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Die unterschätzte Krise und das lange L

Statt die Krise als Chance für Neues zu begreifen, will man die alten Probleme durch noch mehr von den schon vor der Krise falschen Rezepten verlängern.

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Europa erlebe einen „ökonomischen Schock, wie es ihn seit der großen Depression“ in den 1930er Jahren nicht mehr gegeben habe, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni bei der Vorstellung der EU-Frühjahrsprognose. Für wie robust die EU-Kommission die Wirtschaft in Europa hält, zeigt sich in ihrer wenn auch mit „außergewöhnlich hoher Unsicherheit“ behafteten Vorhersage: Nach einer Schrumpfung um 7,7 Prozent soll die Wirtschaft bereits im nächsten Jahr wieder um 6 Prozent wachsen.

Schon vor einigen Wochen entwickelte der deutsche Sachverständigenrat in einem Sondergutachten ein ähnliches Szenario für die deutsche Wirtschaft. Als am wahrscheinlichsten stuften die Wirtschaftsexperten damals den, nun auch von der EU prognostizierten, V-förmigen Krisenverlauf ein. Demnach würde sich die deutsche Wirtschaft nach einem mehrwöchigen Lockdown bereits bis zum Sommer 2020 wieder erholen.

Als ungünstigstes Szenario sahen sie ein „langes U“ für den Fall, dass „die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus über den Sommer hinaus andauern“. Dann könnten auch die getroffenen Politikmaßnahmen „womöglich tiefgreifende Beeinträchtigungen der Wirtschaftsstruktur durch Insolvenzen und Entlassungen“ nicht verhindern und es seien „negative Rückkopplungen über die Finanzmärkte oder das Bankensystem“ möglich. Die wirtschaftliche Erholung würde dann erst im nächsten Jahr einsetzen können.

Die Einschätzung der Experten war von einer gehörigen Portion Optimismus getragen, denn als am Wahrscheinlichsten betrachteten sie eine für die Wirtschaft fast folgenlose Überwindung der Corona-Krise. Bemerkenswert ist, dass die Forscher sogar bei einem weniger glücklichen Krisenverlauf davon ausgehen, dass das von einigen gefürchtete L-Szenario vermieden werde. In diesem Fall würde die Wirtschaft nach dem wirtschaftlichen Einbruch über einen langen Zeitraum nicht wieder auf ihre bisheriges Wertschöpfungsniveau zurückfinden. Im Sachverständigengutachten zeigt sich eine gefährliche Unterschätzung der ungelösten Probleme, die die deutsche und europäische Wirtschaft bereits vor der Corona-Krise mit sich herumschleppten.

Weder V noch langes U

Der als abwegig erscheinende L-Verlauf der Corona-Krise ist bereits seit der Finanzkrise 2008 für viele EU-Länder bittere Realität. Nach dem tiefen Einbruch 2009 ging die wirtschaftliche Erholung Europas nur im Schneckentempo voran. Daran konnten auch die nach der Stabilisierung des Finanzsystems fortgesetzten und sogar kontinuierlich ausgeweiteten, billionenschweren fiskalischen und geldpolitischen Maßnahmen nichts ändern. Ein wirtschaftlicher Aufschwung kam nicht zustande. Fünf Jahre benötigte die EU, um den Rückgang des Bruttoninlandsprodukts (BIP), der im Rezessionsjahr 4,3 Prozent betragen hatte, auszugleichen und das Vorkrisenniveau wieder zu erreichen. In der Eurozone dauerte es sogar noch ein Jahr länger. Spanien und Portugal erreichten erst 2017 und 2018 wieder die frühere Wirtschaftsleistung. In Italien und Griechenland ist das Wachstum der letzten zehn Jahre sogar so schwach und von wiederholten Rückschlägen durchzogen, dass das BIP beider Länder vor dem Beginn der Corona-Krise noch immer weit unter dem Vorkrisenniveau lag.

Die Folgen dieser Misere sind in den südlichen Euroländern unmittelbar greifbar, beispielsweise in der anhaltend hohen Jugendarbeitslosigkeit. In Italien liegt sie bei 30 Prozent, in Griechenland bei 35 Prozent. Rechnet man diejenigen der 15- bis 24-Jährigen heraus, die sich zumindest im Bildungssystem befinden, liegt die sogenannte Neet-Arbeitslosenquote in beiden Ländern dennoch bei 19,2 bzw. 14,1 Prozent.

