Tichys Einblick
Aufgrund des Krieges und der Sanktionen:

Die deutsche Wirtschaft steht vor einer „technischen“ Rezession

Der Krieg und die Sanktionen gegen Putins Russland treffen auch die deutsche Wirtschaft hart. Die Folgen für Deutschland sind viel schwerwiegender als es die statistischen Daten vermuten ließen.

Mercedes-Stern über der Russland-Zentrale des deutschen Autokonzerns in Moskau

IMAGO / ITAR-TASS

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nebst den inzwischen verhängten Wirtschafts- und Finanzsanktionen des Westens gegenüber dem Russischen Regime treffen die deutsche Wirtschaft hart. Betroffen sind zum einen der freie Warenaustausch mit Investitions- und Konsumgütern von und nach Deutschland. Zum anderen aber, und für die Wertschöpfung in Deutschland entscheidend, die bis zum Kriegsausbruch störungsfreien Lieferketten mit produktionsnotwenigen, strategischen Vor- und Zwischenprodukten für die heimische Produktion. So wie eine ungestörte und ungeschmälerte Belieferung wichtiger Energieträger Erdgas, Erdöl und Kohle. 

Keinen Niederschlag in der amtlichen deutschen Statistik über Außenhandel und Industrieindikatoren wie Auftragseingang und Produktion finden die potentiellen Verluste an Sachvermögen, die einzelne deutsche Unternehmen in Fabriken und Unternehmen in Russland und der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dort investiert haben. 

Rezession und gleichzeitig Inflation 
Panikstimmung im Öl- und Gashandel – Angst vor Rezession
Blickt man nur auf die nüchternen Daten des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden, so könnte man zu dem (Fehl-)Schluss kommen, die Beeinträchtigungen der deutschen Wirtschaft durch den Ukraine-Krieg hielten sich in Grenzen: in der Rangfolge der 239 Ländern, die die amtliche Statistik als Handelspartner Deutschland 2021 aufführt, rangiert mit Bezug auf den gesamten Außenhandelsumsatz (Export + Import) Russland, genauer: die Russische Föderation, obwohl weltgrößter Flächenstaat mit 59,8 Milliarden Euro auf Platz 13, hinter Spanien und vor Ungarn. Die Ukraine nimmt mit 8,4 Milliarden Euro Platz 41 ein, hinter Bulgarien und vor den Vereinigten Arabischen Emiraten. Nur zum Vergleich: An der Spitze des deutschen Außenhandelsumsatzes steht China mit 245 Milliarden Euro (20,4vH), gefolgt von den Niederlanden mit 206 Milliarden Euro und den Vereinigten Staaten mit 196 Milliarden Euro. Beide Staaten zusammen haben einen Anteil von (lediglich) 2,7 vH am deutschen Außenhandel. 

Doch dieser Blick täuscht! Russland zählt mit einem Anteil von 2,3 vH am deutschen Außenhandel insgesamt zu den 15 wichtigsten Handelspartnern Deutschlands im Jahr 2021. Außerhalb der Europäischen Union war Russland 2021 für Deutschland der viertwichtigste Importpartner sowie der fünftwichtigste Abnehmer deutscher Waren. Zum Vergleich: Den größten Teil ihres Handels außerhalb der EU treibt die Bundesrepublik mit der Volksrepublik China (9,5 %) gefolgt von den USA (7,5 %). Demgegenüber ist der Anteil der Ukraine mit 0,4 vH niedrig, und rangiert noch hinter Luxemburg, Griechenland und Bulgarien.

Der Marktausblick
Der Ukraine-Krieg ist an den Devisenmärkten angekommen
Alles nach außen hin für die deutsche Wirtschaft als Ganzes nicht besonders aufregend – sieht man von individuellen Investitionsverlusten deutscher Unternehmen in Russland und der Ukraine ab. Wie immer aber steckt der Teufel im Detail, die ökonomische Brisanz im Warenaustausch zwischen Deutschland und den beiden Ländern im Kriegsgebiet liegt in der Struktur der jeweiligen Warenströme, vor allem in deren strategische Bedeutung.

Zunächst ein Blick auf die Russische Föderation (Quelle: Statistisches Bundesamt-Destatis): 

Der Handel zwischen Deutschland und Russland hat im Jahr 2021 gegenüber dem ersten Pandemiejahr 2020 wieder deutlich zugenommen:  Der Außenhandelsumsatz nahm mit  59,8 Milliarden Euro um 34,1 % gegenüber dem Vorjahr zu,   Waren im Wert von 33,1 Milliarden Euro wurden importiert, der Export dorthin belief sich auf 26,6 Milliarden Euro.  

Diese Zahlen täuschen über die eigentliche Brisanz hinweg. Deutsche und europäische Hersteller haben Milliarden in Russland investiert. Die ergriffenen Sanktionen für Russland treffen auch die deutsche Industrie empfindlich. Im Brennpunkt stehen die Automobilhersteller und Zulieferunternehmen.

