Tichys Einblick
Die unausgesprochene Aufgabe der EZB

Die Europäische Zentralbank kann die Inflation nicht bekämpfen

Die EZB ist längst nicht mehr auf Geldwertstabilität, sondern auf die Stabilisierung klammer Staaten und einer stagnierenden Wirtschaft ausgerichtet. Sie kann die vielen Billionen Euro, die sie schuf, nicht einsammeln, ohne dass Staaten und Unternehmen in die Bredouille geraten.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde beim Eurogruppen-Treffen am 11.07.2022

IMAGO / Xinhua

Wegen ihrer zögerlichen Inflationsbekämpfung ist die Europäische Zentralbank (EZB) immer heftiger werdender Kritik ausgesetzt. „Zu wenig und zu spät“ komme die angekündigte Zinswende der EZB, sagt der Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Dirk Jandura. Der Hauptgeschäftsführer der Familienunternehmer, Albrecht von Hagen, wirft der EZB sogar vor, dass sie eine „völlige Fehleinschätzung der Inflation“ habe und obendrein die Preisstabilität nicht ernst nehme. Als ganz und gar wirkungslos bewertet der Vizepräsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, Stefan Kooths, die bisher zur Inflationsbekämpfung eingeleiteten Maßnahmen der EZB.

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Passiert ist tatsächlich praktisch nichts: Der EZB-Rat hat lediglich den Willen bekundet, auf seiner nächsten Sitzung am 21. Juli eine minimale Zinserhöhung von 0,25 Prozent zu beschließen. Außerdem ist das Anleihekaufprogramm seit diesem Monat beendet, was jedoch lediglich bedeutet, dass die EZB ihren inzwischen viele Billionen Euro umfassenden Bestand an Staats- und Unternehmensanleihen nicht weiter aufstockt. Stattdessen ist die EZB damit befasst, ein neues geldpolitisches Instrument einzuführen. Es soll die „Fragmentierung“ der Eurozone verhindern, indem gezielter diejenigen Staaten und Unternehmen, die existenziell auf den Fluss billigen Geldes angewiesen sind, mit noch mehr Liquidität aus der Druckerpresse der EZB versorgt werden können.

Dass die EZB trotz des Anstiegs der Konsumentenpreise von mehr als 8 Prozent und der Erzeugerpreise von über 30 Prozent – bei zudem weiter steigender Tendenz – faktisch die Liquidität ausweitet und nur Zins-Trippelschrittchen gegen die Geldentwertung wagt, weist auf ein gravierendes Problem hin. Noch weniger als die Notenbanken anderer entwickelter Volkswirtschaften ist die EZB in der Lage, mit den zur Verfügung stehenden geldpolitischen Mitteln eine aktive Inflationsbekämpfung zu betreiben.

Denn die Zentralbanken haben sich seit den 1980er Jahren zunehmend in den Dienst der Staaten gestellt und die Geldpolitik auf die Stabilisierung der Wirtschaft ausgerichtet. So gelang es, die nach dem wirtschaftlichen Einbruch Mitte der 1970er Jahre sich über Jahrzehnte herausbildende wirtschaftliche Depression, die von schwindendem Produktivitätswachstum und stagnierenden Reallöhnen geprägt ist, durch die Versorgung der Finanzmärkte mit immer mehr Liquidität zu übertünchen. Die realwirtschaftlichen Probleme ließen sich zwar nicht lösen, denn ganz im Gegenteil hat das viele billige Geld die Produktivitätsschwäche sogar verschärft. Es hat nämlich dazu beigetragen, vor allem weniger produktiven und wettbewerbsschwachen Unternehmen das Überleben zu sichern.

Die von der Geldpolitik ausgehende Finanzialisierung sorgt jedoch auch für den inzwischen Jahrzehnte andauernden Schneeballeffekt ansteigender Vermögenspreise und Unternehmensbewertungen. Die Unternehmenswerte steigen, obwohl es den Unternehmen immer weniger gelingt, neue und produktivere Technologien einzuführen, die diese Wertsteigerungen rechtfertigen würden.

Besonders ausgeprägt ist der schleichende Rollenwechsel der Zentralbanken im Fall der EZB. Seit der Eurokrise 2012 hat sie mit Hilfe der Staaten sowie der supranationalen EU-Institutionen einen Rahmen geschaffen, durch den sie mit Mitteln der Geldpolitik die Eurozone bis heute vor dem Zerfall bewahrt und gleichzeitig für die Finanzierung der Staatshaushalte der Euroländer sorgt. Zudem ist sie, wie der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) während seiner Amtszeit völlig zu Recht feststellte, zu einer Ersatz-Wirtschaftsregierung der EU mutiert.

