Tichys Einblick
Neue ökonomische Eiszeit droht

Der China-Lockdown trifft die deutsche Wirtschaft besonders hart

Im totalen Lockdown, wie China ihn bislang praktiziert hat, bricht die gesamte strategische Planung der deutschen Autoindustrie zusammen. 

Hafen von Schanghai am 19.4.2022

IMAGO / Xinhua

Trotz des Frühlings holden, belebenden Blick und den Corona- befreiten Hoffnungsgefühlen hat sich der alte Winter noch nicht in rauen Berge zurückgezogen. Im Gegenteil, in der deutschen Industrie droht im Frühjahr 2022 eine neue Eiszeit. 

Vor allem die Autoindustrie droht unter die Räder zu kommen – aber nicht die eigenen.  Ihre Leidensliste, in 2021 nur kurz durch Rekordergebnisse unterbrochen, scheint nur noch eine Richtung zu kennen, nämlich zu wachsen. Anstatt kürzer, wird sie monatlich länger: erst die Covid-19-Pandemie, dann die Chipkrise, im Anschluss die Rohstoffpreis-Explosionen auf allen Weltmärkten, gefolgt vom Ausbruch des  Ukraine-Krieges  inclusive Kabelbaum-Mangel. Und wer geglaubt hat, das eine oder andere Problem müsse doch bald einmal ausgestanden sein, der hat sich geirrt: Jetzt kam obendrauf auch noch der China-Lockdown. 

Und der verheißt nicht nur kurzfristig sondern auch und  gerade langfristig nichts Gutes.

Kurz nach dem chinesischen Neujahrsfest kehrte die Corona- Pandemie im größten Markt der Welt, China, mit voller Wucht zurück. Für die politische Führung des Landes, die eine Null-Corona Politik als Zielsetzung verfolgt und  zuvor die Pandemie voll im Griff zu haben glaubte, eine erschütternde Überraschung. Über große Teile des Landes wurde ein scharfer Lockdown verhängt. Mit menschenleeren Straßen in Millionenstädten, Fabrikschließungen und gekappten Verkehrsverbindungen. Und mit düsteren Bildern in den Medien, die an George Orwells Science-Fiction Roman „1984“ erinnerten. Schanghai und andere Metropolen wurden von der Außenwelt abgeschnitten, kein Mensch in der 25-Millionen-Stadt durfte über Wochen auf die Straße.   

Die Bänder in den Autofabriken stehen still. VW, Mercedes-Benz, BMW und all die anderen müssen wegen Chinas rigider Null-Covid-Strategie immer wieder zuschließen. 

Dazu Tesla als Beispiel: Auch Tesla wurde mit seinem größten Werk in Shanghai und einer Jahreskapazität von 500.000 Autos vom Lockdown voll getroffen und musste schließen. Die sogenannte Gigafactory in Shanghai ist das größte Werk von Tesla. Durch den Betriebsstopp seit dem 28. März wurden mehr als 50.000 Fahrzeuge nicht gebaut. Das Werk bedient nicht nur den chinesischen Markt, sondern exportiert auch viele Fahrzeuge nach Europa und Japan. 

Rund drei Wochen später, am 19. April, nahm die Fabrik die Produktion mit  8.000 Mitarbeiter wieder auf; das sind etwas mehr als die Hälfte der Belegschaft von Ende 2021 mit 15.000 Mitarbeitern. Vor dem Produktionsstopp arbeiteten bei Tesla drei Schichten,  die rund um die Uhr und sieben Tage pro Woche produzierten.

Um die Produktion nach dem dreiwöchigen Lockdown möglich zu machen hat Tesla seine MitarbeiterInnen in Shanghai aufgefordert, in der Gigafactory zu übernachten – den Schlafsack und drei Mahlzeiten gibt es frei Haus. Tesla Chef Elon Musk selber hat das vor vier Jahren bei der Eröffnung der Gigafactory in Shanghai vorgemacht und öffentlichkeitswirksam einige Nächte in der Fabrik verbracht, um die über Wochen hinweg problematische Produktion des Model 3 zu überwachen. Angeblich soll Musk in einem Schlafsack auf einem schäbigen Sofa übernachtet haben.

So wie Tesla geht es auch den deutschen Herstellern VW, Mercedes-Benz, BMW und all den vielen Zulieferern auch. Alle müssen wegen Chinas rigider Null-Covid-Strategie immer wieder zuschließen.  Wegen des harten Corona-Lockdowns in Schanghai sitzen Mitarbeiter von vielen Firmen zum Teil in den Gebäuden fest und können nicht nach Hause. Sie sind praktisch im Werk eingeschlossen.

