Am heutigen 11.07. beginnen die Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream 1. Für zehn Tage sollen die Gaslieferungen unterbrochen werden. Doch schon seit Wochen reduziert Russland die vereinbarten Liefermengen. Die Gasflüsse aus Nord Stream 1 liegen derzeit bei etwa 40 Prozent der Maximalleistung. Grund seien Reparaturarbeiten. Unterdessen steigen und steigen die Energiepreise – mithin auch die Gaspreise. Das hat bereits Folgen für die Unternehmen.
Der traditionsreiche Fliesenproduzent Villeroy & Boch schließt sein Stammwerk im saarländischen Mettlach zum Jahresende und will die gesamte Produktion in die Türkei verlagern: „Extrem hohe Kosten für Energie, Transporte, Verpackung und Rohstoffe sowie das hohe Lohnniveau in Deutschland machen die Produktion von Fliesen wirtschaftlich unattraktiv“, teilte V&B Fliesen GmbH mit. Allein die Kosten für Gas seien in der Spitze um 500 Prozent gestiegen, so eine Sprecherin des Unternehmens. Ob Letzteres den Tatsachen entspricht, sei dahingestellt.
Und auch die DMV Deutsche Metallveredelung GmbH in Lennestadt ist insolvent. Knapp 100 Beschäftigte verlieren ihre Jobs. Der Grund: die gestiegenen Strom- und Gaspreise.
Für den Fall einer kompletten Einstellung der Gaslieferungen aus Russland rechnen Ökonomen mit einer schweren Rezession – mit dem Einbruch zwischen sechs und zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung.
Blieben noch LNG-Lieferungen aus Übersee, also Flüssiggas, das über Terminals in den Niederlanden oder Belgien angeliefert und nach Aufbereitung über das europäische Ferngasleitungsnetz weitergeleitet wird; doch die benötigten Mengen werden nicht ausreichen, zumal es nicht nur hohen Bedarf in Deutschland gibt.
Bisher liegt der Anteil der Gaslieferungen aus Russland – Stand 2021 – bei 52 Prozent. Aus Norwegen kommen 30 Prozent, aus den Niederlanden acht Prozent und Deutschland selbst fördert fünf Prozent, weitere fünf Prozent kommen via LNG.
Die Anteile am Erdgas-Bezug betragen laut einer Statistik des Handelsblatts für die Haushalte 30,8 Prozent, für Gewerbe, Handel und Dienstleistungen 12,8 Prozent, für die Stromversorgung 12,6 Prozent, für Verkehr und Fernwärme 6,9 Prozent und für die Industrie mit dem höchsten Anteil knapp 37 Prozent.
Und dann gibt es noch die Gasweiterleitungsverpflichtungen Deutschlands innerhalb der EU. Laut einer Grafik des Handelsblatts lässt es sich wie folgt aufschlüsseln: Derzeit liegt der Füllstand in den Erdgasspeichern bei 63,2 Prozent. Liegen die Lieferungen wie seit etwa Mitte Juni nur noch reduziert bei 40 Prozent und bleibt es ganzjährig dabei, so leitet Deutschland deutlich weniger Gas an die Nachbarländer weiter. Die Bundesnetzagentur schreibt: „Sollten die russischen Gaslieferungen über Nord Stream 1 weiterhin auf diesem niedrigen Niveau verharren, ist ein Speicherstand von 90 Prozent bis November kaum mehr ohne zusätzliche Maßnahmen erreichbar. Von der Reduktion ist die Weitergabe von Gas in andere europäische Länder wie zum Beispiel Frankreich, Österreich und Tschechien betroffen.“
„Was tun andere EU-Staaten, um den steigenden Preisen und Versorgungsrisiken zu begegnen?“ titelt das Handelsblatt. Beispiel Frankreich: In Frankreich ist bereits seit einigen Wochen Realität, was Deutschland noch fürchtet: Die Pipelines, aus denen zuvor Gas aus Russland strömte, sind versiegt. Nach der Drosselung der russischen Lieferungen nach Westeuropa hatte der französische Netzbetreiber GRTGaz Mitte Juni die „Unterbrechung des Gasflusses zwischen Frankreich und Deutschland“ festgestellt. Allerdings ist Frankreich weniger abhängig von Russland. Es importiert nur 17 Prozent seines Erdgas-Bedarfs. Dafür springt Norwegen ein.
Spanien: Anfang Juni hat die EU-Kommission auch Spanien und Portugal erlaubt, den Gaspreis für die Stromerzeugung ein Jahr lang künstlich zu deckeln. Der Preisdeckel wird im Jahresdurchschnitt bei 48,80 Euro pro Megawattstunde (MWh) liegen, ist aber über die Laufzeit gestaffelt: In den ersten sechs Monaten beträgt er 40 Euro pro MWh und steigt dann jeden Monat um fünf Euro an, bis er im letzten Monat der Deckelung 70 Euro pro MWh erreichen wird. … Rund 20 Prozent der spanischen Stromproduktion basiert auf Erdgas. Die EU-Kommission schätzt die Kosten des Gaspreisdeckels auf 6,3 Milliarden Euro.
Portugal: In Portugal, dessen Energienetze eng mit den spanischen verbunden sind, gilt seit Mitte Juni derselbe Gaspreisdeckel wie im Nachbarland.
Italien: Vor einem Jahr noch deckten die Importe aus Russland gut 35 Prozent des italienischen Gasbedarfs ab. Im ersten Quartal dieses Jahres lag dieser Wert nur noch bei 21 Prozent. Das liegt vor allem an den Importen aus Algerien, die schon vor Beginn des Ukraine-Kriegs stark zugelegt haben. Italien trifft derzeit Notmaßnahmen, um die nächste Wintersaison zu überstehen. Die Gasspeicher sollen schneller befüllt werden als sonst. Derzeit stehen sie im Schnitt bei 55 Prozent, bis November will Italien auf mindestens 90 Prozent kommen.
Und was hat es mit der Gasturbine auf sich, die in Kanada gewartet wird? Kanada liefert nun doch die Gasturbine, obwohl dies womöglich ein Verstoß gegen die Sanktionierung Russlands ist. Die kanadische Regierung unter Justin Trudeau hat Selenskyjs Drängen ignoriert. Die Ukraine hatte versucht, Kanada von dieser Entscheidung abzuhalten. An den hohen Gaspreisen wird der Einsatz der reparierten Gasturbine künftig vermutlich nichts ändern.