Die EZB und allen voran ihre Präsidentin, Christine Lagarde, gerieren sich in den letzten Wochen als Vorkämpfer gegen die Inflation. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos implizierte sie einen harten Kampf der Zentralbanken, denn die Inflation sei „nach allen Maßstäben viel zu hoch“. Möglichen Zweifeln begegnete sie mit der Behauptung, dass die EZB fähig sei, die Inflation wieder auf zwei Prozent zurückbringen und zwar „rechtzeitig“.
Auch Isabel Schnabel, EZB-Direktorin und Deutschlands mächtigste Währungshüterin, hat große Härte zur Überwindung der Inflation angekündigt, nachdem sie – wie die gesamte Führungsspitze der EZB – lange Zeit der Auffassung war, dass sich die Inflation von selbst wieder zurückbilden werde. Bei einer gegenwärtigen Inflationsrate von teilweise mehr als zehn Prozent, so Schnabel, könne man „von Preisstabilität wohl kaum sprechen“. Nun sei das Handeln der EZB entscheidend, denn die Inflation werde „nicht von selbst zurückgehen“.
Inflation beruht auf Verteilungskämpfen
Die Finanzmärkte feiern die Geldpolitik der Zentralbanken der vergangenen mehr als zwei Jahre. Sie haben zugelassen, dass die Inflation an Dynamik und Breite gewinnen konnte und nun Zweitrundeneffekte das Inflationsgeschehen prägen. Inzwischen ist die Kerninflation in den USA und in der Eurozone auf mehr als fünf Prozent angestiegen und verharrt auf diesem Niveau. Zudem entzündet sich der Verbraucherpreisanstieg an immer wieder neu aufflammenden Wellen ansteigender Erzeugerpreise.
Da die Zentralbanken kaum mit Zinserhöhungen gegensteuern, sondern mit niedrigen Zinsen die Kreditnachfrage und vor allem den Konsum sogar weiter befeuern, ist es den Gewinnern der Inflation – darunter vor allem den an den Börsen notierten Großunternehmen und Konzernen – gelungen, die entstandene Güterknappheit zur Durchsetzung ihrer Preisvorstellungen zu nutzen. Die von den Zentralbanken zugelassene Inflation hat den Zweck erfüllt, den günstiger positionierten Marktteilnehmern Preiserhöhungen zu erleichtern. So konnten sie höhere Kosten weitgehend überwälzen und in vielen Fällen ihre eigenen Margen auf Kosten schwächerer Marktteilnehmer erhöhen.
Die Inflation beruht im Wesentlichen auf Verteilungskämpfen, in denen sich die stärkeren Marktteilnehmer durch Preissetzungen durchzusetzen versuchen, wie der Ex-Chefökonom des Internationalen Währungsfonds Olivier Blanchard kürzlich auf Twitter erklärte. Die erkennbare Folge der von den Zentralbanken zugelassenen Inflation sind Rekordgewinne der an den Börsen notierten Unternehmen und Reallohneinbußen bei den Erwerbstätigen.
Rosige Aussichten für Vermögende
Die Finanzmärkte feiern jedoch nicht nur die schönen Resultate, die sie der Inflationspolitik der Zentralbanken verdanken, sondern auch die rosigen Aussichten. Die Akteure bezweifeln offenbar kaum noch, dass die Zentralbanken so weitermachen wie bisher, sie also die Zinsen so niedrig halten wie nur irgend möglich. Diese Einschätzung ist valide, denn der Druck auf die Zentralbanken, für niedrige Zinsen zu sorgen, ist wegen der sich in den vergangenen Monaten abzeichnenden Rezession und der zudem düsteren Wachstumsprognosen für die nächsten Jahre enorm gestiegen.
Zwar bescheinigt die Bundesbank, „dass das Finanzsystem in seiner aktuellen Verfassung die Auswirkungen des geldpolitischen Kurses verkraften und auch die Folgen der geplanten weiteren Straffung abfedern kann“. Daher würden „negative Rückkopplungen zwischen dem Finanzsystem und der Realwirtschaft“, die von steigenden Zinsen ausgehen, begrenzt bleiben.