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Die Behauptung von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), dass eine „Situation der fiskalischen Dominanz“ nicht eingetreten sei, die EZB ihre Geldpolitik also ausschließlich auf das Ziel der Preisniveaustabilität und die Inflationsbekämpfung ausrichten könne, hat nichts mit der Realität zu tun. Auch die wegen der ausbleibenden Inflationsbekämpfung an der EZB geäußerte Kritik ist reine Augenwischerei. Denn selbst wenn es die EZB für erforderlich hielte, der ansteigenden Inflation mit geldpolitischen Mitteln entgegenzutreten, könnte sie es gar nicht tun. Ihre geldpolitischen Instrumente sind längst nicht mehr auf die Geldwertstabilität ausgerichtet, sondern auf die wirtschaftliche Stabilisierung einer stagnierenden Wirtschaft und der davon in Mitleidenschaft gezogenen Staaten.

Eine veränderte Ausrichtung der Geldpolitik an der Geldwertstabilität würde eine Umkehrung des geldpolitischen Kurses bedeuten und das in den letzten Jahrzehnten mit billigem Geld Erreichte akut in Frage stellen. Wenn Luft aus der Vermögenspreisblase entweicht, droht die Umkehrung der Vermögenspreisentwicklung. Niedrigere Vermögenswerte ziehen Verlustausweise nach sich, und führen – kombiniert mit höheren Schuldzinsen – insbesondere bei Unternehmen und Privatpersonen, deren Vermögen über Kredite finanziert ist, leicht zur Überschuldung. Das Szenario eines derartigen Dominoeffekts schwebt bereits über dem Immobilienmarkt, wo bei Darlehensverlängerungen spürbar höhere Zinsen gezahlt werden müssen.

Im Fall der europäischen Banken ist die Situation schon jetzt akut. Daher hat die EZB bereits reagiert. Auch um die Geschäftsbanken vor Wertverlusten der von ihnen gehaltenen Staatsanleihen zu schützen, hat sie ihr neues Instrument gegen die „Fragmentierung“ des Euroraums ersonnen. Mit dessen Hilfe kann die EZB notfalls alle im Umlauf befindlichen sowie neu ausgegebenen Anleihen von Staaten übernehmen, deren Schuldentragfähigkeit bei weiter steigenden Staatsschulden akut in Frage stünde. So schützt sie die Banken vor Wertverlusten dieser Anleihen. Die Banken müssten Wertminderungen als Verlust ausweisen und diese könnten sie sogar in die Insolvenz zwingen.

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Dazu passt, dass die EZB noch immer davon ausgeht, dass der aktuelle Inflationsschub von vorübergehender Natur ist, sich die Inflation also von selbst zurückbilden werde, sobald die inflationstreibenden Ursachen überwunden sind. Um nicht in Zugzwang zu geraten, dämpfen die Zentralbanken inzwischen die Erwartungen. Auf einer EZB-Veranstaltung im portugiesischen Sintra, stellte EZB-Präsidentin Lagarde die Handlungsmöglichkeiten der Geldpolitik als sehr limitiert dar, indem sie sagte, die Geldpolitik sei „keine reine Wissenschaft“, sondern vielmehr auch „Kunst“. Der Vorsitzende der US-Notenbank, Jerome Powell, pflichtete ihr bei und übte sich ebenfalls in Bescheidenheit: „Wir verstehen jetzt besser, warum wir wenig von Inflation verstehen.“

Die EZB kann also nur hoffen, dass ihre Bewertung korrekt ist, sich der Anstieg der Erzeuger- und Konsumentenpreise verlangsamt und sich innerhalb weniger Jahre wieder im Zielbereich von etwa zwei Prozent pro Jahr bewegt. Sie kann die vielen Billionen Euro, die sie in die Finanzmärkte gepumpt hat, nicht einfach wieder einsammeln. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Fortführung des geldpolitischen Kurses der vergangenen Jahrzehnte sicherzustellen. Denn nur so kann sie vermeiden, dass hochverschuldete Staaten und Unternehmen, die immer abhängiger von billigem Geld wurden, in die Bredouille geraten.

Die Verantwortung für die missliche Lage der EZB, die ihre Fähigkeit verloren hat, einer galoppierenden Inflation die Stirn zu bieten, weil sie für andere Aufgaben in den Beritt genommen wird, liegt bei den Staaten der entwickelten Volkswirtschaften. Sie laden seit Jahrzehnten die Hauptlast der Verwaltung der wirtschaftlichen Depression auf ihre Zentralbanken ab, anstatt die zugrundeliegende Stagnation der Arbeitsproduktivität sowie die Reallohnverluste vieler Erwerbstätiger überhaupt zu thematisieren, geschweige denn diese Probleme mit einer geeigneten Wirtschaftspolitik anzugehen.


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