Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nebst den inzwischen verhängten Wirtschafts- und Finanzsanktionen des Westens gegenüber dem Russischen Regime treffen die deutsche Wirtschaft hart. Betroffen sind zum einen der freie Warenaustausch mit Investitions- und Konsumgütern von und nach Deutschland. Zum anderen aber, und für die Wertschöpfung in Deutschland entscheidend, die bis zum Kriegsausbruch störungsfreien Lieferketten mit produktionsnotwenigen, strategischen Vor- und Zwischenprodukten für die heimische Produktion. So wie eine ungestörte und ungeschmälerte Belieferung wichtiger Energieträger Erdgas, Erdöl und Kohle.
Keinen Niederschlag in der amtlichen deutschen Statistik über Außenhandel und Industrieindikatoren wie Auftragseingang und Produktion finden die potentiellen Verluste an Sachvermögen, die einzelne deutsche Unternehmen in Fabriken und Unternehmen in Russland und der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dort investiert haben.
Doch dieser Blick täuscht! Russland zählt mit einem Anteil von 2,3 vH am deutschen Außenhandel insgesamt zu den 15 wichtigsten Handelspartnern Deutschlands im Jahr 2021. Außerhalb der Europäischen Union war Russland 2021 für Deutschland der viertwichtigste Importpartner sowie der fünftwichtigste Abnehmer deutscher Waren. Zum Vergleich: Den größten Teil ihres Handels außerhalb der EU treibt die Bundesrepublik mit der Volksrepublik China (9,5 %) gefolgt von den USA (7,5 %). Demgegenüber ist der Anteil der Ukraine mit 0,4 vH niedrig, und rangiert noch hinter Luxemburg, Griechenland und Bulgarien.
Zunächst ein Blick auf die Russische Föderation (Quelle: Statistisches Bundesamt-Destatis):
Der Handel zwischen Deutschland und Russland hat im Jahr 2021 gegenüber dem ersten Pandemiejahr 2020 wieder deutlich zugenommen: Der Außenhandelsumsatz nahm mit 59,8 Milliarden Euro um 34,1 % gegenüber dem Vorjahr zu, Waren im Wert von 33,1 Milliarden Euro wurden importiert, der Export dorthin belief sich auf 26,6 Milliarden Euro.
- Im Gegensatz zum Vorjahr überstiegen die Importe wieder die Exporte. Mit 6,5 Milliarden Euro zählte Russland 2021 damit zu den wenigen Ländern, mit denen Deutschland ein Außenhandelsdefizit aufwies, gefolgt von Vietnam, Norwegen, Irland und Spitzenreiter China mit -38,1 Milliarden Euro
- 2021 legten vor allem die Importe mit +54,2% kräftig zu. Der Wert der Exporte nahm dagegen mit lediglich +15,4 % zu. Lediglich in 2020 hatte Deutschland erstmals seit 1993 aufgrund sinkender Rohöl- und Erdgasimporte einen Exportüberschuss erzielt.
- Zwischen Russland und Deutschland werden primär Rohstoffe, Fahrzeuge und Maschinen gehandelt. Deutschland importierte 2021 vor allem Erdöl und Erdgas im Wert von 19,4 Milliarden Euro – das war ein Zuwachs um 49,5 %. Erdöl und Erdgas machen 59 % aller deutscher Importe aus Russland aus. Außerdem lieferte Russland vor allem Metalle (4,5 Milliarden Euro, +72,1 % gegenüber 2020), Mineralöl- und Kokerei-erzeugnisse (2,8 Milliarden Euro, +23,0 %) sowie Kohle (2,2 Milliarden Euro, +153,0 %) nach Deutschland.
- Dagegen exportierte Deutschland im Jahr 2021 vor allem Industrieprodukte, so Maschinen (5,8 Milliarden Euro, +5,7 %), Kraftwagen und Kraftwagenteile (4,4 Milliarden Euro, +31,8 %) sowie chemische Erzeugnisse (3,0 Milliarden Euro, +19,7 %).
- Die Verflechtungen zwischen deutschen und russischen Unternehmen sind auf einem ähnlichen Niveau wie der Außenhandel. 1,9 % des Umsatzes aller auslandskontrollierten Unternehmen in Deutschland erwirtschafteten im Jahr 2019 jene mit Hauptsitz in Russland. Umgekehrt wurden 2019 nach Angaben der Deutschen Bundesbank 472 Unternehmen in Russland von deutschen Investoren kontrolliert. Diese beschäftigten knapp 129 000 Menschen und erwirtschafteten einen Jahresumsatz in Höhe von gut 38,1 Milliarden Euro. Dies entspricht einem Anteil von 1,5 % des weltweiten Jahresumsatzes, den Unternehmen deutscher Investoren 2019 im Ausland erzielten. Zum Vergleich: 21,1 % dieses weltweiten Umsatzes von Unternehmen deutscher Investoren entstand in den USA (545,4 Milliarden Euro).
