Tichys Einblick
Deutschland im Deindustrialisierungs-Modus

Der Abstieg vom Wohlstandsgipfel hat begonnen

Der hoch industrialisierte Standort Deutschland wird sein bisheriges Industrialisierungsniveau und den daran geknüpften Massen-Wohlstand nicht halten können. Dagegen hilft auf Dauer auch kein x-Wumms in Form steigender, schuldenbasierter staatlicher Rettungspakete.

IMAGO

Siemens feierte vor wenigen Tagen in Berlin sein 175-jähriges Gründungsjubiläum als Industriekonzern. Im globalen Rundumvergleich und vor dem Hintergrund der turbulenten deutschen Geschichte in den letzten zweihundert Jahren fürwahr ein bemerkenswertes Ereignis. In Deutschland allenfalls noch getoppt vom Sanitär- und Porzellan-Unternehmen Villeroy und Boch aus Mettlach an der unteren Saar (als Saarland-Botschafter sei dem Autor dieser Hinweis gestattet).

Für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) war dieser Festakt ein Symbol für die lange Tradition deutscher Ingenieurskunst, der das Land wirtschaftliches Gewicht und Wohlstand zu verdanken habe. Und die zur Folge hatte, dass „die Gummihälse“ – so die liebenswerte Schweizer Benennung der Nachbarn im Norden – unter allen Industrieländern mit fast 30 Prozent auch im 21. Jahrhundert immer noch den höchsten Industrieanteil an der jährlichen Wertschöpfung (Bruttoinlandsprodukt) haben. 

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Aber so richtig zum Feiern war der illustren Berliner Festgemeinde nicht zumute. Derzeit dominiert eher Katzenjammer als Stolz, wenn die Rede auf die deutsche Volkswirtschaft im Allgemeinen und die Industrie im Besonderen kommt. Bezeichnend dafür ist ein Statement des Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, der nur wenige Tage zuvor verlautbarte, dass es in den nächsten Wochen „um nichts weniger (geht), als das Überleben der Industrie in Deutschland und Europa zu sichern“.

Noch düsterer waren bei der gleichen Veranstaltung die Visionen der Deutschen Bank: „Wenn wir in … zehn Jahren auf die gegenwärtige Energiekrise zurückblicken werden, könnten wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland betrachten“ (NZZ). Erste Einzelfälle scheinen den Beginn der Deindustrialisierung zu bestätigen, so die Ankündigung des Stahlkonzerns Arcelor Mittal, die Produktion in seinem Bremer Stahlwerk vorerst zu reduzieren, oder das Insolvenzverfahren des Hygienepapierherstellers Hakle.

Das Gespenst der Dindustrialisierung geht um

Sind das nur anekdotische Einzelfälle oder haben Ukraine-Krieg und die Perspektive dauerhaft deutlich höherer Energiepreise für die deutsche Volkswirtschaft den Abstieg Deutschlands als Industrienation eingeleitet? Natürlich ist das Thema zu komplex, um aus einzelnen Unternehmensentwicklungen heraus auf diese Frage eine einfache Antwort zu finden. Und die einfache Antwort lautet – in Anlehnung an Marx und Engels: Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Deindustrialisierung.

Drei Fragen stehen im Mittelpunkt:

  1. Was bedeutet Deindustrialisierung? Was ist daran anders, bedenklicher, als früher in den Lehrbüchern beschrieben?
  2. Warum ist gerade Deutschland im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn davon besonders stark betroffen?
  3. Wie kann man die Anpassungsschmerzen der Umgewöhnung an veränderte Rahmenbedingungen lindern?

In den Lehrbüchern war der Begriff stets positiv belegt. Deindustrialisierung wurde dort in der Regel als schleichender Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft definiert. Strukturwandel als Ursache wie Wirkung im wirtschaftlichen Wachstumsprozess in Richtung auf ein höheres Wohlstandsniveau der Gesellschaft: Man konnte sich mehr Dienstleistungen „leisten“, banal gesprochen: mehr Frisörtermine, mehr Restaurantbesuche. 

