Tichys Einblick

Europa in der Protektionismus-Falle

Die EU hat eine neue Handelsstrategie und gibt sich freihandelsliebend. Tatsächlich stehen wettbewerbsschwache EU-Unternehmen unter Bestandsschutz. Knallharter Protektionismus ist die Folge.

picture alliance/dpa | Christophe Gateau

Die Corona-Krise könnte „zum Beschleuniger von Trends wie Protektionismus oder der Entstehung von konkurrierenden geoökonomischen Blöcken werden“, warnte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) vor einigen Monaten. Allerdings hätten schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie „globale Handelskonflikte, neue Zölle und Handelsbarrieren zunehmend die Realität der außenwirtschaftlich orientierten Unternehmen in Deutschland bestimmt“. Hinzu komme nun, dass die Staaten durch die zahlreichen Corona-Rettungsmaßnahmen einen „wettbewerbsverzerrenden Subventionswettlauf“ gestartet haben und zu „wichtigen Wirtschaftsakteuren“ werden. Die Politik rufe nach „Industriestrategien, … Buy local Vorgaben … sowie nach staatlich gelenkter Rückverlagerung der Industrieproduktion“. Mit dieser Lagebeurteilung steht die Interessenvertretung der gewerblichen Wirtschaft nicht allein, denn viele Wirtschaftsvertreter, Ökonomen und Politiker warnen spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 vor diesen Trends.

Diplomatische Fiktion

Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission nun die europäische Handelsstrategie der nächsten Jahre festgelegt. Protektionismus wird eine klare Absage erteilt. Der EU-Handelskommissar Vladis Dombrovskis betont im Gegenteil, die EU bräuchte einen „offenen, regelbasierten Handel, um in der Zeit nach der Pandemie einen Beitrag zur Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung zu leisten.“ Protektionismus sei die Sache anderer Staaten. Daher enthalte die neue Handelsstrategie geeignete „Instrumente zur Abwehr unlauterer Handelspraktiken“, mit denen man einen Kurs im Zeichen von „Offenheit, Nachhaltigkeit und Durchsetzungsfähigkeit“ verfolge. Die EU sei, so zeigt ein Factsheet zur Strategie, eine „offene Wirtschaft“, deren durchschnittliches Zollniveau – ähnlich wie das anderer entwickelter Länder – bei nur 5,1 Prozent liege. China oder Indien beispielsweise hätten ein deutlich höheres Zollniveau und zudem würden diese Länder, gedeckt durch WTO-Regularien, oft noch viel höhere Zölle erheben.

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Die Bewertung protektionistischer Trends erfolgt traditionell im Wesentlichen auf Grundlage des Zollniveaus und von Handelsbarrieren. Da es in Jahrzehnten gelang, das globale handelsgewichtete Zollniveau auf nur noch etwa fünf Prozent zu drücken und dieses Niveau auch nach der Finanzkrise 2008 in etwa gehalten wurde, scheint der globale Trend in Richtung offener Märkte wenig beeinträchtigt. Die EU kann sich so als Vorreiter eines freien Welthandels präsentieren. Umgekehrt gilt der vom ehemaligen US-Präsidenten Trump angezettelte Handelsstreit als Paradebeispiel für Protektionismus, denn er hat das Zollniveau zwischen den USA und China deutlich erhöht. Durch die Fokussierung auf Zölle und Handelsbeschränkungen wird die Dynamik protektionistischer Trends wie auch der Umfang längst etablierter Maßnahmen, die inländische Unternehmen beschützen, jedoch krass unterschätzt. Besonders eklatant ist die Diskrepanz zwischen freihändlerischer Rhetorik und protektionistischer Praxis in den entwickelten Volkswirtschaften, vor allem in der EU.

Viel zu lange schon hielten die G20-Länder die „diplomatische Fiktion aufrecht“, Protektionismus sei gebändigt, schreibt die auf das Monitoring des Welthandels spezialisierte Organisation Global Trade Alert (GTA). Die Regierungen, so die Autoren einer GTA-Studie, „haben ihre Aktivitäten nur auf andere Politikfelder verschoben“. Importzölle waren 2016 nur noch für weniger als zehn Prozent der Handelsverzerrungen verantwortlich, so GTA, denn „staatliche Finanzhilfen, nicht Importbeschränkungen“, sind das Haupt-Tätigkeitsfeld zur Protektion der heimischen Wirtschaft.