Deutschland konnte dieses Szenario mit einer schnellen Rückkehr auf das Vorkrisenniveau vermeiden. Der Wirtschaft kam damals zugute, dass die Unternehmen nach einer langen Schwächephase mit mehr als fünf Millionen Arbeitslosen im Jahr 2003 ihre Investitionen steigerten und ein konjunktureller Aufschwung im Gang war. Dieser wurde durch die Finanzkrise zwar unterbrochen, wirkte jedoch auch nach dem Durchschreiten des Krisentiefs nach. Nach der Rückkehr auf das Vorkrisenniveau sackte das Wachstum jedoch auch in Deutschland in sich zusammen. Nach zweijährigem Minimalwachstum von jährlich 0,3 Prozent erreichte es erst ab 2014 Raten von etwa zwei Prozent. Als Stützen dieses Wachstums fungieren der inländische Konsum und der durch einen schwachen Euro unterstützte Warenexport, während die Unternehmensinvestitionen schwach blieben.

Selbstheilungskräfte wirken nicht

Die Corona Pandemie trifft eine bereits geschwächte europäische Wirtschaft. Zudem hat sie ein größeres Potenzial als die Finanzkrise, die wirtschaftliche Substanz der Unternehmen nachhaltig zu schädigen. Bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie befand sich die Wirtschaft am Rand einer Rezession. Seit Anfang 2018 war die deutsche Industrieproduktion bereits um sechs Prozent gefallen und die Automobilindustrie, die seit Jahrzehnten die wirtschaftliche Konjunktur trägt, verzeichnete sogar ein Produktionsminus von 20 Prozent.

Von der Corona-Krise gehen – ähnlich wie bei der Finanzkrise 2008 – kaum Impulse aus, die der Wirtschaft nach dem Durchlaufen einer Rezession wieder von selbst auf die Beine helfen würden. Typische konjunkturelle Krisen, wie sie seit Ende der 1960er Jahre die Regel waren, entstehen, weil eine schwache Profitabilität der Unternehmen deren Bereitschaft und Fähigkeit zu neuen Investitionen schwächt. Das Wachstum lässt nach, aber die gleichen Ursachen, die in die Krise führen, sorgen für einen erneuten Aufschwung. Viele unprofitable Unternehmen müssen in einer solchen Krise nämlich aufgeben oder sich restrukturieren. Je nach schärfe der Krise kommt es zu einer mehr oder weniger kräftigen Entwertung des in den Unternehmen gebundenen Kapitalstocks. Die Profitabilität des verbleibenden Kapitals steigt und die Unternehmen sind – insbesondere, wenn sie starkem Wettbewerb ausgesetzt sind – zu verstärkten Investitionen in neue Technologien gezwungen, um gestärkt aus der Krise zu kommen.

Die Corona-Krise hingegen ist jedoch in erster Linie eine Liquiditätskrise, in der sich die für eine konjunkturelle Krise typischen Auftriebskräfte nicht automatisch einstellen. Liquidität und nicht Profitabilität ist nun das wichtigste Überlebenskriterium. Denn wenn Absatzmärkte oder Lieferketten zusammenbrechen, ist zunächst ein ausreichendes Finanzpolster existenziell. Vor allem kapitalintensive Unternehmen, deren Fixkosten sich nicht kurzfristig senken lassen, wie dies beispielsweise bei variablen Lohn- und Gehaltskosten möglich ist, kommen schnell in Liquiditätsklemmen. Das kann zu deren Zahlungsunfähigkeit führen. Oder es kann zu einem späteren Zeitpunkt eine Überschuldung eintreten, obwohl zwar genügend Liquidität vorhanden ist oder diese durch aufgespannte Rettungsschirme oder privates Geld nachgeschossen wird. Dann überstiegen die Schulden den Wert des Unternehmens, ebenfalls ein Fall für den Insolvenzverwalter.