Arbeitskräftemangel
Deutschland funktioniert nicht mehr – die Auswirkung
Hierbei kommt es zu einer Abnahme der Beschäftigten im Industriesektor und einer gleichzeitigen Zunahme der Beschäftigung im Dienstleistungssektor. Die alten „Rost“-Industrien verlieren an volkswirtschaftlicher Bedeutung, zum Beispiel Kohle und Stahl, neue Dienstleistungsunternehmen wie im IT-Bereich, der Logistik oder der öffentlichen Verwaltung prosperieren und wachsen stark.

Diese strukturelle Verschiebung der volkswirtschaftlichen Produktion weg aus der indsutriellen Fertigung hin zum Dienstleistungssektor erfolgt in der Regel ohne große Friktionen. Zwar bewirken die Produktionsverlagerung und die Stilllegung von Werken einerseits eine Zunahme der Arbeitslosigkeit sowie einen Rückgang der Wertschöpfung im Industrie-Sektor. Häufig ist damit auch ein Verfall von Städten und Regionen verbunden, wie zum Beispiel in Detroit beim Schwinden der US-Autoindustrie im Norden der USA und Verlagerung in den Süden in Richtung Mexiko. Auf der anderen Seite wachsen Wirtschaft und Wohlstand weiter, „blüht neues Leben aus den Ruinen“ durch neue Technologien und Dienstleistungen, neue Geschäftsfelder im IT-Bereich etc.

Die heutige Situation der deutschen Wirtschaft ist anders. Bedingt durch die plötzliche Preishausse beim Produktionsfaktor Energie läuft in weiten Teilen der gewerblichen Wirtschaft, Schwerpunkt Verarbeitende Industrie sowie Handwerk und Gaststättengewerbe, die Kostenkalkulation völlig aus dem Ruder, muss die konsekutive und unvermeidbare Anpassung aller Kosten- und Marktstrukturen im sekundären Sektor ohne kompensierendes Wachstum im Dienstleistungsbereich stattfinden. Die Deindustrialisierung setzt ein – das Bruttoinlandsprodukt schrumpft.

Warum ist gerade Exportweltmeister Deutschland betroffen?

Auslöser für den Deindustrialisierungsprozess ist vor allem die durch den Ukraine-Krieg und den Stopp der russischen Gaslieferungen ausgelöste Verteuerung sämtlicher Energieträger (Erdgas, Erdöl, Strom) bis auf das Fünffache des Niveaus von 2021. Hinzu kommen ausbleibende Rohstoff- und Teile-Lieferungen durch nachhaltige Störungen des globalen Liefernetzwerks. Da die Unternehmen versuchen, die Kosten zu überwälzen, führt der Kostenpush zu einem gewaltigen Preis-, sprich Inflationspush in der gesamten Volkswirtschaft. Kommt es dann, wie sich gegenwärtig in der Metallindustrie und im Öffentlichen Dienst mit 13 Prozent Lohnsteigerung abzeichnet, zu einer Preis-Lohn-Preis-Spirale, ist der Inflation Tür und Tor geöffnet. Eine Stabilisierungsrezession ist unvermeidlich, je schneller sie kommt, desto besser.

Arbeitskräftemangel
Deutschland funktioniert nicht mehr – die Gründe
In Folge sinken die Realeinkommen der Erwerbstätigen und Konsumenten auf breiter Front, in Deutschland im Jahr 2023 schätzungsweise um mindestens 5 Prozent. Als Konsequenz bricht der reale private Verbrauch, der 60 Prozent des BIP ausmacht, in vergleichbarer Größenordnung ein.

Das Ergebnis ist fatal! Der hochindustrialisierte Standort Deutschland wird sein bisheriges Industrialisierungsniveau und den daran geknüpften Massen-Wohlstand nicht halten können. Dagegen hilft auf Dauer auch kein x-Wumms in Form steigender, schuldenbasierter staatlicher Rettungs- und Sozialausgaben-Pakete in Milliardenhöhe. Das hilft den bedrängten Unternehmen und Haushalten zwar im Winterhalbjahr 2022/23, aber was ist 2023/24? Umbau und Anpassung der Wirtschaft an veränderte weltwirtschaftliche Rahmendaten müssen nachhaltig sein, dafür brauchte es einen Masterplan, kein egozentrisches Parteiprogramm.

Warum ist im internationalen Kontext vor allem der Exportweltmeister Deutschland so stark betroffen? Dazu ein kleiner Abstecher in die volkswirtschaftliche Theorie.