Der zunehmende Protektionismus hat sich in einer veränderten Form sogenannter „nicht-tarifärer Handelshemmnisse“ durchgesetzt. Er beruht vor allem auf Maßnahmen, die direkt die inländische Wirtschaft betreffen, also „hinter der Grenze“ wirken. Dazu gehören technische und Produkt-Standards, Klima-, Umweltschutz- sowie Gesundheits- und Sicherheitsregulierung, der Schutz vor ausländischen Übernahmen, Steuern oder Abgaben für ausländische Unternehmen und vor allem Subventionen (also Finanzhilfen und Steuererleichterungen) für inländische Unternehmen.

Globalistischer Protektionismus

Diese moderne Form des Protektionismus wird in Europa nicht in der Sprache des merkantilistischen Nationalismus gehüllt, der sich Trump bedient hatte. Die Europäer erreichen das gleiche Resultat, indem sie ihren Protektionismus globalistisch begründen, also auf übergeordnete Prinzipien und Normen setzen, die von supranationalen Institutionen wie der WTO etwa im Rahmen von Handelsregulierung durchgesetzt werden. Als Vehikel hierfür dient den Europäern die EU. Typisch für die unkritische Haltung gegenüber diesem globalistisch verbrämten Protektionismus ist die Auffassung des DIHK. So sieht dessen Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben eine große Rolle der EU darin, „faire und gleiche Bedingungen, also ein internationales Level Playing Field“ zu schaffen. Unter diesem Label forciert die EU jedoch ihre protektionistische Ausrichtung. Das geschieht, indem mit immer neuen Regeln und Standards „faire und gleiche Bedingungen“ im Binnenmarkt etabliert werden, die jedoch ausländischen Wettbewerbern den Marktzugang erschweren. In anderen Fällen werden inländische Subventionen mit der Herstellung „gleicher Wettbewerbsbedingungen“ begründet.

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So lässt der französische Industrie- und Binnenmarktkommissar der EU, Thierry Breton, kaum eine Gelegenheit aus, um deutlich zu machen, dass nicht der Wettbewerb geschützt werden müsse, sondern europäische Unternehmen vor diesem. So gehe es nicht um niedrige Preise für die Verbraucher, sondern um den Schutz der Unternehmen, was er als Forderungen nach mehr „Beschäftigung, Fortschritt und Souveränität“ verklausuliert. Über Twitter erklärte er, die von der EU aufgenommenen Schulden für das 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm sollten durch zusätzliche Steuern an den Außengrenzen des Binnenmarktes finanziert werden. Die EU plant die Einführung einer Digitalsteuer, die vor allem amerikanische Tech-Giganten wie Apple oder Google treffen soll. Eine neue CO2-Abgabe soll nun auf Importe von Ländern mit weniger scharfen Klimaschutzzielen erhoben werden. „Wir sehen in der EU unter deutsch-französischer Führung einen Paradigmenwechsel. Wir sehen einen zunehmenden Protektionismus, der den Wettbewerb schwächt“, warnt Lars Feld, der wegen seiner wirtschaftsliberalen Ansichten bei der Bundesregierung in Ungnade gefallen war und den Vorsitz im Sachverständigenrat aufgeben musste.

Die EU ihrerseits nutzt das wirtschaftliche Gewicht des Binnenmarkts inzwischen sogar, um anderen Staaten und Regionen die Bedingungen zu diktieren, unter denen diese in ihren heimischen Ländern produzieren müssen. Typisch hierfür ist das von der Bundesregierung nun auf den Weg gebrachte Lieferkettengesetz, dessen Verschärfung die EU-Kommission schon für dieses Jahr anstrebt. Hiesige Unternehmen sollen für die Unterschreitung europäischer Umwelt- und Sozialstandards innerhalb ihrer ausländischen Lieferketten haften. Das läuft darauf hinaus, wettbewerbliche Vorteile weniger entwickelter Länder zu eliminieren. Bereits in der EU produzierende Unternehmen werden so begünstigt und stärker internationalisierte Unternehmen zur Regionalisierung ihrer Wertschöpfungsketten gedrängt.