Lufthansa und Co:
Corona wird große Konzerne stärken und die Wirtschaft noch politischer machen
Um beide Insolvenzgründe möglichst zu vermeiden, hat der Bundestag bereits sehr früh in der Corona-Krise die Insolvenzregeln außer Kraft gesetzt. Zudem übernimmt der Staat nun die volle Haftung für Liquiditätshilfen, die den Unternehmen als KfW-Kredite ausgezahlt werden. Die Corona-Krise trifft nicht selektiv Unternehmen, die ohnehin schon mit schwacher oder negativer Profitabilität in die Krise geraten sind, sondern eher bestimmte Branchen und Geschäftsmodelle, so etwa auch junge Unternehmen, die bisher noch keine Gewinne erzielen. Erst in zweiter Instanz sind ertragsschwache Unternehmen betroffen.

Staatliche Maßnahmen wirken daher zunächst völlig zurecht darauf hin, den Untergang von Unternehmen unabhängig von ihrer Profitabilität zu verhindern. Die pauschale Rettung der Unternehmen verhindert jedoch eine Kapitalentwertung, weswegen die die Profitabilität kaum positiv beeinflusst wird. Daher stellen sich bei der Corona-Krise nicht die für konjunkturelle Krisen typischen Selbstheilungskräfte ein. Stattdessen kommt es mit zunehmender Dauer sogar zu einer Auszehrung der wirtschaftlichen Substanz vieler auch bisher profitabler und wettbewerbsfähiger Unternehmen.

Nicht Dauerrettung: Restrukturierung

Bleibt es über den Verlauf der Krise bei dieser Ausrichtung der Rettungsprogramme, ist der heute als abwegig erscheinende L-Krisenverlauf schwerlich zu vermeiden. Die Folgen der Finanzkrise 2008 sind für viele europäische Länder so bitter, weil die europäischen Staaten nach der initialen Stabilisierung der Finanzmärkte nicht zu einem anderen Krisenmanagement übergangen sind. Anstatt auf europäischer Ebene eine gemeinsame Restrukturierung der Wirtschaft durchzusetzen und die guten – und vor allem neue – Unternehmen zu stützen, indem die unprofitablen aus dem Markt ausscheiden oder Betriebsteile schließen, ist staatliche Regulierung sowie die Wirtschafts- und Geldpolitik einseitig auf die Aufrechterhaltung defekter Geschäftsmodelle ausgerichtet worden.

Wie die vergangenen zehn Jahre zeigen, wurde zwar viel, viel Geld verbrannt – die Unternehmen haben jedoch nicht mit neuen Investitionen gezündet und die Geldpolitik ist inzwischen mit ihrem Latein am Ende. Bei vielen ist die Einsicht gewachsen, dass sie alleine keinen neuen wirtschaftlichen Aufschwung generieren wird. Schleichendes Siechtum wird so zur wirtschaftlichen Normalität. Das erkannte der ehemalige ifo-Präsident Hans-Werner Sinn bereits vor Jahren: „Die Schöpferische Zerstörung, die den Keim des neuen Aufschwungs legt, wird heute […] von den Zentralbanken der Welt verhindert, indem sie die Zinsen so tief und die Vermögenspreise durch den Kauf von Wertpapieren so hoch halten, dass die Blasen nicht mehr platzen, bzw. wenn sie platzen, die Rückkehr der Vermögenswerte auf ihr Normalniveau verhindert wird. […] Eine harte Krise wird damit zwar vermieden, doch rutscht die Wirtschaft stattdessen in ein schleichendes Siechtum und eine Dauerkrise.“

Die Chancen stehen auch in dieser Krise schlecht, dass sich nach der Stabilisierungsphase ein verändertes Krisenmanagement durchsetzt. Staatliche Institutionen sind zutiefst von einer konservierenden Orientierung geprägt, mit wirtschaftlicher Stabilisierung als oberster Prämisse. Disruptiver Wandel, der durch radikale technologische Innovationen oder durch konjunkturelle Krisen ausgelöst und befördert wird, gilt als Szenario mit unbekanntem Ausgang, das es unbedingt zu vermeiden gilt. Der Staat bedient damit jedoch auch die tiefsitzende gesellschaftliche Skepsis gegenüber Veränderung und den davon ausgehenden Risiken. Diese sich seit den 1960er Jahren ausbreitende staatliche Grundorientierung und die daraus resultierende Wirtschaftspolitik haben eine wirtschaftliche Erstarrung herbeigeführt, in der es selbst guten Unternehmen kaum mehr gelingt, technologische Durchbrüche im Markt durchzusetzen. Die Unternehmensinvestitionen sind in Deutschland wie auch in allen entwickelten Volkswirtschaften auf ein Niveau abgesackt, das nur noch mit der wirtschaftlichen Depression nach der Weltwirtschaftskrise vergleichbar ist. Die Arbeitsproduktivität, der wichtigste gesellschaftliche Wohlstandsindikator und gleichzeitig die Basis für Reallohnsteigerungen, steigt seit Jahrzehnten immer schwächer und stagniert inzwischen. Es ist eine Zombiewirtschaft entstanden, in der es den Unternehmen nicht mehr gelingt, den Lebensstandard der breiten Massen weiterzuentwickeln.

