,41 Prozent.

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