Tichys Einblick
Reportage

Flüchtlinge aus der Ukraine: Integrierbar in den Arbeitsmarkt

Die Chancen für geflüchtete Ukrainerinnen, sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren, sind aus mehreren Gründen gut. Doch in persönlichen Gesprächen äußern die meisten den Wunsch, möglichst bald zurückzukehren. Von Julian Marius Plutz

Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine am Flughafen Tegel in Berlin, März 2020

IMAGO / Jens Schicke

Ein ungewöhnlich kalter Mai-Tag in Nürnberg. Die Flüchtlinge aus der Ukraine stehen in einer langen Schlange vor dem Amt für Migration und Integration. Ein Sicherheitsmitarbeiter lässt die Menschen, vornehmlich Frauen und Kinder, nur dosiert ins Gebäude und mahnt, sie sollen sich doch bitte hinten anstellen. 

Ein Mädchen mit Teddy in der Hand. Die Mutter, Veronica spricht ein wenig Deutsch: „Wir kommen aus Odessa und sind mit dem Bus nach Deutschland gefahren“, erzählt sie mir. Sie, das heißt ihre beiden Töchter Anna und Daryna. Sie sind sieben und neun Jahre alt. 

Einige Ähnlichkeiten zum Deutschen Schulsystem

„Ich arbeitete in einem Spital als Krankenschwester“, erzählt Veronica. Dies ist, wie in vielen Ländern auch in der Ukraine ein Studiengang von wenigstens drei Jahren. Ob sie sich vorstellen könnte, in Deutschland in ihrem Beruf zu arbeiten? „Ja, natürlich. Aber ich möchte wieder in die Heimat, so bald der Krieg vorbei ist“. Eine kurze Umfrage unter den rund 30 anstehenden Flüchtlingen bestätigt den allgemeinen Eindruck. Im Gegensatz zu 2015, als die meisten Migranten gekommen sind, um zu bleiben, zieht es die Ukrainer, so wie ihr Land befriedet ist, wieder zurück. 

Viele wie Veronica gehen nach der Sekundarstufe III, vergleichbar mit der Oberstufe in Deutschland einer Berufsausbildung nach. Überhaupt scheint das System in der Ukraine sehr an Leistung orientiert zu sein. So gibt es Berufsschulen, Kunsthochschulen, eigene Schulen für soziale Rehabilitation, Fachhochschulen und Universitäten. Ähnlich wie in Deutschland gibt es dort drei Sekundarstufen. Neben der Grundschule bis zur vierten Klasse folgt eine erweiterte schulische Grundausbildung bis zur 9. Klasse. Die Sekundarstufe III geht dann bis zur 11. Klasse. Mit 17 Jahren kann man bereits eine Hochschule besuchen. 

Lehrerin Anna B. aus Niedersachsen, die als Lehrerin in der Ukraine gearbeitet hat, sieht durchaus Parallelen mit dem deutschen System: „Bis zur neunten Klasse sind beide Schulsysteme de facto gleich“. Erst dann gibt es Abweichungen, wie eine allgemeine Prüfung am Ende der elften Klasse, die ausschließlich den Numerus Clausus für die etwaige Universitätskarriere bestimmt. Neben Englisch ist Deutsch die zweithäufigste Sprache, die in der Ukraine in gelehrt wird.

Ein besonders hilfreiches Schulfach genießen die ukrainischen Schüler in der 10. Klasse: Erste-Hilfe-Unterricht. Hier werden Dinge wie Verbände anlegen, Reanimation und stabile Seitenlage gelehrt, oder wie man sich in Gefahrensituationen verhält. 

Ukraine ist ein Teil der Bologna-Familie

Insgesamt verfügt die Ukraine über 282 Hochschuleinrichtungen, darunter 209 staatliche und 73 private Einrichtungen bei rund 44 Millionen Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es 423 Hochschulen bei rund 83 Millionen Bundesbürger. Seit 2005 ist die Ukraine ein vollwertiger Bologna-Vertragsstaat. Das bedeutet, dass Hochschulabschlüsse prinzipiell anerkannt werden können.

In der Praxis sieht dies so aus: Für die Anerkennung von Hochschulzugangsberechtigungen oder Hochschulabschlüssen gilt die sogenannte Beweislastumkehr. Das heißt, dass die entsprechende Behörde dem Antragsteller nachweisen muss, dass die anzuerkennende Qualifikation nicht den deutschen Standards an Universitäten genügt. Jedoch ist der Antragsteller verpflichtet, ausreichende Informationen zur Verfügung zu stellen, die eine objektive Bewertung ermöglichen.