Protektionistische Abwärtsspirale

Der Protektionismus Europas ist jedoch längst nicht mehr nur eine Option. Er ist für viele Unternehmen existenziell geworden, denn sie sind aufgrund der jahrzehntelangen Erosion ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf wirtschaftliche Rahmenbedingungen angewiesen, die ihnen das Überleben ermöglichen. Viel zu lange hat man mit Hilfe wirtschaftspolitischer Stabilisierungsmaßnahmen darauf hingearbeitet, Krisen zu dämpfen und dadurch inländische Unternehmen zu schützen. Die dauerhafte Bewahrung auch wenig profitabler Unternehmen hat zu einer schleichenden Zombifizierung der Wirtschaft geführt. Im Kern resultiert dies daraus, dass unprofitable Unternehmen nicht durch ordnungspolitische Rahmensetzungen zur Restrukturierung oder zur Aufgabe gezwungen sind. Da deren Kapital erhalten bleibt, bläht sich die gesamtwirtschaftliche Kapitalbasis künstlich auf und schmälert die Profitabilität auch der besser aufgestellten Wettbewerber. In ganz Europa sind daher die Investitionen der Unternehmen im Verhältnis zur ihrer Wertschöpfung schon seit Jahrzehnten rückläufig. Das hat, mangels kapitalintensiver Einführung produktivitätssteigernder Technologien, zu einer Erosion der Wettbewerbsfähigkeit geführt.

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Die seit den 1970er Jahren wirtschaftspolitisch dominierende Stabilitätsorientierung hat die Wirtschaft so umfassend geschwächt, dass immer durchgreifendere Maßnahmen erforderlich sind, um etablierte Unternehmen zu schützen. Allein in Deutschland fließen jährlich mehr als 200 Milliarden Euro wirtschaftliche Subventionen, das sind etwa 2500 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Diese Wirtschaftspolitik wirkt gegenüber ausländischen Wettbewerbern zwangsläufig protektionistisch. Die EU steckt daher in einer selbstgestellten Protektionismus-Falle: Um die immer weniger wettbewerbliche europäische Wirtschaft vor einer tiefen Krise zu bewahren, müssen protektionistische Maßnahmen in Form von Regulierung, Finanzhilfen, Subventionen, Steuersenkungen, Konjunktur- und Rettungsprogrammen oder etwa die Niedrigzinspolitik kontinuierlich ausgebaut werden.

Die Leidtragenden dieses EU-Protektionismus sind die Erwerbstätigen in Europa. Seit der Finanzkrise 2008 erreichen die vor allzu hartem globalem Wettbewerb geschützten Unternehmen nur noch marginale Arbeitsproduktivitätssteigerungen. Da Reallöhne von der Produktivitätsentwicklung abhängen, steigen sie seit den 1990er Jahren in den entwickelten Volkswirtschaften und auch in Deutschland kaum noch. Zudem sind in Europa viele Jobs in alten Industrien weggefallen und zu wenig neue Jobs entstanden, weil die Unternehmen anderswo investieren.
Es gibt zu wenige Kritiker, die diesen Zusammenhang herstellen. So gelingt es der EU und der Bundesregierung mit Leichtigkeit, eine glaubwürdig erscheinende freihändlerische Perspektive zu formulieren und dabei so tun, als ob die Bedrohung von Jobs und Wohlstand von unfairen Handelspraktiken anderer Länder ausginge. Diese Probleme sind jedoch hausgemacht, denn die Wirtschaftspolitik zielt immer konsequenter auf Erhalt und nicht die notwendige Restrukturierung wettbewerbsschwacher Unternehmen.

So wetzt der mächtigste Handelspolitiker Europas und gleichzeitig der Vertreter des mächtigsten Handelsblocks der Welt, EU-Kommissar Vladis Dombrovskis, die Säbel. Er provoziert keinen öffentlichen Aufschrei, wenn er die EU als Garant eines „offenen, regelbasierten Handels“ darstellt und anderen droht, dass die neue Handelsstrategie geeignete „Instrumente zur Abwehr unlauterer Handelspraktiken“ und zur „Durchsetzungsfähigkeit“ der EU biete. Leider formulieren wenige so klar wie der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr, dass die Hauptverantwortlichen für den weltweit zunehmenden Protektionismus keineswegs in der US-Regierung oder kommunistischen Führung Chinas zu suchen seien. Die EU, so Felbermayr, betreibe „zunehmend eine Wirtschaftspolitik, die zulasten von Drittstaaten“ gehe. Hinzuzufügen wäre noch, dass sie auf dem Rücken und zum Nachteil der Erwerbstätigen in Europa betrieben wird.


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