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Null-Zins-Zeit

EZB: Haben politische Börsen immer kurze Beine?

Mit Blick auf die zwei Reden von EZB-Präsident Mario Draghi vom Juli 2012 und Juni 2019 muß dies wohl leider verneint werden. Seine Nachfolgerin Christine Lagarde dürfte Draghi noch überbieten. Von Norbert F. Tofall

ERIC PIERMONT/AFP/Getty Images

Mit Blick auf die zwei Reden von EZB-Präsident Mario Draghi vom Juli 2012 und Juni 2019 muss dies wohl leider verneint werden. Seine Nachfolgerin Christine Lagarde dürfte Draghis Politik noch überbieten.

I.

Mit der Börsenweisheit, dass politische Börsen kurze Beine haben, soll zum Ausdruck gebracht werden, dass politische Ereignisse Börsenkurse nur kurzfristig beeinflussen und dass langfristig Unternehmensergebnisse und das Wirtschaftswachstum entscheidend sind. Mit dieser Aussage wird implizit vorausgesetzt, dass politische Ereignisse keinen oder nur einen geringen Einfluss auf Unternehmensergebnisse und das Wirtschaftswachstum haben, dass die Bereiche Politik und Wirtschaft bzw. Staat und Markt weitgehend getrennt sind und dass Märkte und Finanzmärkte ihre Aufgaben wirksam erfüllen können und nicht durch interventionistische staatliche und politische Maßnahmen manipuliert werden.

Diese Voraussetzungen sind heutzutage noch unrealistischer als in früheren Zeiten. Das bedeutet jedoch nicht, dass heute jede politische Entscheidung börsenrelevant ist. Kapitalmarktrelevante politische Ereignisse müssen von nicht kapitalmarktrelevanten politischen Ereignissen unterschieden werden, mögen letztere die Öffentlichkeit auch noch so in ihren Bann schlagen und medialen Krawall und Furor entfalten.

Fiskalpolitische Ereignisse dürften überwiegend und geldpolitische Ereignisse so gut wie immer kapitalmarktrelevant sein. Und insbesondere für „geldpolitische Börsen“ scheint in den letzten Jahren zu gelten, dass ihre Beine alles andere als kurz sind. Zumindest ist es bislang den Zentralbanken sowohl in Europa und den USA als auch in China und Japan gelungen, bereinigende Anpassungsrezessionen und Staatsinsolvenzen zu verhindern. Zudem gibt es viele Überlegungen in Wissenschaft und Politik, wie diese Beine verlängert werden könnten, sei es, dass man durch Bargeldverbote Null- und vor allem Negativzinsen wirksamer durchsetzen möchte, sei es, dass man der sogenannten Modern Monetary Theory folgt und offen monetäre Staatsfinanzierung fordert.

II.

Die designierte EZB-Präsidentin Christine Lagarde dürfte den Weg der Null- und Negativzinsen und der monetären Staatsfinanzierung, den ihr Vorgänger Mario Draghi geebnet hat, nicht nur weitergehen, sondern sogar weiter ausbauen. Am 26. Juli 2012 hatte der EZB-Präsident Mario Draghi in einer Rede auf einer Londoner Investorenkonferenz den Satz ausgesprochen, der in der internationalen Finanzwirtschaft schnell als die drei magischen Worte bezeichnet wurde: „Whatever it takes!“ Den internationalen Finanzmärkten sollte mit diesen drei Worten unmissverständlich verdeutlicht werden, dass die EZB alles tun wird, um den Euro und die Europäische Währungsunion in seiner bestehenden Form zu erhalten. Mario Draghi verbreitete so die Gewissheit, dass die EZB als lender of last resort für die Staaten des Euroraumes handeln wird, also für die Schulden der überschuldeten Staaten aufkommen werde. Die vorherige Ungewissheit an den Finanzmärkten, ob einzelne Länder aufgrund ihrer Überschuldung aus dem Euro ausscheiden könnten, wich der Gewißheit, dass die EZB dies mit allen Mitteln verhindern wird. Diese Gewissheit wurde durch diverse Wertpapierankaufprogramme der EZB untermauert.

Die EZB hat bis Anfang 2019 allein Staatsanleihen von Euroländern in Höhe von 2,6 Billionen Euro aufgekauft. Und obwohl das Anleihekaufprogramm Anfang 2019 beendet wurde, kündigte Mario Draghi bereits am 18. Juni 2019 auf dem Notenbankforum der EZB im portugiesischen Sintra an, dass es erhebliche Spielräume für weitere Anleihekäufe gebe und erneute Zinssenkungen erwogen würden.

Auffällig ist, dass seit dieser Ankündigung die Diskussion um die Einführung von Mini-Bots in Italien ziemlich schnell abgeflaut ist. Denn wenn die EZB erneut Staatsanleihen aufkauft, werden in Italien MiniBots vorerst nicht zur Staatsfinanzierung benötigt. Und da allgemein erwartet wird, dass Christine Lagarde die lockere Geldpolitik von Mario Draghi nicht nur fortsetzen, sondern sogar darüber hinaus lockern wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die EZB ihre Rolle als lender of last resort im Sinne Italiens weiter ausbauen wird. Das heißt, die italienische Regierung dürfte auch ihr zweites Ziel in ihrem Erpressungsspiel bald erreicht haben. Die EU-Kommission teilte in dieser Woche sogar mit, sie werde  vorerst kein Defizitverfahren gegen Italien einleiten, da Italien angekündigt habe, die im Dezember mit der EU vereinbarten Haushaltsgrenzen einzuhalten. Das ist angesichts der geplanten Ausgabenprogramme und der versprochenen Steuersenkungen der italienischen Regierung allerdings sehr unwahrscheinlich.

Auffällig ist zudem, dass die Renditen der Staatsanleihen der Euroländer in dieser Woche auf Tiefstände gefallen sind, weil die Märkte eine weitere Lockerung der Geldpolitik der EZB erwarten und Christine Lagarde als glaubwürdige Vertreterin dieser Politik angesehen wird.

Haben geldpolitische Börsen kurze Beine? Mit Blick auf den Zeitraum zwischen den zwei Reden von Mario Draghi vom 26. Juli 2012 und dem 18. Juni 2019 muss dies wohl leider verneint werden. Das heißt zwar nicht, dass es nicht aufgrund von schwächeren Unternehmensergebnissen, geringem Wirtschaftswachstum und Konjunkturabschwüngen oder aufgrund von größeren geopolitischen Krisen zu Marktkorrekturen kommen kann. Da aber gerade dann Zentralbanken und Regierungen aus politischen Gründen versuchen werden, Staatsinsolvenzen und Anpassungsrezessionen auf Teufel komm raus zu unterdrücken, dürfte sich an der „geldpolitischen Börse“ bei aller Volatilität wenig ändern. Die „geldpolitische Börse“ ändert sich erst, wenn das Whatever it takes aufgegeben wird oder die Status-quo-Sicherungspolitik der Zentralbanken und Regierungen gescheitert ist. Letztlich ist der Zusammenhang von „Macht oder ökonomisches Gesetz“ (Eugen von Böhm-Bawerk) nicht auszuhebeln. Das ökonomische Gesetz ist in the long run immer stärker. Wie die Beispiele Japan oder wirtschaftshistorisch die Sowjetunion zeigen, kann das aber noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Und die Diskussionen um eine Modern Mo-netary Theory lassen vermuten, dass das Whatever it takes vorher eher ausgebaut als aufgegeben wird.

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