Tichys Einblick
Unspektakulärer Gipfel

Die BRICS werden erwachsen

Begleitete den BRICS-Gipfel 2023 noch große Aufmerksamkeit aufgrund der Erweiterungspläne, stand das diesjährige Treffen in Kasan im Zeichen neuer Ernüchterung. Zwischen Erweiterungsstopp und langsamer Entdollarisierung entwachsen die BRICS ihrer unbeschwerten Jugend.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Alexander Nemenov

Die Crux mit der Berichterstattung über die BRICS-Konferenz in Kasan (22. bis 24. Oktober) ist, dass die meisten Artikel mehr über die Autoren der Artikel und deren Meinung aussagen als über die BRICS-Konferenz selbst. Auf der einen Seite gibt es jene, die blindlings große Hoffnungen auf die BRICS setzen, die Weltordnung neu und „gerechter“ zu gestalten, auf der anderen Seite eine Fraktion, die von einer Allianz der Schurkenstaaten und einer Propaganda-Show von Putler schreiben. Wer sich aber der Wahrheit annähern möchte, täte gut daran, Emotionen beiseite zu lassen, denn das im Vergleich zum Vorjahr ruhigere Treffen der BRICS bot aufmerksamen Beobachtern dennoch einige interessante Entwicklungen.

Das diesjährige Treffen in Kasan war das erste Treffen der auf neun vollwertige Mitglieder aufgestockten BRICS-Gruppe. Erstmals im Kreise der Mitglieder waren die seit Anfang des Jahres hinzugefügten Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und der Iran. Während Argentinien nach der Wahl von Javier Milei sich aus der Erweiterungsgruppe zurückzog, ziert sich Saudi-Arabien, das 2023 in den Kreis der Erweiterungsstaaten aufgenommen wurde, vor dem Hintergrund geopolitischer Spannungen zwischen dem westlichen Block rund um die USA und Russland und China noch mit einer vollwertigen Mitgliedschaft.

Das allerdings heißt nicht zwingend, dass der rasant steigende Stern der BRICS bereits wieder im Sinken befindlich ist. Mit der Türkei hat ein wichtiges NATO-Land den Beitritt zu den BRICS beantragt, der allerdings vorerst noch nicht bewilligt wurde. Gemeinsam mit zwölf anderen Ländern (Algerien, Weißrussland, Bolivien, Kuba, Indonesien, Kasachstan, Malaysia, Nigeria, Thailand, Uganda, Usbekistan und Vietnam) zählt die Türkei nun zu den offiziellen „BRICS Partnerländern“. Während es für diese Bemühungen prompt Schelte aus Brüssel gab (die EU zeigt der Türkei allerdings seit bald einem Vierteljahrhundert die kalte Schulter), zeigte sich NATO-Generalsekretär Mark Rutte diplomatisch und betonte, dass die Bemühungen Erdogans um eine BRICS-Mitgliedschaft in keinem zwingenden Konflikt zur NATO-Mitgliedschaft stünden. Ähnliches schwang in den Worten von Indiens Narendra Modi mit, als er meinte, die BRICS wären „nicht antiwestlich, sondern einfach nicht westlich“.

Vorerst keine weitere Aufnahme neuer Mitglieder geplant

Im Zuge der BRICS-Konferenz wurde wenig überraschend beschlossen, das Wachstum der BRICS einzubremsen und vorerst keine neuen Mitglieder aufzunehmen. Insgesamt haben fast 40 Nationen unterschiedlichster Hintergründe bereits Interesse an einer Mitgliedschaft bekundet, sodass in der ansonsten nicht immer einigen Staatengemeinschaft die Einsicht vorherrscht, dass solch eine plötzliche und drastische Erweiterung die BRICS wohl lähmen würde.

Bereits in den letzten Jahren wurde nämlich deutlich, dass weder Russland noch China die BRICS einfach zu ihrem Vehikel für ihre eigenen Agenden machen können, wie manche Beobachter es fürchten, oder auch wünschen. Vor allem Indien und Brasilien warnten bereits seit längerem davor, dass die BRICS sich zu einem rein chinesisch dominierten Gegenpol zum Westen unter Führung der USA entwickelten, sondern im Zuge der oft zitierten Multipolarität auch ihre Interessen und Befürchtungen Eingang in die Entscheidungen der BRICS fanden.

Was zunächst einmal demokratischer klingt, als man es einem Block zuschreiben möchte, in dem auch einige Autokratien eine gewichtige Rolle spielen, entpuppt sich aber auch als Hemmschuh bei der Umsetzung konkreter Pläne. Denn eines der zentralen Projekte der BRICS, die Entdollarisierung, geht zwar seinen naturwüchsigen Gang, doch die bereits vor Jahren angekündigte Einführung einer neuen goldgedeckten BRICS-Währung wird wohl noch lange auf sich warten lassen. Zwar erhielt Wladimir Putin eine symbolische Banknote der angedachten BRICS-Währung geschenkt, doch war dies wohl eher ein Versuch, ein visuelles Zeichen zu setzen, dass man auf diesem Gebiet nicht auf der Stelle tritt, als ein tatsächlicher Vorbote einer neuen Währung.

Das nimmt jedoch nicht weg, dass der Prozess der Entdollarisierung durch den zunehmenden Handel in Nationalwährungen weiter vorangetrieben wird. Auch BRICS Pay, eine dezentralisierte Alternative zum SWIFT-System, existiert bereits seit 2018, soll aber den Prozess der Abrechnung in Nationalwährungen in Zukunft vereinfachen. Es dauert einfach alles seine Zeit und nach wie vor herrscht bei den BRICS die Überzeugung, dass eben diese Zeit für sie spielt.