Ein weiterer Vorteil der „Bologna-Zugehörigkeit“ ist, dass Studienleistungen in allen Vertragsstaaten anerkannt werden. Diese Formulierung umschließt auch Teilleistungen, die keinen eigenen Studiengang darstellen. So kann ein Ukrainer, der einen Bachelor beispeilsweise in Informatik in seiner Heimat erworben hat, unter Umständen den Master auf einer deutschen Universität machen, so lange er die üblichen Zugangsvoraussetzungen, wie zum Beispiel unter Umständen einen Numerus Clausus, erfüllt

Frappierende Unterschiede zu anderen Migrantengruppen

Allgemein kann man sagen, dass es zwei Arten von Zulassungen gibt. Einerseits gibt es reglementierte Berufe, wie Arzt, Psychologe, oder Lehrer. Reglementiert bedeutet, dass der Absolvent für eine Zulassung zusätzlich in Deutschland Prüfungen absolvieren muss. Anna B. beispielsweise tat dies und arbeitet heute, nach dem Bestehen der Klausuren, als vollwertige Lehrerin in Deutschland. Einfacher haben es nicht reglementierte Berufe, wie Informatiker oder Ingenieure. Hier ist die Zulassung in aller Regel Formsache. 

Bei Migranten aus Ländern außerhalb des Bologna-Systems, beispielsweise aus Syrien, gilt die Beweislastumkehr nicht. Hier muss der Antragsteller selbst beweisen, dass die Qualifikation dem deutschen Niveau entspricht, was in einigen Fällen nicht der Fall ist.

Auch der Schuhmacher Boris möchte wieder in die Heimat 

2017 gewannen Olga Schewtschenko und Alina Harbuzowa aus Charkiw und Alina Jan und Juliia Zdanowska aus Kiew die europäische Mathematik-Olympiade – zum dritten mal waren es Ukrainer. Kein Zufall: In osteuropäischen Ländern hat die Mathematik, gerade bei Frauen und Mädchen, Tradition. Die Gründe sind vielschichtig. So gehen Bildungsforscher davon aus, dass die traditionelle Liebe für Zahlen unter anderem daherkommt, dass die Mathematik im Vergleich zu anderen Wissenschaften günstig auszuüben ist. Daher können zwar gebildete, aber dennoch tendenziell ärmere Völker ihre Expertise in diesem Fach erweitern, da die Ressourcen dafür eher bezahlbar sind als in Physik oder Chemie. 

Einer der wenigen Männer in der Schlange vor dem Nürnberger Amt für Migration und Integration ist Boris. Der 40-Jährige durfte ausreisen, da er Vater von vier Kindern ist. In der Ukrainer dürfen Staatsbürger zwischen 18 und 60 Jahren nur dann das Land verlassen, wenn sie wenigstens drei Kinder haben. Mit Händen und vor allem Füßen erklärt Boris, dass er gelernter Schuhmacher ist und gerne in seinem Beruf arbeiten würde. Am Liebsten in seiner Heimat.

Ukrainer mit Mangelberufen könnten bleiben

Mehr als 60 Prozent der Ukrainer gehören einer orthodoxen Gemeinde an. Der Rest teilt sich in Protestanten, Katholiken und andere Glaubensrichtungen auf. Lediglich 0,2 Prozent der 44 Millionen Einwohner gehören dem Islam an. Selbstverständlich sind Muslime nach den Erfahrungen auf dem deutschen Markt nicht per se schlechtere Arbeiter, jedoch stehen gerade im produzierenden Gewerbe Personalchefs immer wieder vor Herausforderungen. Sei es einen Gebetsraum einzurichten, oder dass Frauen nicht mit Männern zusammenarbeiten wollen, oder den Wunsch, über 30 Tage Ramadan-Urlaub zu haben. Viele dieser Forderungen sind mit einer 40-Stunden-Woche kaum vereinbar. 

Egal, welchen Flüchtling aus der Ukraine man fragt: Sie alle wollen wieder zurück in ihre Heimat. Zu groß scheint die Liebe zu ihrem Land sein, so wenig möchten sie die Ukraine Putin überlassen. Dass nach der Befriedung der Ukraine viele von ihnen in Deutschland bleiben werden, scheint fraglich. 

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