Im Jahr 1987 erschien ein Sachbuch des britischen Historikers Paul Kennedy unter dem englischen Originaltitel „The Rise and Fall of the Great Powers“. Darin beschrieb Kennedy die Geschichte vom Aufstieg und Fall großer Weltmächte während der letzten Jahrtausende und prognostizierte aufgrund seiner empirischen Befunde ziemlich zeitgenau den bevorstehenden Untergang der Sowjetunion. Der dann auch eintrat!
Das Zauberwort für beides, für den Aufstieg wie für den Fall, war „Overstreching“. Gemeint war damit die Überbeanspruchung der materiellen und immateriellen Ressourcen, die einer Gesellschaft/Volkswirtschaft (Staat) und/oder deren – in der Regel autokratischen/diktatorischen – Führung zur Expansion und Beherrschung/Kolonisation zur Verfügung standen. Der Untergang war wegen der Begrenzung dieser Ressourcen à la longue unausweichlich, war vorprogrammiert.
Elon Musk, mit über 200,7 Milliarden Dollar Vermögen augenblicklich der reichste Mann der Welt, ist dabei, diese Liste der „falling stars“ um einen weiteren Namen zu verlängern. Die Übernahme von Twitter zum einmalig hohen Kaufpreis von 44 Milliarden Dollar, vor allem aber seine im Anschluss daran eingeleiteten Managementaktivitäten bei seiner Neuerwerbung lassen für die Zukunft nichts Gutes erwarten: weder für Twitter noch für Musk.
Elon Musk stiftet seit der Übernahme bei Twitter Chaos. Eine geordnete Firmenübernahme sieht anders aus. Aus dem von Musk angekündigten Umbau wird ein Abriss. Was er vorhat, dokumentierte er auf einem Twitter-Videoclip, in dem er nach der Übernahme (im T-Shirt) ein Waschbecken in die Twitter-Firmenzentrale trägt. Warum ein Waschbecken? Damit knüpft Musk an ein englisches Wortspiel an: „Entering Twitter HQ – let that sink in“, schrieb der neue Twitter-Chef zu dem Video. „Sink“ heißt Waschbecken auf Englisch, die Redewendung „let that sink in“ bedeutet so viel wie „lass‘ das einmal auf dich wirken“.
Der bisherigen Twitter-Mannschaft – oberste Führung nebst allen Angestellten – ist mittlerweile das Lachen vergangen. Seit Musk Twitter von der Börse nahm und in seinen Privtbesitz überführte (Freitag, 28.10.2022) exekutierte der neue „Chef-Zwitscherer“ einen personellen Kahlschlag, setzte er die vorhandene Führungsstruktur völlig außer Kraft. Als erste Amtshandlung feuerte er direkt nach der Übernahme das Top-Management – gegen millionenschwere Abfindungen –, löste den Verwaltungsrat auf und ernannte sich selbst zum „Chief Twit“, zum „alleinigen Direktor“. Die gesamte Macht bei Twitter liegt nun bei Musk selber.
Musk muss die Kosten kräftig senken – angesichts roter Zahlen und immenser Schulden, die dem Unternehmen bei der Übernahme aufgebürdet wurden, ist der Bedarf hoch. Dazu will Musk jeden zweiten der 7500 Mitarbeiter entlassen. Der Prozess hat begonnen. Die Mitarbeiter erfahren per E-Mail von ihrer Entlassung. Am Donnerstag angekündigt, erhielten entlassene Mitarbeiter am Freitag darauf E-Mails mit der Nachricht, dass es ihr letzter Arbeitstag bei dem Unternehmen sei, wie der Finanzdienst Bloomberg meldete. Offizielle Angaben dazu, wie viele Mitarbeiter betroffen sind, gab es nicht, und Musk muss sie auch nicht mehr geben, da er bereits eine Woche zuvor die Übernahme abgeschlossen hatte und Twitter Privatbesitz ist. Musk kann also nunmehr das gleiche Personalregime praktizieren, wie er es zuvor bei Tesla, Space-X und anderen seiner Firmen seit langem praktiziert.
Die Reaktion wichtiger Twitter-Kunden auf die Übernahme durch den Egozentriker Musk blieb nicht aus. Für die Zukunft Twitters ist das nicht trivial! Rund 90 Prozent des Twitter-Geschäfts bestehen aus Werbeeinahmen. Und die Kunden sind politisch wie wirtschaftlich sehr vorsichtig und auf politische Neutralität wie auf niedrige Werbekosten fokussiert. Politische und ethische Dissonanzen in der Plattformphilosophie können diese Kunden nicht brauchen.