Knapp zehn Jahre später hat die Industrie mehr als ein Fünftel ihrer Produktion eingebüßt: 2019 waren es gerade noch 1,5 Millionen Pkw und etwa 200.000 Nutzfahrzeuge. (Quelle: Automobilwoche)

Des weiteren lässt VW seit 2012 beim russischen Autobauer GAZ in Nischni Nowgorod, 400 Kilometer östlich von Moskau, Fahrzeuge bauen.

Rund 1000 Mitarbeiter waren dort in einer so genannten CKD-Produktion (completely-knocked-down) vollständig in Einzelteile demontiert und aus anderen vollständig in Einzelteile demontiert und aus anderen beschäftigt. Das bedeutet, dass die Fahrzeuge als eine Art Bausatz angeliefert und dort montiert werden. In Russland laufen aktuell die Modelle E-Klasse, GLC, GLE und GLS vom Band. 

Sollten all diese Investitionen nebst Absatzverlusten als Folge des Krieges und der Sanktionen verloren gehen, sollte Bundesfinanzminister Lindner bei den für die nächsten Jahre eingeplanten Steuereinahmen vorsorglich deutliche Abstriche machen.

Der Außenhandel Deutschlands mit der Ukraine hält sich im Vergleich zu Russland in engen Grenzen, die statistische Datenlage (Stand 2021) ebenfalls:

Legt man nur diese statistischen Zahlen zugrunde, besteht rein quantitativ eine scheinbar verschmerzliche, nur geringe Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft und Konjunktur von Russlands Krieg in der Ukraine. 

Aber der Schein täuscht:

Die deutsche Industrie steuert geradewegs in eine „technische“ Rezession!

Wieso technisch? Dies bedarf einer Erläuterung!

Kriegsfolgen für die deutsche Wirtschaft
Deutsche Autobauer verlassen den russischen Markt
Rezessionen sind im Sprachgebrauch der Konjunkturforscher Phasen der Wirtschaft, in denen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Sammelbegriff für die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung eines Jahres absolut schrumpft, die Kapazitätsauslastung sinkt und die Arbeitslosigkeit steigt. Auslöser für Rezessionen war bisher stets ein starker Rückgang der allgemeinen Nachfrage, sei er exogen ausgelöst durch Schocks von außen (z.B. Ölpreiskrisen) oder endogen durch eine rigide Zins-Strafaktion der Notenbank via verschärfter Geldpolitik, z.B. zur Inflationsbekämpfung. 

Die deutsche Wirtschaft hat in der Nachkriegszeit außer zwei Weltwirtschaftskrisen – die letzte war 2008/9 die Weltfinanzkrise – sieben „normale“ Rezessionen erlebt. Deren Ursachen war verschiedenartig, aber das Ergebnis war stets das Gleiche: ein starker konjunktureller Einbruch zunächst der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, danach des Wirtschaftswachstums mit BIP-einbrüchen und steigender Arbeitslosigkeit.

Gegenwärtig steht die deutsche Wirtschaft erneut vor einer Rezession, doch diesmal ist alles anders: Nicht fehlende kaufkräftige Nachfrage ist die Ursache,  diesmal mangelt es am Input für die Produktion, genauer am Produktionsmaterial in Form von Energie-Rohstoffen, wie Erdöl, Kohle und Erdgas für die Grundstoffindustrien und die Chemie, oder an Edelmetallen und Veredelungsteilen oder fertigen Zulieferteilen für die heimische Produktion, z.B in der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau oder anderen Weiterverarbeitungsbetrieben.  

Das ist neu: Rezession wegen Materialmangels hat es bislang in den westlichen Industriestaaten noch nie gegeben. Immer war es fehlende Nachfrage, die die Rezession herbeiführte. 

Aber es kommt noch schlimmer! In hochentwickelten Volkswirtschaften wie Deutschland und anderswo laufen industrielle Produktionsprozesse in Wertschöpfungsketten, also kaskadenhaft ab: Eine Produktionsstufe baut auf der anderen auf. Erfolgt irgendwo eine Störung wegen fehlender Teile, z.B Speicherchips oder Kabelbäumen,  kommt  früher oder später der gesamte Produktionsprozess erst ins Stocken, dann zum Stillstand. 

Hinzu kommen aktuell aufgrund befürchteter Lieferausfälle noch Preisschocks von der Energie- und Rohstoffseite, die nachfolgend weitere Angebotsschocks in der Chemie, der Nahrungsmittelindustrie und dem Handwerk auslösen, wenn z.B. mangels Kaufkraft die Nachfrage schrumpft , Produktionsbetriebe still stehen oder  Getreidelieferungen, z.B. aus der Ukraine, ausbleiben.