Das Problem der Zentralbanken besteht darin, dass eine nur leichte Rezession, die durch steigende Zinsen verschärft würde, sich auch ohne Umweg über das Finanzsystem direkt auf die Unternehmen und die Staaten auswirken würde. Viele Unternehmen und auch Bürger, die nicht als Gewinner aus der aktuellen Inflationswelle hervorgehen, würde dies nach den Einkommensverlusten der letzten beiden Jahre noch weiter in die Bredouille bringen. In einem Dominoeffekt würden – wie seit der Finanzkrise 2008 üblich – den Staaten erneut enorme Lasten aufgebürdet werden, da sie sich dann gezwungen sähen, die von Subventionen abhängigen Unternehmen und ihre längst aus dem Ruder gelaufenen Sozialstaaten mit noch mehr Geld zu retten. In einem solchen Szenario wäre der Druck auf die EZB noch weit größer als heute. Sie müssten die über ihre Verhältnisse lebenden Staaten und auch solche, die wie Deutschland bisher auf Verschleiß gefahren sind, mit noch mehr Geld aus der Druckerpresse über Wasser halten. Zudem könnte die Inflation bei steigenden Staatsausgaben neue Nahrung erhalten.
Wie groß dieses Problem tatsächlich ist, lässt sich daran ermessen, dass die Zentralbanken in den entwickelten Volkswirtschaften bereits seit den 1980er Jahren eine expansive und asymmetrische Geldpolitik verfolgen. Zur Vermeidung und Dämpfung wirtschaftlicher Krisen senken sie die Zinsen und zur Stärkung der dennoch immer schwächer werdenden konjunkturellen Aufschwünge heben sie die Zinsen nicht wieder auf das frühere Niveau an, was im Lauf der Zeit zu negativen Zinsen geführt hat. Unternehmen und Staaten sind im Lauf der Jahrzehnte von niedrigen beziehungsweise inzwischen sogar negativen Realzinsen immer abhängiger geworden.
Die Finanzmärkte und mit ihnen die Vermögenden hingegen profitieren von niedrigen Zinsen und den vielen Billionen, die die Zentralbanken in die Finanzmärkte gepumpt haben. Denn diese Geldpolitik hat die Vermögenspreise im Verhältnis zu den zugrundeliegenden Werten, insbesondere bei Aktien und Immobilien, nicht nur aufgeblasen, sondern zudem das Platzen dieser Blase immer wieder verhindert.
Zentralbanken in der Einbahnstraße
Wegen der entstandenen Abhängigkeit der Staaten und der Wirtschaft von billigem Geld haben die Zentralbanken keine Wahl mehr und können ihren als alternativlos geltenden Pfad – den der Verhinderung wirtschaftlicher Krisen mit Hilfe niedriger Zinsen – nicht mehr verlassen. Sie befinden sich nicht etwa in einer Sackgasse, in der es die Möglichkeit der Umkehr geben würde, sondern in einer Einbahnstraße, wie Hans-Werner Sinn, der ehemalige Präsident des Ifo-Instituts, in seiner Weihnachtsvorlesung 2022 betont.
Rezession abgesagt
Zu der Erkenntnis, dass die Zentralbanken in ihrem geldpolitischen Handeln stark limitiert sind, kamen in den letzten Wochen Prognosen hinzu, wonach die Zentralbanken nicht mehr unter großem Druck stehen, der Inflation mit großer Härte entgegenzutreten. Die seit Herbst 2022 prognostizierte Rezession soll deutlich milder ausfallen als zuvor erwartet.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat die Rezession in seinem kürzlich vorgestellten Jahreswirtschaftsbericht sogar abgeblasen. Für die deutsche Wirtschaft, das Wachstumsschlusslicht in Europa, rechnet er mit einem Wachstum von 0,2 Prozent in diesem Jahr.
