Tichys Einblick
Neue Normalität: Inflation und Schulden

Der EZB-Chefvolkswirt meint: „Die Inflation ist noch zu niedrig“

Die Geldpolitiken von USA und Euro-Raum driften immer stärker auseinander. Während die Fed langsam strafft, steuert EZB-Präsidentin Lagarde in eine neue Normalität aus Inflation und Schulden.

IMAGO / Ralph Peters

Es passiert selten, dass sich die Spitzen der US-Notenbank und der EZB fast gleichzeitig zu ihrer langfristigen Geldpolitik äußern. Am Ende der vergangenen und zum Beginn dieser Woche wirkten die Deklarationen in Washington und Frankfurt fast wie ein Dialog über den Atlantik hinweg. Zusammenfassen ließe sich der Wortwechsel auf wenige Kernsätze. Während Fed-Chef Jerome Powell ankündigt: „Wir wollen unsere Geldpolitik ganz allmählich wieder normalisieren“, antwortet EZB-Präsidentin Christine Lagarde: „Es wird Zeit, Normalisierung neu zu definieren. Die neue Normalität bedeutet mehr Schulden und mehr Inflation, und beides ist gut.“

Zinsentscheid der US-Notenbank
Die Normalisierung der US-Geldpolitik dürfte die Inflation in Europa noch antreiben
In der Fed-Sitzung am 3. November erklärte Powell, was die Bürger und Anleger im Dollarraum für die nächsten Jahre erwarten können, nämlich eine allmähliche Straffung der Geldpolitik, die zwar langsamer kommt, als es viele Beobachter angenommen hatten, die aber langfristig auf eine Normalisierung der Geldpolitik zielt, also auf ein Ende der starken Zentralbankeingriffe und eine Rückkehr der Zinsen. Seit November beginnt die schon länger erwartete Straffung („Tapering“) damit, dass die US-Notenbank ihre monatlichen Anleihenkäufe in Höhe von 120 Milliarden Euro alle vier Wochen um 15 Milliarden reduziert und bis Mitte 2022 ganz beendet. Auf einen Zeitpunkt für eine vorsichtige Zinserhöhung wollte sich Powell noch nicht festlegen. Die Fed, sagte er, werde damit noch „Geduld“ haben, bis sich die Arbeitsmarktzahlen weiter bessern: „Wir denken nicht, dass es schon an der Zeit ist, die Zinsen zu erhöhen. Es ist noch eine Strecke zurückzulegen, bis wir eine maximale Beschäftigung erreicht haben.“ Zurzeit liegt der Fed-Leitzins zwischen Null und 0,25 Prozent.

Gleichzeitig machte der Fed-Präsident aber auch deutlich, dass er seine Geldpolitik auf eine Rückkehr der Zinsen ausrichtet, ob sie nun etwas früher oder später kommt. Zinsen nahe Null hält er für keinen akzeptablen Dauerzustand – zumal in den USA die Inflation stark anzieht.

Mit einem völligen Kontrastprogramm zu Powell ging EZB-Chefvolkswirt Philip Lane am Montag in die Öffentlichkeit – und niemand zweifelt daran, dass der Ire nicht nur seine persönliche Einschätzung verkündete, sondern den Kurs der EZB-Ratsmehrheit unter Christine Lagarde. In einem Interview mit „El Pais“ erklärte Lane, die Euro-Hüter sähen gar keinen Anlass, ihre Anleihenkäufe auslaufen zu lassen. Die Eurozone sei „noch lange nicht in einer Situation, in der wir die Ankäufe von Vermögenswerten beenden“, so Lane. Seine Begründung lautet, die weitere Flutung mit billigem Bargeld sei nötig, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Aus dem gleichen Grund sei auch an eine Zinsanhebung gar nicht zu denken: „Es sollte kein Zweifel daran bestehen, dass wir dafür sorgen werden, dass Europa einen kräftigen Aufschwung erlebt und dass dieser Aufschwung nicht durch eine unnötige Verschärfung der Finanzierungskosten zum Entgleisen gebracht wird.“ Das zusätzlich wegen Corona aufgelegte Kaufprogramm PEPP läuft planmäßig noch bis März 2022. Allein mit diesem Instrument bringt die EZB insgesamt 1,85 Billionen Euro in den Markt.

Ultralockere Geldpolitik
Trotz anziehender Inflation: EZB-Rat erwägt bloß Verlangsamung der Anleihekäufe
Allerdings hatte die ultralockere Geldpolitik schon vor Corona nicht die erhoffte Wirtschaftsbelebung in der Eurozone bewirkt. Und auch 2021 fällt das Wachstum trotz der Zentralbank-Geldspritzen nur mäßig aus: Im dritten Quartal meldeten die Euro-Staaten insgesamt eine Steigerung ihrer Wirtschaftsleistung von 2,1 Prozent, im Quartal vorher 2,2 Prozent. Deutschland, die größte Volkswirtschaft der Währungszone, entwickelt sich schwächer als noch am Jahresanfang erwartet. Damals rechneten die Wirtschaftsinstitute in ihrer Prognose noch mit einem Plus von 3,7 Prozent – und korrigierten den Wert für 2021 mittlerweile auf 2,6 Prozent. Die Kombination hoher Energiepreise und starker Besteuerung macht für Deutschland das Szenario der Stagflation immer wahrscheinlicher – also eine Kombination aus Kaufkraftverlust und wirtschaftlicher Stagnation.