Quelle: Dr. Bruno Kesseler

Diese Art von multi-faktorieller „technischer“ Rezession ist im Anmarsch. Der Grund dafür ist anders als früher nicht fehlende Nachfrage, sondern ausschließlich Materialmangel bei allen großen deutschen Industriezweigen, insbesondre der Autoindustrie, dem Maschinenbau und der Chemie. Oder explodierende Preise bei unverzichtbaren Energien wie Erdgas, Erdöl und Kohle sowie Edelmetallen und Rohstoffen, die dem Verbraucher die Kaufkraft rauben. Benzinpreise von 2,00 Euro an deutschen Tankstellen, wie aktuell schon „erfahrbar“ hat in der Nachkriegszeit noch nie gegeben. Der frühe Traum der Grünen von 5 D-Mark pro Liter Benzin in den Achtziger Jahren ist in greifbare Nähe gerückt. 

Grund ist (fast) ausschließlich der Krieg zwischen Russland und der Ukraine. In beiden Ländern habe deutsche Unternehmen vor allem aus der Autoindustrie eigene Werke aufgebaut oder beziehen strategische Teile wie z.B. Kabelbäume – Lohnkosten dort Euro 2,00 je Stunde – , für die es keine kurzfristigen Bezugsalternativen gibt. Die gesamte Autobranche meldet inzwischen Materialmangel und Produktionseinschränkungen wegen des Ukraine-Krieges.

Beliebige Presse Schlagzeilen sprechen Bände, so:

Zwar wurden die deutschen Autohersteller bereits 2021 unverhofft mit Produktionsausfällen aufgrund des weltweiten Mangels an Speicherchips konfrontiert. Es gelang ihnen jedoch lange Zeit durch interne Produktionsumstellungen auf höherwertige Modelle und Rückgriff auf übervolle Lagerbestände zu Beginn die Chipkrise gekonnt zu überbrücken und gleichzeitig noch Rekordergebnisse einzufahren. 

Sie hatten also Gelegenheit zu improvisieren. Dies wird diesmal jedoch nicht gelingen, 2022 werden sie von den Kriegsfolgen voll getroffen. Aktuell werden bei allen Herstellern wegen fehlender Teile aus dem Kriegsgebiet ganze Werke stillgelegt wie bei BMW in Dingolfing, oder Schichten gestrichen wie bei VW in Wolfsburg, Dresden oder Zwickau. Mercedes und sogar Toyota stoppen ebenfalls die Produktion.

Negative Folgen sind unausweichlich. Mit dem Produzierende Gewerbe ist der Motor der deutschen Wirtschaft voll vom Ukrainekrieg getroffen. Zwar entfällt lediglich noch 23,5 vH des Bruttoinlandsproduktes, mit dem Wachstum gemessen wird, auf die Industrie. Der Anteil der Schlüsselbranchen, Autoindustrie, Maschinenbau und Chemie +Pharmazie daran beträgt aber rd 60 vH, sie tragen also im Primär-Effekt gut 10 Prozentpunkte zur inländischen BIP-Wertschöpfung bei. Kommt es als Beispiel in diesen Schlüsselbranchen wegen Materialmangel – z.B. bei Speicherchips oder  Kabelbäumen und anderen strategischen Zulieferteilen  aus dem Kriegsgebiet –  zu Produktionseinbrüchen bis zu 10 Prozent, ist ein Wachstumsverlust von 1 Prozentpunkt vorprogrammiert und auf die Schnelle unvermeidlich.  Den Rest besorgen  sich selbst erfüllende negative und pessimistische Zukunftserwartungen der Investoren und Konsumenten in Form von Invest- und Kaufzurückhaltung. Als Folge dieser Abwärtsspirale von Produktions- und Nachfrageausfällen auf der Endstufe auf die nachfolgende Wertschöpfungskette ist eine „technische“ Rezession unvermeidlich. 

Die Gefahr ist da. Der akute Materialmangel aus politischen Gründen sowie sich rapide verschlechternde Erwartungen treffen die deutsche Schlüsselbranche Automobilindustrie besonders schmerzhaft, Hier hat der nicht enden wollende Versorgungsengpass bei Speicherchips – inzwischen wurde die Normalisierung von Experten ins Jahr 2023 verschoben – bereits im letzten Quartal 2021 mehr und mehr zu Produktionseinschränkungen führte. Angesichts geräumter Auto-Läger und fehlender Teile mussten inzwischen sogar Aufträge zurückgewiesen werden.  Auch der Corona-Erholung im Maschinenbau droht aufgrund der Rezession in wichtigen Abnehmerbrachen ein vorzeitiger Abbruch. Und die rasante Verteuerung von Energie wie Erdgas und Kohle schlägt voll in den Grundstoffindustrien und beim privaten Verbraucher und damit auch bei den restlichen bei zwei Drittel des Sozialprodukts zu Buche.

Die nüchterne Erkenntnis ist, wie kürzlich in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: „Wirtschaft kann nicht unpolitisch sein, sie ist immer auch ein Teil der Politik“.

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