Tichys Einblick
Kostal und andere

Die schleichende Deindustrialisierung Deutschlands und Europas

Die Berichte über Produktionseinschränkungen, Standort-Verlagerungen, Unternehmensaufgaben mehren sich. Grund dafür ist nicht zuletzt: Die Stromversorgung ist außerhalb Deutschlands und der EU stabiler und preiswerter.

Industrieanlagen von Evonik Industries in Godorf

IMAGO / Panama Pictures

Energiemangel, stark steigende Energiepreise und die CO2-Bepreisung, eine erdrückende EU-Regulierung und ausufernde nationale Bürokratie sind wesentliche Ursachen der Deindustrialisierung Deutschlands und Europas, die die Akademie Bergstraße dokumentiert:

„Die Ursachen sind vielfältig, können inzwischen aber nicht mehr einfach nur als ‚normaler Strukturwandel‘ abgetan werden. Energiemangel durch eine falsche Energiepolitik mit ungerechtfertigt hohem Vertrauen in die wetterabhängigen Umgebungsenergien Wind und Sonne bei fehlenden Groß-Speichern sowie stark steigende Energiepreise inklusive CO2-Bepreisung sind wesentliche Ursachen. Weitere Gründe sind zunehmende Lieferketten- bzw. Beschaffungsprobleme, eine erdrückende EU-Regulierung und ausufernde nationale Bürokratie. Hinzu kommen die Lohnkostenentwicklung als Folge der ultraexpansiven, inflationstreibenden Geldpolitik der EZB und der explodierenden konsumtiven Ausgaben des Staatshaushalts, die international gesehen hohe Steuer- und Abgabenlast und der jahrelang ignorierte Fachkräftemangel. Die vielfach selektiv den Standort Deutschland betreffenden Auflagen für die Industrie und das Handwerk lassen sich nicht klimapolitisch begründen. Denn durch abnehmende Investitionsbereitschaft der Industrie innerhalb Deutschlands und zunehmende Produktionsverlagerungen in Länder mit weniger Restriktionen und Auflagen werden größere Umweltschäden billigend in Kauf genommen.“

Es ist eine wachsende Liste von Industrieunternehmen, die die Akademie unter dem Stichwort Deindustrialisierung zusammengestellt hat. Und das jüngste, prominenteste Beispiel, der Autozulieferer Kostal, ist noch gar nicht dabei.

Kostal „will gleich an drei Standorten seine Produktion einstellen. Getriebeplatten, Lenksäulenmodule, Sitzverstellschalter und vieles mehr wird das Unternehmen aus dem Märkischen Kreis damit künftig vermehrt im Ausland produzieren. Nur so könne Schaden von der gesamten Kostal-Gruppe abgewendet und der Fortbestand als unabhängiges Familienunternehmen gewährleistet werden. Aber Hunderte Mitarbeiter stehen vor dem Aus“, schreibt die Wirtschaftswoche. Kostal gilt als wichtiger Zulieferer für die Automobilbranche in der Transformation hin zur Elektromobilität. Die Gruppe hat ihren Hauptsitz in Lüdenscheid, im westlichen Teil des Sauerlands, doch fühlt sie sich dort offenbar nicht mehr wettbewerbsfähig. Wegen der Vollsperrung der A45  und weiteren drohenden Sperrungen wegen Brückenschäden sei die Logistik nicht mehr zuverlässig genug, und das auf viele Jahre hinaus.

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Bereits im Juni 2022 meldete sich der Bürgermeister der Stadt Lüdenscheid zu Wort: Die Entscheidung von Kostal habe nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf gute Arbeitsplätze vor Ort, sondern gegebenenfalls auch auf die Produktion anderer Automobilzulieferer in der Region. Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung appellierte Bürgermeister Wagemeyer an die übergeordnete politische Ebene, also das Land Nordrhein-Westfalen und die Bundesregierung, den Blick ab sofort noch stärker auf Lüdenscheid und die Region Südwestfalen zu richten. Ob diese Empfehlung weiterhilft, mag man stark bezweifeln. Er warnte davor, dass Kostal nach Ungarn ausweicht, das sich „immer weiter von den demokratischen Werten der EU entfernt“ habe; ein plakativer Vorwurf der von eher begrenzter Weltsicht des Bürgermeisters spricht. Zudem werden die ungarischen Verkehrswege ausgebaut, nicht wegen wegen Baufälligkeit gesperrt.

Hellma Materials GmbH, Weltmarktführer bei der Produktion von wichtigen Ausgangsmaterialien für die Produktion von Halbleitern, investiert nicht mehr am ostdeutschen Standort Jena, sondern in Schweden. Der Grund: „Die stabile und kalkulierbare Energieversorgung ist für unser Unternehmen existentiell und hat zum Ausschlag für die Entscheidung wesentlich beigetragen“, so Thomas Töpfer, Geschäftsführer und Mitinhaber des Unternehmens. Statt am Heimatort Jena baut der Konzern nun in Schweden, weil Strom dort viel günstiger ist. 