Im Oktober erreichte die Inflation in der Eurozone eine Höhe von 3,4 Prozent, in Deutschland stieg sie sogar auf 4,5 Prozent. Umso bemerkenswerter fällt die zweite Kernaussage Lanes in dem Interview aus: Die Inflation sei noch immer nicht hoch genug. Um das zu begründen, legt sich der EZB-Chefvolkswirt eine gewundene Begründung zurecht: „Die Inflation ist derzeit unerwartet hoch, aber wir glauben, dass sie im nächsten Jahr zurückgehen wird“, so Lane. „Und wenn wir die Situation mittelfristig betrachten, ist die Inflationsrate immer noch zu niedrig, sie liegt unter unserem Ziel von zwei Prozent, aber nicht zu hoch.“

Sendung 21.10.2021
Tichys Ausblick Talk: „Alarm für unser Geld: Was droht jetzt nach dem Weidmann-Aus?“
Also: Obwohl die aktuelle Geldentwertung weit über dem offiziellen EZB-Ziel liegt, nimmt er kurzerhand für 2022 eine viel niedrigere Inflationsrate an. Nach seiner Logik muss sie also jetzt noch einen kräftigen Schub bekommen, damit sie in der ferneren Zukunft auf der Zielmarke landet. Sollte sie 2022 doch über zwei Prozent liegen, lässt sich das Argumentationsmuster einfach bis 2023 und weiter hinausschieben – falls die Wunsch-Inflationsrate nicht irgendwann sowieso angehoben wird.

Als Vorbild dafür kann der bisher in der Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommene Versuch der Euro-Finanzminister dienen, die Haushaltsregeln für die Gemeinschaftswährung zu ändern. Zu den entsprechenden Beratungen kamen die Politiker ebenfalls am Montag zusammen, am gleichen Tag, an dem auch Lane seinen Vorstoß platzierte. Die Mehrheit der Minister ist sich einig, die formal noch geltende Maastricht-Regel von einer Gesamtverschuldung von höchstens 60 Prozent des Bruttosozialprodukts sei nicht mehr „zeitgemäß“. Ihnen schwebt eine Anhebung auf die 100-Prozent-Marke vor, eine Vorstellung, die auch der Chef des Europäischen Stabilitätsfonds Klaus Regling unterstützt. Eine Verschuldung mit etwa 117 Prozent der Wirtschaftsleistung wie bei Frankreich oder 160 Prozent wie die von Italien würde dann zwar immer noch über der Marke liegen, aber weniger extrem erscheinen. Die Eurozone insgesamt mit 94 Prozent läge sogar noch knapp darunter. Und dem neuen Finanzminister in Berlin könnten vor allem die Kollegen aus den Süd-Ländern vorhalten, das mit gut 70 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldete Deutschland hätte noch sehr viel Luft nach oben, um noch Hunderte Milliarden Euro an Krediten aufzunehmen.

Wie die EZB das Inflationsziel aufweicht – und damit den Euro
Die Fortsetzung und Beschleunigung der Schuldenpolitik passt perfekt zur Ankündigung der EZB, auf lange Sicht an den Null- beziehungsweise Minuszinsen festzuhalten. Unter Christine Lagarde konzentriert sich die EZB auf zwei Ziele: erstens, die stark verschuldeten Euro-Länder zu retten, und zweitens – das bekräftigte die Zentralbankchefin gerade vor kurzem noch einmal – den „Green Deal“, die Transformation der Wirtschaft in der EU zu unterstützen. Nur die Geldwertstabilität – laut EZB-Statut das einzige offizielle Ziel der Bank – verschwindet allmählich sowohl aus ihrer Rhetorik als auch aus der Geldpolitik.

In den USA kommt die Normalisierung der Geldpolitik also etwas später, als manche erhofften oder befürchteten – während sich in der Eurozone schleichend eine neue Normalität etabliert, in der eine politisierte Zentralbank immer tiefer in die Wirtschaft eingreift, die Geldschleusen am liebsten nie wieder schließt und die Bürger auf eine Welt ohne Zinsen vorbereitet. Die Inflation, das wurde mit diesem Wochenbeginn ein Stück deutlicher, dürfte also lange bleiben, in der Eurozone länger und ausgeprägter als in den USA.

Rücktritt von Jens Weidmann
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Die Finanzmärkte reagierten entsprechend. Der Goldpreis zog stark an und erreichte zeitweise über 1.580 Euro pro Unze; Kryptowährungen legten ebenfalls zu: Bitcoins stiegen auf das Hoch um 68.000 Dollar, Etherum kletterte auf das allzeithoch von 4.700 Dollar. Aktienindizes steuerten ebenfalls auf Höchststände zu.

Damit teilt sich auch das Feld der Gewinner und Verlierer der Geldpolitik: Neben hoch verschuldeten Staaten profitieren alle, die in der Vergangenheit einen größeren Teil ihres Vermögens in Aktien, Edelmetalle, Immobilien und Kryptowährungen gesteckt hatten, während alle verlieren, die überwiegend Sparguthaben halten. Faktisch finanzieren die Sparer die Schuldenstaaten und gleichzeitig die Gewinne derjenigen, die ihr Vermögen streuen. Schon der US-Ökonom Milton Friedman wusste vor Jahrzehnten: „Inflation ist die einzige Form der Besteuerung, die ohne Gesetzgebung erhoben werden kann.“

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