Eine Finanzmarktkrise ist, wenn die Leute herausfinden, dass man sie hinters Licht geführt hat, anders ausgedrückt: wenn sich die Mehrheitsverhältnisse zu Gunsten der Skeptiker und zu Ungunsten der Leichtgläubigen drehen. Das ist das, was wir in Wahrheit gerade erleben. Noch hält die Politik mit ihren Institutionen dagegen. Regierungen, Zentralbanken, Bankenaufsicht und auch die Banken selbst werden nicht müde, uns zu erklären, dass die Bankenkrise „schon wieder vorbei“ sei. Das ist bemerkenswert, denn weder haben diese Herrschaften sie kommen sehen noch haben sie überhaupt zugegeben, dass sie da war, als sich ihre Vorbeben vor wenigen Wochen in Kalifornien und der Schweiz bemerkbar gemacht haben.
Für diese Gesundbeterei gilt eine einfache Regel: Sie passiert genau dann und nur dann, wenn sie wirklich nötig ist, also wenn das Feuer auf dem Dach nicht mehr zu übersehen ist. Das Feuer auf dem Dach des Bankensystems hat seine tiefergehenden Wurzeln in einem Schwelbrand der Bilanzqualität und der schwindenden Liquidität des gesamten Systems. Ob es bei einer Silicon Valley Bank, einer Crédit Suisse oder einer First Republic an die Oberfläche drängt, ist dabei eigentlich unerheblich, obwohl wir wissen, von welchen Faktoren es abhängt, welche Banken es zuerst erwischt.
Dieser Mix greift bei First Republic, was in den letzten Tagen zu einer Einlagenflucht von 100 Milliarden US-Dollar aus dem Institut geführt hat. Andere Institute schritten, stellvertretend für die Aufsicht und die Zentralbank, zur „Rettung“ und legten 30 Milliarden Dollar ein, die Summe war wohl schon nach Tagen „verdampft“. Kaum vorstellbar ist es, dass die anderen Institute diese Summe ohne stille Rückversicherung der Regierung zur Verfügung gestellt haben.
Was aber ist der Schwelbrand, der sich wie ein Kabelbrand durch das Netzwerk des globalen Finanzsystems frisst und dann an einzelnen Orten hervorbricht? Hier gibt es drei Komponenten: die Bilanzerosion durch die Zombifizierung der Kreditportfolien über zwei Jahrzehnte hinweg, die massiven Verluste aus dem Kollaps der globalen Anleihenblase durch die Zinserhöhungen der letzten Monate und als verbindendes Element, sozusagen als unterirdischer kokelnder Kabelbaum die Verflechtung der Institute untereinander durch das riesige Volumen des Derivatehandels, dessen Risikoimplikationen sehr viel komplexer sind als das Verständnis der nominalen Positionen der einzelnen Institute und anderen Teilnehmer am System.
Fangen wir an mit der Zombifizierung: Die Zentralbanken haben über jetzt 20 Jahre eine Politik des billigen Geldes betrieben, um damit zwei Dinge zu erreichen: die Alimentierung einer verantwortungslosen Ausgabenpolitik der Staaten und Regierungen und die „Bewältigung“ von Finanzmarktkrisen, die ohne die falsche Geldpolitik der Vergangenheit erst gar nicht entstanden wären. Es ging also vor allem darum, der Verantwortung und der Abrechnung mit den Folgen der eigenen Politik aus dem Weg zu gehen.
Diese Unternehmen können steigende Zinsen nicht überleben und der steile Anstieg der Pleiten seit Beginn der Zinswende zeigt es. Noch ist die resultierende Pleitenwelle nicht in ihrer ganzen Schönheit und Gewalt für alle sichtbar, aber das wird sie werden, wenn die Zinsen hoch bleiben oder sogar noch weiter steigen. Und steigen müssen sie, wenn die Inflation eingedämmt werden soll.
Dazu kommt jetzt die Deflation der Anleihenblase. Die Überbewertung der Anleihen durch künstlich niedrige Zinsen dürfte die bei weitem größte „Spekulationsblase“ in der Geschichte der Menschheit sein. Nur dass es nicht die Marktteilnehmer waren, die diese Spekulation angetrieben haben, sondern die Zentralbank mit der Macht der Druckerpresse und dem Willen zur „Bazooka“ und zum „whatever it takes“. Die etwa 150 Billionen Dollar (das sind 150.000 Milliarden oder 150 Millionen Millionen) Anleihen, die auf dem Planeten bisher zirkulierten, würden im Marktwert um 30 Prozent bis 40 Prozent fallen, wenn sich die Zinsen an den Märkten frei bilden könnten. Das Prinzip ist ganz einfach erklärt.