Der Wettbewerb im Plattformgewerbe ist hart. Für die meisten Werbetreibenden sind aber andere Plattformen wie Facebook ohnehin wichtiger. Twitter ist also auf dem Markt der Kommunikationsplattformen mit starken Wettbewerbern konfrontiert – anders als Musk es bei all seinen bisherigen Firmenneugründungen wie Pay-Pal, Tesla, Space-X erlebt hat.
Kaum im Vorsitz muss der neue Twitter-Besitzer Elon Musk einen deutlichen Umsatzeinbruch beklagen, nachdem große Unternehmen ihre Werbung beim Online-Dienst ausgesetzt haben. Ein dauerhafter Rückzug großer Werbekunden wäre ein Problem für Musk. Der Dienst schrieb zuletzt ohnehin rote Zahlen. Auch hatte Musk für die Übernahme Kredite von rund 13 Milliarden Dollar aufgenommen – und deren Bedienung erfordert Medienberichten zufolge mehr Geld, als das Twitter-Geschäft an freien Mitteln dafür abwirft. Schrumpfende Erlöse kämen da besonders ungelegen.
Musk steht bei Twitter vor einem massivem Schuldenberg. Experten sprechen von einem „finanziellen Alptraumszenario“ (ntv.de, mba/DJ, 05.11.2022).
Elon Musks Entscheidung, die Hälfte der Twitter-Mitarbeiter zu entlassen, ist offenbar durch die desolate Finanzlage des Unternehmens ausgelöst worden – und spricht Bände. Musk-Zwitscher-Ambitionen verursachen ceteris paribus im Jahr 2023 einen Verlust von 700 Millionen US-Dollar, sollten die Kosten nicht gesenkt werden (Washington Post).
Während Twitter im Jahr 2021 nur einen bescheidenen Verlust verzeichnete, würden die Zinszahlungen für den massiven Schuldenberg im kommenden Jahr ein großes Loch in die Kasse reißen. Insbesondere wird Twitter gezwungen sein, Zinskosten für seine fast 13 Milliarden Dollar an neuen Krediten zu zahlen, die sich auf 1,3 Milliarden Dollar pro Jahr belaufen werden, verlautet es aus Banker-Kreisen. Das ist mehr als Twitters typischer Jahresertrag von 1,2 Milliarden Dollar vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen und Amortisationen (EBITDA) – ein wichtiger Maßstab für die Rentabilität an der Wall Street. „Der Zinsaufwand ist höher als das EBITDA. Zusätzlich zu den horrenden Zinszahlungen gab Twitter nach Angaben eines Bankers etwa 600 Millionen Dollar für Investitionen aus. Ziehe man die Zinsen und Investitionsausgaben von Twitters EBITDA ab, schreibe das Unternehmen 700 Millionen Dollar rote Zahlen. Es handele sich um ein klassisches Alptraumszenario in der Welt der fremdfinanzierten Übernahmen, fügten Banker-Quellen hinzu.
Danach müssen inzwischen die Banken, die Musks Übernahmegeschäft mitfinanziert haben, mit hohen Verlusten rechnen, da sie Schwierigkeiten haben, ihre Kredite weiter zu verkaufen. Ende Oktober wollte Barclays seinen Anteil an den 12,7 Milliarden Dollar an Krediten, die Musk zur Finanzierung des Geschäfts aufgenommen hatte, für 80 Cent pro Dollar verkaufen, so eine Quelle mit direkter Kenntnis. Zu diesem Preis, der einen Verlust von 2,54 Milliarden Dollar für alle Kredite bedeuten würde, gab es nur wenige Abnehmer, so die Quelle. Ein potenzieller Käufer der Schulden sagte, er sei sich nicht sicher, ob sie überhaupt 60 bis 65 Cents pro Dollar wert seien.
Twitter befindet sich offensichtlich auf dem absteigenden Ast. Wichtige Werbekunden ziehen sich zurück, große Werbekunden fliehen angesichts von Musks Eskapaden aus der App. So hat er als Chief-Twit als Beispiel einen Artikel mit einer unbegründeten Verschwörungstheorie über das Attentat auf den Ehemann von Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi, Paul, veröffentlicht und dann gelöscht.
General Motors (GM), Audi, General Mills (GIS) und mehrere andere Unternehmen haben in den letzten Wochen ihre Twitter-Werbung pausiert, und Führungskräfte in der gesamten Branche bereiten Alternativpläne vor, um die Werbedollar von der Website umzuverteilen, berichtete The Washington Post. Als erster hatte bereits General Motors erklärt, seine Werbetätigkeit auf der Plattform zumindest auszusetzen. Ähnliche Schritte sollen der Pharmakonzern Pfizer sowie die Lebensmittelriesen Mondelez und General Mills unternommen haben.