Der Hauptgrund für das globale Kursfeuerwerk, so Analysten, sei jedoch „die Hoffnung, dass die Inflation ihren Höhepunkt erreicht hat“. Die Finanzmärkte vermuten offenbar, dass sich die Inflation auch weitgehend ohne Zutun der Zentralbanken wieder zurückbildet. In einer gerade veröffentlichten Prognose rechnet die Commerzbank bis Ende des Jahres sogar mit einer Inflationsrate von nur noch knapp über zwei Prozent für den Euroraum („So geht es weiter mit der Inflation“, F.A.Z, 18.2.2023, S. 20). Unter diesen Prämissen können die Zentralbanken eine noch verhaltenere Inflationsbekämpfung als bisher leichter rechtfertigen. So könnten sie die, nach Einschätzung von Bundesbankpräsident Joachim Nagel, noch immer nicht restriktive Geldpolitik beibehalten und die Finanzmärkte mit niedrigen Zinsen weiter beflügeln.
Inflationstolerante Zentralbanken
Entgegen der an die Öffentlichkeit gerichteten Signale stellen die Zentralbanken längst die Weichen zur Tolerierung höherer Inflation. Mit der Verabschiedung ihrer neuen geldpolitischen Strategie, die von Lagarde angestoßen wurde, hat sich die EZB bereits im Juli 2021 mehr Spielraum bei der Inflation verschafft. Damals wurde das bisherige Inflationsziel von „unter, aber nahe zwei Prozent“ in ein „symmetrisches mittelfristiges Inflationsziel von 2 Prozent“ umgewandelt, wodurch die tolerierbare Inflation sehr dehnbar wird.
Längst ist offenbar eine Diskussion über die weitere Anhebung der Inflationsziele im Gang. So hielt es der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers für erforderlich, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sehr heftig auf Vorschläge von Wirtschaftswissenschaftlern wie den bereits erwähnten Blanchard zu reagieren. Blanchard hatte eine Anhebung der Inflationsziele der Zentralbanken von zwei auf zukünftig drei Prozent gefordert.
Die Finanzmärkte preisen die von ihnen zurecht erwartete taubenhafte Inflationsbekämpfung der Zentralbanken und die dementsprechend niedrigen und sogar negativen Realzinsen längst ein. Und sie erkennen auch, dass die Zentralbanken längst die Gewissheit verloren haben, die Inflation tatsächlich kontrollieren zu können. Nach Auffassung von Stefan Schneider, Chefvolkswirt von Deutsche Bank Research, sind die Zentralbanken über die weitere Inflationsentwicklung und die Wirkung ihrer geldpolitischen Maßnahmen selbst verunsichert. In den vergangenen Jahren, so Schneider, sei ihr „Vertrauen in die eigenen Inflations- und Wirtschaftsprognosen arg erschüttert“ worden. Die Zentralbanken könnten daher keine klaren Botschaften senden, was den Finanzmärkten den Spielraum gebe, die Zinssignale taubenhaft zu interpretieren.
Die Finanzmärkte jubilieren, weil das grimmige Szenario einer wirtschaftlichen Restrukturierung zu Lasten einer höheren Inflation verhinderbar scheint und den an den Börsen notierten Großunternehmen zugetraut wird, auch in einer Ära der Inflation ihre Profitabilität – notfalls auf Kosten anderer Marktteilnehmer – sichern zu können.
Für die Wohlstandsentwicklung ist es jedoch ein riesiges Problem, dass die Weichen in Richtung einer höheren und durch Zweitrundeneffekte immer wieder in Wellen neu aufflammenden Inflation gestellt werden. Denn wenn die Geldwertstabilität nicht sichergestellt ist, werden langfristige Entscheidungen aller Marktteilnehmer riskanter. Insbesondere die sinkende Bereitschaft, mit langfristigen Investitionen ins Risiko zu gehen, dürfte alle Wirtschaftsbereiche treffen. Der seit Jahrzehnten ununterbrochene Trend bei der Arbeitsproduktivität in den entwickelten Volkswirtschaften, die inzwischen praktisch stagniert, wird sich daher verfestigen. Da Wohlstandszuwächse ausbleiben, die Energiepreise aber auf lange Sicht hoch bleiben und sogar weiter steigen könnten, werden alle Marktteilnehmer umso stärker gezwungen sein, steigende Preise auf andere zu überwälzen. Die Zentralbanken haben eine Ära der Inflation eingeleitet.
Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.