In Grobgliederung besteht eine Volkswirtschaft aus drei Sektoren:

Unter der Prämisse, dass Energie in Zukunft ein knappes und teures Gut bleiben wird, egal ob Erdgas, Erdöl, Strom, Wasserstoff, Benzin, Diesel etc., ergeben sich für den Industriestandort sowie die Wirtschaftsstruktur Deutschlands zwei wesentliche Konsequenzen, je nachdem

Zu unterscheiden ist also zwischen den Sektoren und Branchen,

Betroffen von der Explosion der Energiepreise sind sie alle, entweder direkt oder indirekt. Am meisten trifft es weite Teile des Dienstleistungsbereichs, hier weniger die industrienahen Dienstleister (Kanzleien, Unternehmensberatung etc.) als vielmehr die konsumnahen Unternehmen (Bau, Handwerk sowie Hotel- und Gaststättengewerbe etc.). Im tertiären Sektor resultiert der struggle for survival/Anpassungslast nicht vom scharfen internationalen Kostenwettbewerb, sondern von dem Spielraum, die Kostensteigerungen in den Preisen an die Verbraucher zu überwälzen.

Amtlich dokumentiert ist, dass 2022/23 die Energie-und Rohstoffpreishausse zum einen zu schrumpfenden Realeinkommen bei den Konsumenten und dadurch sinkender Konsumnachfrage und erhöhtem Wettbewerb um Marktanteile führt. Zum anderen sehen sich einzelne Gewerbe und Handwerker mit zum Teil so dramatischen Kostensteigerungen (zum Beispiel Bäcker, Metzger, Molkereien, Gasthäuser etc.) konfrontiert, die sie nur zum Teil im Preis an ihre Kunden weitergeben können. Die spezifische Einkommens- wie Preiseleastizität der Nachfrage bestimmt das Schicksal dieser Betriebe. Am schlimmsten werden sie getroffen, wenn bei ihren Kunden die Einkommen schrumpfen und gleichzeitig deren Preissensibilität sehr hoch ist.

Es kommt zum dauerhaften Wohlstandsverlust

Das Ergebnis ist fatal! Einerseits werden durch die Überwälzungsversuche der Produzenten und Anbieter die Inflation angeheizt und die Realeinkommen schrumpfen zusätzlich. Andererseits gehen viele kleine Handwerksbetriebe (Bäcker) und Kneipen in Konkurs, denen dennoch die Überwälzung der gestiegenen Kosten nicht gelingt. Es folgt die Insolvenz, der Handwerks- und Gastro-Sektor schrumpft! Und damit auch das Wachstums- und Wohlstandsniveau Deutschlands. Das, was als konjunkturelle Rezession und Einkommenseinbruch 2022/23 stattfindet, wird zum dauerhaften Wohlstandsverlust. Oder wie der Kölner zu sagen pflegt: Fott is fott!

Zum 125. Geburtstag
Ludwig Erhard führte Deutschland aus den Ruinen zum Wohlstand
Das mag für eine deutsche Wohlstandsgesellschaft im Durchschnitt hinnehmbar sein, solange das Niveau noch immer vergleichsweise hoch bleibt. Und die realen Verluste sozial gerecht aufgeteilt werden. Von größerem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gewicht ist der Energiekostendruck in der deutschen Industrie, die sich extrem arbeitsteilig bekanntlich voll im internationalen Wettbewerb befindet.

Warum ist ausgerechnet die deutsche Volkswirtschaft besonders von der Verschlechterung des weltwirtschaftlichen Umfeldes betroffen? Zur Vorwarnung des Lesers sei gesagt, dass nachfolgende Überlegungen auf einer einfachen, holzschnittartigen und groben Klassifizierung der Weltwirtschaft beruhen; alle wissenschaftlichen Winkelzüge und Ausnahmen werden beiseitegelassen.