Diese Zahlen täuschen über die eigentliche Brisanz hinweg. Deutsche und europäische Hersteller haben Milliarden in Russland investiert. Die ergriffenen Sanktionen für Russland treffen auch die deutsche Industrie empfindlich. Im Brennpunkt stehen die Automobilhersteller und Zulieferunternehmen.
- Die beste Zeit erlebte die russische Automobilindustrie vor zehn Jahren: 2012 produzierten die Hersteller in Russland rund zwei Millionen Pkw und weitere 265.000 Nutzfahrzeuge.
Knapp zehn Jahre später hat die Industrie mehr als ein Fünftel ihrer Produktion eingebüßt: 2019 waren es gerade noch 1,5 Millionen Pkw und etwa 200.000 Nutzfahrzeuge. (Quelle: Automobilwoche)
- Am stärksten betroffen ist VW. Der Volkswagen Konzern hat zwischen 2006 und 2021 in Russland mehr als zwei Milliarden Euro investiert, davon eine Milliarde allein in das Werk Kaluga. 4000 Mitarbeiter bauten dort in 2021 118.000 Fahrzeuge, so die Modelle Polo, Tiguan und Skoda Rapid. Hinzu kommt eine SKD-Montage (semi-knocked-down) für Audi (Q7 und Q8) mit aus Deutschland gelieferten Teilen.
Des weiteren lässt VW seit 2012 beim russischen Autobauer GAZ in Nischni Nowgorod, 400 Kilometer östlich von Moskau, Fahrzeuge bauen.
- Seit 2019 ist Mercedes mit einem eigenen Werk in Russland nahe Moskau vertreten und investierte rund 250 Millionen Euro. Zur Eröffnung im April kam Putin persönlich.
Rund 1000 Mitarbeiter waren dort in einer so genannten CKD-Produktion (completely-knocked-down) vollständig in Einzelteile demontiert und aus anderen vollständig in Einzelteile demontiert und aus anderen beschäftigt. Das bedeutet, dass die Fahrzeuge als eine Art Bausatz angeliefert und dort montiert werden. In Russland laufen aktuell die Modelle E-Klasse, GLC, GLE und GLS vom Band.
- BMW hat bislang von einer eigenen Produktion abgesehen – und dürfte wohl auch bei dieser Entscheidung bleiben. Stattdessen hat man 2021 eine bestehende Partnerschaft mit dem russischen Autobauer Avtotor bis 2028 verlängert. Im eigenen Werk im ostpreußischen Kaliningrad (ehemals Königsberg) fertigt Avtotor seit 1999 unter anderem den BMW Fünfer bzw. später auch die SUV-Modelle X5, X6 und X7. Die Fahrzeuge werden im CKD-Verfahren ins Werken nach Kaliningrad gebracht und dort zusammen gebaut – 40.000 Stück p.a.
Sollten all diese Investitionen nebst Absatzverlusten als Folge des Krieges und der Sanktionen verloren gehen, sollte Bundesfinanzminister Lindner bei den für die nächsten Jahre eingeplanten Steuereinahmen vorsorglich deutliche Abstriche machen.
Der Außenhandel Deutschlands mit der Ukraine hält sich im Vergleich zu Russland in engen Grenzen, die statistische Datenlage (Stand 2021) ebenfalls:
- Der Außenhandel mit der Ukraine erreichte 2021 mit +19,3 % auf 8,5 Milliarden Euro einen neuen Höchststand, nachdem zuvor 2008 das umsatzstärkste Jahr im Außenhandel mit der Ukraine gewesen (8,2 Milliarden Euro) war.
- Bei 52 Prozent der um 790 Millionen Euro aus der Ukraine importierten Waren handelt es sich um Erze und andere Rohstoffe. Der Rest entfällt auf Zulieferteile und landwirtschaftliche Produkte.
- Acht Unternehmen in Deutschland waren 2019 ukrainisch geführt. Sie erwirtschafteten 41,2 Millionen Euro Jahresumsatz – gut ein Viertel (+27,0 %) mehr als im Jahr 2018.