Das Unternehmen wird wegen der hohen Energiekosten eine Papierfabrik im niedersächsischen Nortrup schließen. Das Unternehmen reagiert damit auch auf Lieferschwierigkeiten. Damit werden 70 Mitarbeiter des Familienunternehmens ihren Arbeitsplatz verlieren.

Im neuen Gaskraftwerk am Standort in Marl möchte das Unternehmen künftig Liquefied Petroleum Gas (LPG, überwiegend aus Butangas bestehen) statt Erdgas zur Energieerzeugung nutzen. Ferner wird Evonik in Marl ein Kohlekraftwerk weiterbetreiben, welches eigentlich im Jahr 2022 stillgelegt werden sollte. Einen Teil des Kostenanstiegs muss Evonik an Kunden weitergeben, worunter die internationale Wettbewerbsfähigkeit leiden kann. 

Europas größter Kupferproduzent, die in Hamburg ansässige Aurubis AG, will ihren Gasverbrauch minimieren und ihre erhöhten Stromkosten an die Kunden weitergeben. Dies hat der Vorstandsvorsitzende Roland Harings am 5. August 2022 angekündigt.

Der Präsident des Gesamtverbandes der Aluminiumindustrie Hinrich Mählmann sieht für sein Unternehmen, die Otto Fuchs Gruppe, keine Möglichkeit, Gas ohne Produktionskürzungen einzusparen. „Wir können nicht 15 Prozent einsparen, ohne die Produktion zu reduzieren“, sagt Mählmann am 1. August dem ARD-Morgenmagazin. „Das heißt, wir würden weniger ausliefern können.“ Die Folgen träfen dann etwa die Bauindustrie, die Automobilindustrie oder auch die Medizintechnik. „Wenn wir nicht zeitnah eine Lösung in der Energiekrise finden, wird es bald keine Aluminiumhütten mehr in Deutschland geben.“ Die Gründe sind also Energiepreise und Energiemangel. 

Bei der Aluminiumschmelze Slovalco in der Slowakei kommt es zu einem Produktionsstopp. Die Gründe sind Energiekosten sowie CO2-Kompensationskosten. Der Produktionsstopp ist also auch Folge der scharfen CO2-Minderungspolitik der Europäischen Union.

Am 16. August 2022 hat eine Zinkhütte in den Niederlanden wegen hoher Energiekosten die Einstellung der Produktion angekündigt. 429 Arbeitsplätze sind betroffen. 

Laut dem Stahlunternehmen Swiss Steel International darf sich ein Land wie Deutschland, das seine Wirtschaft nicht sicher mit Energie versorgen kann, nicht wundern, wenn es skeptisch beäugt wird. Dabei wirke schon der bloße Gedanke an Produktionsunterbrechungen abschreckend, schreibt die Neue Zürcher Zeitung am 13. August 2022. Kunden würden zunehmend Hersteller in Regionen meiden, in denen Strom- und damit Produktionsunterbrechungen „auch nur als Möglichkeit“ angesehen würden. 

Seit März 2022 ist das chemische Nickelbecken außer Betrieb. „Leider kann ich das  (Metallbauteile) im Moment nicht anbieten“, sagte Firmeninhaber Sönke Rickert dem Norddeutschen Rundfunk (NDR). „Das Bad wird bei 90 Grad Celsius geheizt. Da der Strompreis im Moment so immens gestiegen ist, ist es nicht rentabel für mich, dieses Bad weiter wirtschaftlich zu betreiben.“

Knapp 100 Beschäftigte verlieren ihren Arbeitsplatz. Das energieintensive Unternehmen hatte zuletzt insbesondere unter den immens steigenden Kosten für Strom und Gas gelitten.

schließt sein Stammwerk im saarländischen Mettlach zum Jahresende und will die gesamte Produktion in die Türkei verlagern: „Extrem hohe Kosten für Energie, Transporte, Verpackung und Rohstoffe sowie das hohe Lohnniveau in Deutschland machen die Produktion von Fliesen wirtschaftlich unattraktiv“, so eine Sprecherin des Unternehmens. 

fährt seit Herbst 2021 die Produktion um 50 Prozent herunter, in Hamburg um 75 Prozent. Grund für die Einschränkungen: Trimet könnte ohne die Produktions-Drosselung die Stromkosten nicht mehr begleichen. 

Summa summarum: Die Probleme in Deutschland sind größtenteils hausgemacht. Schon im Dezember 2021 – also weit vor vor dem Krieg gegen die Ukraine und hohen Gas- und Stromkosten – erklärte RWE-Chef Markus Krebber: Schon jetzt würden Industrieunternehmen ihre Produktion drosseln, um Stromangebot- und nachfrage in der Balance zu halten. „Wenn das zur Regel wird, riskieren wir eine schleichende Deindustrialisierung.“ Der Strompreis, so Krebber damals weiter, liege aktuell bei über 200 Euro je Megawattstunde – vor wenigen Jahren lag er noch bei um die 20 Euro. Der Gaspreis habe sich innerhalb weniger Monate vervielfacht. 


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