Viele Eigeninteressen und diplomatische Allgemeinplätze

Es darf aber davon ausgegangen werden, dass die Handlungsfähigkeit und Effizienz der BRICS weiter abnimmt, je mehr Staaten sich dem Wirtschaftsbündnis anschließen, da alle neuen Mitglieder auch neue Eigeninteressen in die Allianz mitbringen. Diese Eigeninteressen haben bereits in den letzten Jahren zu einer abnehmenden Dynamik der BRICS geführt. Indien, zum Beispiel, hat den Anspruch, vermehrt neben Russland und China als eigenständige Großmacht wahrgenommen zu werden. So legten Indien und China erst kurz vor der diesjährigen BRICS-Konferenz einen lange schwelenden Grenzkonflikt bei. Auch der Beitritt des Iran dürfte in dieser Hinsicht aufgrund vieler Verstrickungen alles andere als ein diplomatischer Selbstläufer sein.

Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese inneren Widersprüche – die man so ähnlich auch von der UNO kennt – bislang keinen Riss durch die BRICS gehen ließen, sondern tatsächlich ein Bemühen der beteiligten Nationen erkennbar ist, etwaige Differenzen diplomatisch beizulegen und das immer wieder von BRICS-Mitgliedern angeführte „Nullsummenspiel“ der westlichen Unipolarität zu überwinden.

— BRICS News (@BRICSinfo) October 23, 2024

Ein Nebeneffekt dieser Bemühungen ist eine gewisse Unbestimmtheit der Ergebnisse. Man spricht sich für Allgemeinplätze wie den Klimaschutz und das Wohl aller aus, doch der Weg dorthin dürfte von den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich verstanden werden. Ähnliches gilt für Begriffe wie der Einsatz für Demokratie, der aus dem Munde des chinesischen Drachen immer ein wenig befremdlich anmutet.

Aber auch Indiens Premier Modi sprach im Rahmen des BRICS-Gipfels Wladimir Putin seine Unterstützung bei der Beendigung des Krieges in der Ukraine aus. Wenige Monate zuvor hatte er noch Präsident Selenskyjs versichert, an der Seite der Ukraine zu stehen. Welche Konsequenzen diese Zugeständnisse abseits des diplomatischen Parketts haben, dürfte aber noch sehr die Frage sein, zumal Indien aufgrund des Boykotts des Westens gegen Russland einer der wirtschaftlichen Hauptprofiteure dieses Konflikts ist, da es sich nicht nur zum Hauptimporteur russischen Öls aufgeschwungen hat, sondern dieses Öl mit Profit auch an den Westen weiterverkauft.

Multipolarität ist nicht Omnipolarität

Einigkeit herrschte hingegen bei der Verurteilung Israels für dessen Kriegsführung im Gazastreifen. In einem dezidiert nicht-westlichen Bündnis dürfte dies zwar nicht überraschen, dennoch offenbart sich darin auch eine Schwäche der BRICS.

Denn lange Zeit schien es so, dass der Begriff der Multipolarität in Teilen der Öffentlichkeit fälschlicherweise als Omnipolarität verstanden wurde. Doch die Deckelung der BRICS macht auch deutlich, dass auch in einer multipolaren Welt Hierarchien und Abstufungen fortbestehen werden. Kritiker der BRICS werden für sich beanspruchen, dies schon immer gewusst zu haben, doch weitaus interessanter als diese Erkenntnis wird es sein, zu beobachten, wie dieser Vorgang sich in der Praxis gestalten wird. Vor allem Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und der Iran werden schon bald fordern, auch ihre Positionen und Interessen im Rahmen der BRICS vertreten zu sehen. Und sollte die Türkei den BRICS beitreten, kann man sich darauf verlassen, dass das Land, das selbst innerhalb der NATO als enfant terrible verschrieen ist, auch in der Allianz des globalen Südens seinen Platz an der Sonne einfordern wird.

All das bedeutet aber weder, dass die BRICS vor einem Zusammenbruch stehen noch, dass sie kurz davor stünden, die unipolare Weltordnung der USA in den Mülleimer der Geschichte zu befördern. Die zählbaren Resultate der BRICS zeigten, dass man auch in Peking, Moskau und Neu Delhi nicht das Universalrezept gepachtet hat, mit dem man die Nationen der Welt innerhalb kürzester Zeit unter einem Banner scharen kann, dass man aber bisher gewillt ist, auch den unspektakulären Weg weiter gemeinsam zu gehen. In einer Welt, die jede Form von Dialog gut gebrauchen kann, ist das auf jeden Fall ein willkommenes Zeichen.

Und was Wladimir Putin angeht: Natürlich präsentierte dieser sich als stolzer Gastgeber und ließ sich mit Staatschefs und dem UNO-Generalsekretär fotografieren. Niemand, der sich ernsthaft mit Politik befasst, konnte davon ausgehen, dass Putin isoliert sei, wie in der westlichen Presse oftmals behauptet wurde. Und natürlich hielt Putin auch jene Reden, für die er mittlerweile so bekannt ist, in denen er – ob nun zu Recht oder zu Unrecht – die USA und den Westen für ihre Hegemonialpolitik verurteilte. Nichts davon durfte überraschen und sollte daher als das gesehen werden, was es tatsächlich war: Futter für die Presse, nicht mehr, nicht weniger.

Über das, wo die BRICS zu diesem Zeitpunkt tatsächlich stehen, sagte dies freilich wenig aus. Das konnte man vielmehr zwischen den Zeilen aus den unspektakulären Entscheidungen herauslesen. Zieht man dies in Betracht, könnte man fast sagen: Die BRICS werden langsam erwachsen.

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