Legt man für das Modell der Weltwirtschaft folgende volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren Boden/Rohstoffe/Energie, Arbeit, Kapital, technischer Fortschritt/Wissensniveau, Dienstleistungen zugrunde, so ergibt sich folgende grobe Klassifikation der heutigen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung nach Länder-Schwerpunkten:

  1. Länder mit überwiegendem Rohstoff und Energieaufkommen = Bergbau/Grunstoffindustrien/Energieförderung
  2. Länder mit überwiegender industrieller Massenproduktion = Fabrik
  3. Länder mit überwiegend industrieller Veredelungs- und Spezialitätenproduktion = Boutique
  4. Länder mit Spezial-High-Tech-Produktion und Dienstleistungen = big money and security

Die Grenzen zwischen den Ländern sind fließend, kein Land verfügt ausschließlich über bestimmte Ressourcen oder Knowhow. Nach einem groben Schema wären schwerpunktmäßig folgende Regionen zuzuordnen: 1. Sämtliche südlichen rohstoff- und energiereichen Schwellen- und Entwicklungsländer; 2. Asien, an der Spitze China; 3. Europa; 4. USA.

Deutschland betreibt seit eh und je eine Boutique und zählt mit zur Spitze der europäischen Veredelungs-, Tüftler- und Spezialitäten-Produzenten. Es ist der Flagstore unter den europäischen Boutiquen-Ländern. Deutschland hat kaum Rohstoffe und verfügt lediglich über umweltpolitisch verpönte und überdies auch in zu geringen Mengen vorhandene fossile Energieträger, neben einer begrenzten Menge an Atomstrom. Ein hoher Energieanteil muss importiert werden. Allerdings: 50 Prozent der notwendigen Energie, um so einen kapitalintensiven volkswirtschaftlichen Kapitalstock zu betreiben, stammen inzwischen aus erneuerbaren Quellen, Tendenz steigend.

Dem deutschen Geschäftsmodell wurde über Nacht der Boden entzogen

Der eigentliche Rohstoff der deutschen Volkswirtschaft sind Wissen, Knowhow und hohe Innovationsbereitschaft und -fähigkeit. Noch immer gilt der alte Spruch: “Innovation, das sind 10 Prozent Inspiration und 90 Prozent Transpiration!“ Aufstrebende Nationen in Asien wie Südkorea und China sind dabei in großen Schritten aufzuholen – mit hohem persönlichen Einsatz.

Das deutsche Geschäftsmodell basierte 70 Jahre lang erfolgreich auf dem Import billiger Roh- und Energiestoffe, deren Veredelung und Export als teure Spezialitäten in alle Welt. Mit hohen Einnahme- und Handelbilanzüberschüssen. Der Erfolg dieses Geschäftsmodells setzte freien Wettbewerb auf allen Märkten, politisch unbehinderte Importe wie Exporte und stets verfügbare preiswerte Rohstoff- und Energieimporte voraus. Erfolgsgaranten waren andererseits hohe Qualität und Zuverlässigkeit deutscher Produkte (Made in Germany) und der stete Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Mitbewerbern auf dem Weltmarkt.

Die sich abzeichnende neue geopolitische Zweiteilung der Welt in einen demokratischen und einen autoritären Wirtschaftsblock, vor allem aber der Ukraine-Krieg mit dem plötzlichen Ausfall einer ausreichenden und vor allem preiswerten Versorgung mit Energie in jeglicher Form, hat dem deutschen Geschäftsmodell über Nacht den Boden entzogen.

Kostenvorteile sinken, Nachteile bleiben
Strompreise killen den Boom der Elektro-Mobilität
Das gesamte in 70 Jahren „erarbeitete“ Wirtschafts- und Wohlstandswachstum als Veredelungswirtschaft basiert auf einer gesicherten, preiswerten und international wettbewerbsfähigen Energie- und Rohstoffversorgung, zum Beispiel an Lithium, Speicherchips und Batterien für Elektroautos. Am Weltmarkt billig einkaufen statt mühsam selber herstellen, das war die Philosophie der deutschen Wirtschaft (Michael Hüther, Präsident IW Köln). Wachsende Energiebedarfe wurden durch Erdgas und Rohölimporte überwiegend aus Russland oder durch Import von Atomstrom aus Frankreich gedeckt.

Diese lebenswichtigen Importe sind durch den Putin-Krieg völlig überraschend ausgefallen und haben zu explodierenden Energiepreisen und an die Existenzgrundlage geführt. In der Bibel heißt es dazu bei ähnlicher Gelegenheit: “Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren“ (1. Mose 3,7).