Jüngst schloss sich auch der Volkswagen-Konzern den Werbekunden an, die Anzeigen auf Twitter auf Eis legen wollen. VW nannte als Grund die Ankündigung des Kurznachrichtendienstes, Inhalte-Richtlinien zu überarbeiten. Der VW-Konzern habe „seinen Marken empfohlen, ihre bezahlten Aktivitäten auf der Plattform bis auf Weiteres zu pausieren“, hieß es. Ein endgültiger Werbestopp sei das aber nicht: „Wir beobachten die Situation genau und werden je nach Entwicklung über die nächsten Schritte entscheiden.“ Da Volkswagen der schärfste Konkurrent von Tesla sein möchte, dürfte eine gewisse Distanz kaum zu vermeiden sein, sollen bestens gehütete Werbekampagnen von VW nicht früher bei Tesla landen, bevor sie auf Twitter überhaupt gestartet wurden.
Womöglich noch bedrohlicher für Twitters Anzeigengeschäft, das rund 90 Prozent des Umsatzes ausmacht: Auch die großen internationalen Werbekonzerne gehen auf Abstand. So soll der Branchenriese IPG, der milliardenschwere Anzeigenetats für Unternehmen wie Coca-Cola, American Express, Levi Strauss und Spotify verwaltet, Kunden bereits wenige Tage nach Musks Übernahme geraten haben, Werbung auf Twitter zu stoppen. „Es ist noch nicht klar, wo Elon Musk steht“, sagte der Gründer der weltgrößten Werbeholding WPP, Martin Sorrell, mit Blick auf die künftigen Twitter-Richtlinien. Unternehmen warteten deshalb ab. „Kunden wollen keine Konflikte, sie wollen keine Kontroversen.“
Musk selber heizte diese Skepsis der Kunden an, da er in seiner politischen und brachialen Gedankenwelt Donald Trump sicher näher steht als jener von Polit-Senior Joseph Robinette Biden Jr. Insofern wundert es nicht, dass der Chief-Twit für den Twitter-Umsatzrückgang „Aktivistengruppen“ verantwortlich macht, die Druck auf Werbekunden ausübten. Dabei habe sich beim Umgang mit kontroversen Inhalten auf der Plattform nichts verändert, und man habe alles unternommen, um diese Aktivisten zufriedenzustellen, schrieb Musk auf Twitter. „Sie versuchen, die Redefreiheit in Amerika zu zerstören“, behauptete er, ohne die Gruppen näher zu benennen. Schlimmer noch: Der Tech-Milliardär drohte sogar, Unternehmen, die ihre Werbeaktivitäten auf Twitter einstellen, öffentlich an den Pranger zu stellen, um seine Fans gegen die Abtrünnigen aufzubringen und zum Gegenboykott anzustacheln.
Widerstand bei Nutzern gibt es zudem gegen seine Pläne, den begehrten Haken für verifizierte Accounts als Teil eines kostenpflichtigen Abos anzubieten. Musk schrieb dazu: „An alle Nörgler, beschwert Euch bitte weiter, aber es kostet acht Dollar.“ Abonnenten sollen überdies nur noch die Hälfte der sonst üblichen Werbeeinblendungen zu Gesicht bekommen. Bei Twitter wird den Nutzern Reklame als „bezahlte Tweets“ in die Timeline gespielt.
Branchenkenner sind der Meinung, dass das Twitter-Geschäftsmodell bereits vor Musk eine Geldverbrennungsmaschine war, unter Musk selber könnte es zum Heizkraftwerk werden. Für Banker keine guten Perspektiven. Dazu gehört ins Bild, dass Kommunikationsplattformen wie Twitter in Zukunft in Bezug auf ihre politisch-demokratische Gesinnung noch erheblich stärker unter öffentliche Kontrolle geraten werden. Und dafür eines Teams motivierter und geschulter Mitarbeiter bedürfen, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.
Musk stößt bei Twitter an seine Grenzen als Tycoon. Der Zustand des persönlichen Overstretching ist gefährlich nahe gerückt. Mit seinem kreativen Chaos und unkonventionellem Denken konnte er als Tesla CEO alte Branchen wie die Autoindustrie, oder die Luft- und Raumfahrt aufrütteln und durchschütteln, alte verkrustete Denkschemata – „Das haben wir immer so gemacht“ – aufbrechen.
Bei Twitter wird ihm das nicht gelingen. Twitter ist schon Neuzeit, da bleiben nur Personalentlassungen. Aber pleite wird Musk mit Sicherheit daran nicht gehen. Nur der Nimbus ist weg.