Offenbar forderte die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, politische Entscheidungsträger im EZB-Rat dazu auf, sich mehrere Tage lang mit abweichenden Ansichten zu Entscheidungen zurückzuhalten, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Letztlich bedeutete das, wenn es zutrifft, einer Art „Maulkorb“.
Es sei ein Schritt, der laut Kritikern ihre Fähigkeit beeinträchtigt, eine ehrliche Sicht der Debatte zu präsentieren, betonen Insider. Demnach dürfen EZB-interne Kritiker nur gemeinsame Beschlüsse gegenüber der Öffentlichkeit äußern. Eine eigene Meinung zu äußern, ist nicht erwünscht und soll zurückgehalten werden. Zumindest bis zum darauffolgenden Montag.
Als Lagarde Ende 2019 nach einem unruhigen Ende der Präsidentschaft von Mario Draghi den Spitzenposten bei der EZB übernahm, versprach sie noch, im EZB-Rat einen Konsens zu schaffen.
Doch sie hat mit lautstarkem Widerspruch von politischen Falken zu kämpfen, was angesichts der rekordhohen Inflation in der Eurozone nicht verwunderlich ist. Daher die anhaltenden „Leaks“, sprich Gegenargumente über die im EZB-Rat intern gefassten Beschlüsse, die nach außen dringen.
Die informellen Richtlinien scheinen Spuren zu hinterlassen. Am Gründonnerstag bekundete die EZB, sie werde ihr Anleihenkaufprogramm im dritten Quartal beenden und einige Zeit danach die Zinsen anheben. Bundesbankpräsident Joachim Nagel und ebenso der Belgier Pierre Wunsch warteten nun bis zu dieser Woche, um ein schnelleres Tempo der geldpolitischen Straffung zu fordern, ebenso wie der Niederländer Klaas Knot nach dem Treffen im Februar.
Politiker aus den finanzstärkeren Nordstaaten der Eurozone sprachen sich in den letzten Jahren oftmals gegen die ultralockere Geldpolitik der EZB aus, doch nun, da das Ende der Konjunkturprogramme, also das Ende der Anleiheankäufe, in Sicht ist, finden sich die Länder im ärmeren Süden in der Minderheit wieder.
Kritiker betonen, die neuen Richtlinien verringerten die Stimme von Andersdenkenden effektiv, da sie gebeten werden, sich erst zu äußern, wenn im Nachrichtenzyklus schon mehrere Tage verstrichen sind, sodass sie ihr Zielpublikum nicht mehr erreichen. Auch seien die Richtlinien selbstzerstörerisch, da sie politischen Entscheidungsträgern einen Anreiz gäben, ihre Ansichten doch mit Journalisten zu teilen, dabei aber vermieden, namentlich genannt zu werden.
„Wollen Sie Leaks? Die bekommen Sie so oder so“, sagte eine der Quellen gegenüber Reuters, die darum bat, nicht genannt zu werden. „Wenn die Leute nicht offen sprechen können, reden sie trotzdem, aber über andere Kanäle.“
Der Schritt überraschte viele, da die EZB erst im vergangenen Jahr eine neue Kommunikationsstrategie entwickelt hatte und solche Beschränkungen damals nicht diskutiert wurden.
Befürworter von Lagardes Richtlinien sagen, dass Kritik, die kurz nach den Sitzungen geäußert wird, die Entscheidung schwäche und Zweifel säten, so dass ein paar zusätzliche Tage der Öffentlichkeit einfacher erlaubten, das Ergebnis zu verstehen und zu akzeptieren.
„Sobald wir eine Entscheidung getroffen haben, sollten wir dazu stehen, auch wenn einige von uns anderer Meinung waren“, kommentiert eine andere Quelle. „Das Problem ist, dass es leicht gesagt, aber fast unmöglich ist, das jetzt umzusetzen.“