Nicht staatlicher Tropf: Profitabilität

Es zeigt sich schon im frühen Stadium der Corona-Krise, dass staatliche Institutionen und die Politik konsequent dem Stabilisierungsmantra folgen und erneut darauf setzen mit viel, viel Geld nicht nur eine wirtschaftliche Stabilisierung zu erreichen, sondern die wirtschaftliche Erholung mit noch mehr Geld ermöglichen wollen. Im Fokus steht erneut die Rettung und keinesfalls die schmerzhafte Restrukturierung der schwächsten Unternehmen sowie ganzer Branchen. Diese Herangehensweise schützt private Investoren und die Aktien- und Finanzmärkte, obwohl man sie politisch mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen begründet.

Krasses Unwissen in der Politik
Wachstum durch Schulden macht nicht krisenfest, sondern untergangsreif
So werden billionenschwere Konjunkturprogramme und Hilfen für Unternehmen vorbereitet, die darauf abzielen, den privaten Konsum zu stärken und darauf hinwirken, geschwächte Unternehmen notfalls auf Dauer zu subventionieren. Obwohl beispielsweise im Automobilsektor und in der Luftfahrtindustrie Überkapazitäten bestehen und eine Restrukturierung der Branchen erforderlich ist, zielen staatliche Aktivitäten auf Strukturerhalt ab. Es ist längst absehbar, dass der Automobilmarkt, ausgelöst durch die stagnierende Arbeitsproduktivität und die dadurch sinkende Massenkaufkraft in den entwickelten Ländern, schrumpfen wird. Zusätzlich wird die Erschwinglichkeit von Fahrzeugen für die breite Masse limitiert, weil die politischen Maßnahmen der letzten Zeit zu hohen Preisen für moderne Verbrenner führen und die Durchsetzung der Elektromobilität ein höheres Preisniveau für Autos bewirkt. Die Luftfahrtbranche wird Prognosen zufolge daran leiden, dass die Corona-Krise neuen Kommunikationswegen zum Durchbruch verholfen hat. Dennoch zielen milliardenschwere staatliche Rettungen von Condor und Lufthansa darauf ab, eine für die Aktionäre schmerzhafte Restrukturierung zu vermeiden. Statt der blinden Rettung von Unternehmen, noch dazu ohne Beteiligung der Eigentümer, muss das Ziel sein, sie so aufzustellen, dass sie nach Überstehen der Corona-Krise profitabel wachsen können und nicht auf staatliche Hilfen angewiesen sind.

Ein weiteres Indiz dafür, dass auch in dieser Krise erneut auf Dauer ‚gerettet‘ werden soll, sind die bisher kaum problematisierten Unternehmensanleihekäufe der EZB. Nachdem sie mit dem Beginn der Corona-Krise die Regularien geändert hat, kauft sie im großen Stil Unternehmensanleihen, um die Unternehmen mit Liquidität zu versorgen. Es steht zu befürchten, dass dies auch über die erste Phase der Corona-Krise aufrechterhalten wird und daraus – wie aus den aufgewendeten Billionen für den Kauf von Staatsanleihen – ein Dauerinstrument zur Finanzierung unprofitabler Unternehmen wird. So würde auch weiterhin sichergestellt, dass Zombieunternehmen nicht sterben können. Sie müssen überleben, weil staatliche Institutionen und die Politik die destabilisierenden Effekte, die deren Sterben verursachen könnte, mehr fürchten, als die verheerenden negativen Begleiterscheinungen – das vielleicht sogar lange L.


Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

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