Man kann dies am Beispiel einer 10-jährigen Anleihe mit einem Zins von 0,5 Prozent und einem Anstieg der Marktzinsen auf 5 Prozent demonstrieren: Die Anleihe über zum Beispiel 1.000,– Euro erwirtschaftet mit 0,5 Prozent eine Verzinsung von 5 Euro pro Jahr. Über die gesamte Laufzeit von 10 Jahren beträgt der kumulierte Zins 50,– Euro. Steigt der Zins für 10-jährige Anleihen am Kapitalmarkt auf 5 Prozent, so erhält der Käufer einer neuen Anleihe über 1.000,– Euro schon 50,- Euro pro Jahr, also insgesamt 500,– Euro. Die Differenz von 450,– Euro macht die alte Anleihe im Handel unattraktiv, es sei denn ihr Preis sinkt weit genug, um den Käufer für den entgangenen Zins zu kompensieren. Der Preisverfall entspricht der Differenz der abgezinsten Barwerte beider Cash-Flows, in diesem Fall etwa 340 Euro. Die Anleihe verliert also 340 Euro oder 34 Prozent an Wert. Man kann leicht erkennen, dass der Effekt umso größer ist, je länger die Restlaufzeit einer Anleihe ist.
Natürlich weiß niemand genau, wo die Verluste entstanden sind, innerhalb wie auch außerhalb des Bankensystems, denn bisher hat niemand den Finger gehoben und freiwillig zugegeben, dass er gerade ein paar zig-Milliarden versenkt hat. Und wo diese Verluste hochkochen, hängt nicht nur davon ab, wo die Anleihen in den Büchern stehen, sondern auch von dem globalen Kabelbaum des Derivatehandels, denn man kann das Zinsänderungsrisiko mit Derivaten versichern, und zwar auch dann, wenn man gar keine Anleihen im Bestand hat. Die nominalen Summen, die dabei bewegt werden, übersteigen jede Vorstellungskraft. Einzelne Banken, wie zum Beispiel die Deutsche, sind Knotenpunkte dieses Derivatehandels, in dem Fall mit einem Nominalvolumen von 42 Billionen Euro.
Das heißt ausdrücklich nicht, dass die Bank ein Zinsänderungsrisiko in den Büchern hat, denn die meisten Derivatebücher sind so strukturiert, dass sich die einzelnen Risiken gegenseitig aufheben, neudeutsch „hedgen“. Zum Problem wird das erst, wenn man für eine Partei A das Zinsänderungsrisiko versichert hat und die Rückversicherung bei Partei B nicht greift, weil Partei B gerade über den Jordan gegangen ist und bankrott gegangen ist. Dann mutiert das Derivatebuch zu einem gigantischen Kreditrisiko. Um dieses Risiko überschaubar zu halten, gibt es allerlei Instrumente, wie zum Beispiel das Netting, bei dem wechselseitige Forderungen im Falle einer Pleite verrechnet werden.
Jedoch ist die Komplexität der Kreditrisikostruktur enorm, denn sie hängt davon ab, wie jede einzelne Handelsposition im Gewinn- oder Verlustbereich steht und bei wem man sie hält. Die Simulationsmodelle, die das beherrschbar machen sollen, sind – vorsichtig formuliert – kompliziert. Dass eine unterbezahlte Bankaufsicht da durchsteigt, können Sie getrost vergessen. Dass die Aufsicht daher in der Lage sein könnte, die Brandrichtung des globalen Kabelbrandes auch nur annähernd zu verstehen, können wir ebenfalls ins Reich der Legende verweisen.
Das also sind die Komponenten und jetzt kommt die Eine-Million-Dollar-Frage: Wozu waren dann die ganzen Stresstests gut und die Etablierung einer Bankaufsicht mit Tausenden von Bürokraten, eine Ausgabe, von der man uns versprochen hat, dass sie eine Wiederholung von 2007 unmöglich machen sollte? Die Antwort ist kurz und knackig: Für die Katz!
Das System ist zu komplex für einfach gestrickte Bürokraten. Es ist auch zu komplex für die Bankmanager, aber aus deren Sicht ist das egal, denn solange es läuft, gibt es Boni in Millionenhöhe, und wenn es schiefgeht, kommt der Staat zur Rettung, also wir alle. Genial eigentlich.