- Umgekehrt fällt das wirtschaftliche Engagement deutscher Investoren in der Ukraine größer aus. Hier gab es 101 Unternehmen deutscher Investoren, die mit ihren rund 37 100 Beschäftigten einen Umsatz von knapp 4,1 Milliarden Euro im Jahr 2019 erwirtschafteten. Innerhalb eines Jahres stieg der Umsatz um +38,0 %, innerhalb von drei Jahren verdoppelte er sich fast (+90,6 %). Im Wesentlichen handelt es sich bei diesen Unternehmen um Zulieferbetriebe für die Autoindustrie und den Maschinenbau., teilweise mit produktionswichtigen Zulieferteilen.
Legt man nur diese statistischen Zahlen zugrunde, besteht rein quantitativ eine scheinbar verschmerzliche, nur geringe Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft und Konjunktur von Russlands Krieg in der Ukraine.
Aber der Schein täuscht:
Die deutsche Industrie steuert geradewegs in eine „technische“ Rezession!
Wieso technisch? Dies bedarf einer Erläuterung!
Die deutsche Wirtschaft hat in der Nachkriegszeit außer zwei Weltwirtschaftskrisen – die letzte war 2008/9 die Weltfinanzkrise – sieben „normale“ Rezessionen erlebt. Deren Ursachen war verschiedenartig, aber das Ergebnis war stets das Gleiche: ein starker konjunktureller Einbruch zunächst der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, danach des Wirtschaftswachstums mit BIP-einbrüchen und steigender Arbeitslosigkeit.
Gegenwärtig steht die deutsche Wirtschaft erneut vor einer Rezession, doch diesmal ist alles anders: Nicht fehlende kaufkräftige Nachfrage ist die Ursache, diesmal mangelt es am Input für die Produktion, genauer am Produktionsmaterial in Form von Energie-Rohstoffen, wie Erdöl, Kohle und Erdgas für die Grundstoffindustrien und die Chemie, oder an Edelmetallen und Veredelungsteilen oder fertigen Zulieferteilen für die heimische Produktion, z.B in der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau oder anderen Weiterverarbeitungsbetrieben.
Das ist neu: Rezession wegen Materialmangels hat es bislang in den westlichen Industriestaaten noch nie gegeben. Immer war es fehlende Nachfrage, die die Rezession herbeiführte.
Aber es kommt noch schlimmer! In hochentwickelten Volkswirtschaften wie Deutschland und anderswo laufen industrielle Produktionsprozesse in Wertschöpfungsketten, also kaskadenhaft ab: Eine Produktionsstufe baut auf der anderen auf. Erfolgt irgendwo eine Störung wegen fehlender Teile, z.B Speicherchips oder Kabelbäumen, kommt früher oder später der gesamte Produktionsprozess erst ins Stocken, dann zum Stillstand.
Hinzu kommen aktuell aufgrund befürchteter Lieferausfälle noch Preisschocks von der Energie- und Rohstoffseite, die nachfolgend weitere Angebotsschocks in der Chemie, der Nahrungsmittelindustrie und dem Handwerk auslösen, wenn z.B. mangels Kaufkraft die Nachfrage schrumpft , Produktionsbetriebe still stehen oder Getreidelieferungen, z.B. aus der Ukraine, ausbleiben.
Quelle: Dr. Bruno Kesseler
Diese Art von multi-faktorieller „technischer“ Rezession ist im Anmarsch. Der Grund dafür ist anders als früher nicht fehlende Nachfrage, sondern ausschließlich Materialmangel bei allen großen deutschen Industriezweigen, insbesondre der Autoindustrie, dem Maschinenbau und der Chemie. Oder explodierende Preise bei unverzichtbaren Energien wie Erdgas, Erdöl und Kohle sowie Edelmetallen und Rohstoffen, die dem Verbraucher die Kaufkraft rauben. Benzinpreise von 2,00 Euro an deutschen Tankstellen, wie aktuell schon „erfahrbar“ hat in der Nachkriegszeit noch nie gegeben. Der frühe Traum der Grünen von 5 D-Mark pro Liter Benzin in den Achtziger Jahren ist in greifbare Nähe gerückt.
Grund ist (fast) ausschließlich der Krieg zwischen Russland und der Ukraine. In beiden Ländern habe deutsche Unternehmen vor allem aus der Autoindustrie eigene Werke aufgebaut oder beziehen strategische Teile wie z.B. Kabelbäume – Lohnkosten dort Euro 2,00 je Stunde – , für die es keine kurzfristigen Bezugsalternativen gibt. Die gesamte Autobranche meldet inzwischen Materialmangel und Produktionseinschränkungen wegen des Ukraine-Krieges.