Die Folgen für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigungsniveau in Deutschland und damit für den gesamten Wohlstand sind aus heutiger Sicht düster. Aber die Geschichte lehrt, dass nichts bleibt, wie es ist: Es wäre fatal, den heutigen Zustand auf alle Zeiten hochzurechnen. Deutschland wird sich anpassen, aber das dauert.

Womit ist im Einzelnen kurzfristig zu rechnen?

Grundannahme ist, dass Energie in Deutschland nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft knapp und teuer bleiben wird. Und dass die Inflationsrate, die aktuell in Deutschland bei über 10 Prozent liegt, einige Jahre das Zwei-Prozent-Ziel deutlich verfehlen wird – vorausgesetzt, die EZB will und kann eine sich selbst beschleunigende Preis-Lohn-Inflation auf Kosten einer Rezession stoppen. Eine Rückkehr zum alten Preisniveau 2021 muss ausgeschlossen werden. Aus aktuellen Realeinkommensverlusten werden dauerhafte.

Hinzu kommt, dass bereits 2023 eine zusätzlich hausgemachte Verknappung des Stromangebots durch Abschaltung der restlichen drei AKW und Stilllegung von Kohlekraftwerken politisch fest beschlossen ist. Die sichere Grundlastversorgung der Industrie mit Strom wird so aus ideologischen Gründen weiter ausgedünnt, der Zubau an volatilem Stromangebot durch erneuerbare Energieträger aus Sonne, Wind und Wasser kann den Rückbau bei weitem nicht kompensieren. Der Zukauf aus anderen Quellen ist teuer, teurer jedenfalls als das Russengas.

„Wohlstand Ade – Scheiden tut weh“
Das deutsche Wohlstandsmodell ist Vergangenheit
Dieses Szenario zeitigt drastische konjunkturelle wie vor allem langfristig strukturelle Folgen. Die jüngsten Statistiken zeigen, dass die deutsche Industrieproduktion bereits schrumpft und die einstigen deutschen Außenhandelsbilanz-Überschüsse weitgehend weggeschmolzen sind, nicht zuletzt wegen hoher Ausgaben für Energieimporte. 

Die Bremsspuren im deutschen Außenhandel sind unübersehbar. Lag der deutsche Exportüberschuss (nominaler Anteil am BIP) 2019 noch bei 6,2 vH (Peak 2015 8,2 vH), so ist er inzwischen auf 2,9 vH abgeschmolzen (2023: Prognose 2,7 vH). Zwar sind deutsche Exportschlager wie Autos und Maschinen im Ausland weiterhin gefragt, dank der hohen Ausgaben für Energie- und Rohstoffimporte schmelzen die Überschüsse aber dahin.

Besonders kritisch wird es aber dann, wenn die großen energieintensiven Branchen wie Chemie, Kunststoffe, Pharmazie und Stahl angesichts des aktuell hohen Energiekostennachteils im Vergleich zum Ausland, zum Beispiel China und USA, ihre Produktion als erstes dorthin umverlegen, später bei bleibenden Kostenunterschieden dann dauerhaft dorthin verlagern und vollständig aus Deutschland abziehen. Das wäre dann Deindustrialisierung pur!

Die erste Stufe dieses Prozesses läuft. Der Internationale Währungsfonds erwartet in seiner jüngsten Prognose, dass Deutschland und Italien 2023 als einzige Staaten der Euro-Zone ein negatives Wirtschaftswachstum aufweisen werden. Vieles spricht dafür, auch Wirtschaftsminister Habeck selber spricht von kommender Rezession. Das BIP wird 2023 in Deutschland schrumpfen, wenn es gut läuft, nur um ein halbes Prozent (- 0,4 Prozent)

Einschneidender für die Wohlstandsgesellschaft als der bevorstehende konjunkturelle Einbruch ist der unumgängliche strukturelle Umbruch in der gesamten deutschen Wirtschaftslandschaft, nicht nur in der Industrie, auch beim Bäcker um die Ecke: Auf dem Prüfstand steht das Geschäftsmodell der deutschen Volkswirtschaft.

Es geht vor allem darum, welche Lehren die Politik und Gesellschaft dauerhaft aus der aktuellen Krise ziehen. Grundsätzlicher muss man feststellen: Deutschland ist anfälliger für Störungen im weltwirtschaftlichen Getriebe als alle übigen hochentwickelten Volkswirtschaften.


Die mobile Version verlassen