Beliebige Presse Schlagzeilen sprechen Bände, so:
- BMW und Man drosseln Produktion
- Keine Autos mehr für Russland – Nach BMW und Mercedes stellt auch VW Export und Produktion ein
- Materialmangel wegen Ukraine-Krieg:
Audi und MAN stoppen Bänder, Kurzarbeit bei BMW
- Eine Woche früher als geplant: VW stellt Produktion in Wolfsburg schon am Montag ein
- E-Auto-Produktion in Sachsen: VW verlängert Pause um zwei
- Ukraine-Krieg: VW-Konzern stoppt Russland-Geschäft
- Zwei Wochen Unterbrechung wegen Ukraine-Krieg:
VW Nutzfahrzeuge stoppt ab 14. März die Produktion - Ukraine-Krieg: Toyota unterbricht Produktion in St. Petersburg
- Folge des Kriegs in der Ukraine: Russischer Automarkt bricht um mehr als Hälfte ein
- China: Panisch auf der Suche nach Kohle
Zwar wurden die deutschen Autohersteller bereits 2021 unverhofft mit Produktionsausfällen aufgrund des weltweiten Mangels an Speicherchips konfrontiert. Es gelang ihnen jedoch lange Zeit durch interne Produktionsumstellungen auf höherwertige Modelle und Rückgriff auf übervolle Lagerbestände zu Beginn die Chipkrise gekonnt zu überbrücken und gleichzeitig noch Rekordergebnisse einzufahren.
Sie hatten also Gelegenheit zu improvisieren. Dies wird diesmal jedoch nicht gelingen, 2022 werden sie von den Kriegsfolgen voll getroffen. Aktuell werden bei allen Herstellern wegen fehlender Teile aus dem Kriegsgebiet ganze Werke stillgelegt wie bei BMW in Dingolfing, oder Schichten gestrichen wie bei VW in Wolfsburg, Dresden oder Zwickau. Mercedes und sogar Toyota stoppen ebenfalls die Produktion.
Negative Folgen sind unausweichlich. Mit dem Produzierende Gewerbe ist der Motor der deutschen Wirtschaft voll vom Ukrainekrieg getroffen. Zwar entfällt lediglich noch 23,5 vH des Bruttoinlandsproduktes, mit dem Wachstum gemessen wird, auf die Industrie. Der Anteil der Schlüsselbranchen, Autoindustrie, Maschinenbau und Chemie +Pharmazie daran beträgt aber rd 60 vH, sie tragen also im Primär-Effekt gut 10 Prozentpunkte zur inländischen BIP-Wertschöpfung bei. Kommt es als Beispiel in diesen Schlüsselbranchen wegen Materialmangel – z.B. bei Speicherchips oder Kabelbäumen und anderen strategischen Zulieferteilen aus dem Kriegsgebiet – zu Produktionseinbrüchen bis zu 10 Prozent, ist ein Wachstumsverlust von 1 Prozentpunkt vorprogrammiert und auf die Schnelle unvermeidlich. Den Rest besorgen sich selbst erfüllende negative und pessimistische Zukunftserwartungen der Investoren und Konsumenten in Form von Invest- und Kaufzurückhaltung. Als Folge dieser Abwärtsspirale von Produktions- und Nachfrageausfällen auf der Endstufe auf die nachfolgende Wertschöpfungskette ist eine „technische“ Rezession unvermeidlich.
Die Gefahr ist da. Der akute Materialmangel aus politischen Gründen sowie sich rapide verschlechternde Erwartungen treffen die deutsche Schlüsselbranche Automobilindustrie besonders schmerzhaft, Hier hat der nicht enden wollende Versorgungsengpass bei Speicherchips – inzwischen wurde die Normalisierung von Experten ins Jahr 2023 verschoben – bereits im letzten Quartal 2021 mehr und mehr zu Produktionseinschränkungen führte. Angesichts geräumter Auto-Läger und fehlender Teile mussten inzwischen sogar Aufträge zurückgewiesen werden. Auch der Corona-Erholung im Maschinenbau droht aufgrund der Rezession in wichtigen Abnehmerbrachen ein vorzeitiger Abbruch. Und die rasante Verteuerung von Energie wie Erdgas und Kohle schlägt voll in den Grundstoffindustrien und beim privaten Verbraucher und damit auch bei den restlichen bei zwei Drittel des Sozialprodukts zu Buche.
Die nüchterne Erkenntnis ist, wie kürzlich in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: „Wirtschaft kann nicht unpolitisch sein, sie ist immer auch ein Teil der Politik“.