Der Autohersteller VW (und andere) greift während der harten Quarantäne in China zu ungewöhnlichen Maßnahmen, um seine in der Fabrik eingeschlossenen Mitarbeiter bei Laune zu halten. Diese würden mit Filmabenden und Fitnessübungen unterhalten, nachdem die Produktion wegen der Abriegelung der Stadt stillgelegt wurde (Automotive News China, Schwesterblatt der Automobilwoche). 

Die Lage während des Corona-Lockdowns in Schanghai hat weitreichende Folgen. Neben Herstellern wie Volkswagen sind auch viele Zulieferer von den Auswirkungen betroffen. So übernachten etwa 200 Mitarbeiter des schwäbischen Zulieferers Marquardt seit Tagen am firmeneigenen Standort im Stadtteil Pudong. Dazu wurden dort laut Firmensprecher provisorische Duschen und Schlafplätze eingerichtet, auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln sei gewährleistet. (Automobilwoche.)

Der Stuttgarter Autozulieferer Bosch hat die Produktion in seinem Werk im nordostchinesischen Changchun ebenfalls wieder eingeschränkt aufgenommen. Ein Werk für Thermotechnologie in Shanghai bleibt dagegen geschlossen, wie Bosch mitteilte. Zwei Werke für Kraftfahrzeugkomponenten in Shanghai und im benachbarten Taicang arbeiteten derzeit aufgrund des Lockdowns in einem geschlossenen Kreislauf, bei dem die Mitarbeiter auf dem Werksgelände leben, essen, arbeiten und schlafen.

Die deutsche Autoindustrie trifft dieser scharfe Lockdown ins Mark. In keinem Land der Welt betreiben deutsche Automobilbranche mehr Fabriken als in China, nirgends verkaufen deutsche Autohersteller so viele Fahrzeuge wie dort. Die deutschen Autohersteller betreiben Werke an 19 Standorten (Schaubild 1), davon der VW-Konzern allein 13. Rund ein Drittel der sechzehn Millionen Pkw, die in 2021 weltweit unter deutschem Markenzeichen produzierten wurden, rollten von chinesischen Fließbändern. Der Absatz deutscher Autos in China lag im Corona-Jahr 2021 bei fast 7 Millionen (Schaubild 2). Der VW Konzern verkauft mit rund fünf Millionen die Hälfte seiner globalen Jahresproduktion von zehn Millionen in China! Importiert davon wurden nur wenige wie Porsche. Alle übrigen wurden  alle vor Ort in China hergestellt. 

Selbst der Jahresabsatz der Nobelmarken BMW und Daimler ist inzwischen auf jeweils 800.000 Pkw gestiegen, von denen allerdings immer noch 20 Prozent aus Deutschland und USA importiert werden. Rein rechnerisch hängt also fast jeweils ein Werk in Deutschland komplett vom China-Absatz ab.   

Auch wenn es der deutschen Autoindustrie gelungen ist, die Beschäftigungsrisiken via Eigenfertigung vor Ort weitgehend nach China „outzusourcen“, so gilt das nicht für die Ertragsrisiken. Ohne florierendes Chinageschäft ist für die Branche die Transformation hin zur Elektromobilität kaum zu stemmen. 

Copyright: Automobilwoche

Und damit rückt die Grundsatzfrage nach den Risiken und Abhängigkeiten der deutschen Industrie generell wie jene der Autoindustrie im speziellen ins Bild. Anschauungsmaterial dafür liefern die letzten Jahre zuhauf. Schlussfolgerungen ebenfalls.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg galt unter deutschen Ökonomen die sichere Erkenntnis, dass Europa eine Grippe bekommt, sobald die USA einen Schnupfen hat. Inzwischen ist China an die Stelle der USA getreten, wobei die erste echte Nagelprobe nach dreißig Jahren Boom in China erst jetzt mit der aktuellen Corona-Welle  eingesetzt hat. 

Die Automobilwoche hat in Bezug auf die aktuelle Abhängigkeit der deutschen Autoindustrie den Analogieschluß zu den Nachkriegsjahren  gezogen: „Hat China einen Schnupfen, kriegt die Autoindustrie eine Lungenentzündung“(Burckhard Riering). Und das stimmt zunehmend, die Fakten lügen nicht. Nur mit dem Unterschied, dass grippale Effekte in der Regel nach kurzer Zeit vorübergehen – die deutsche Abhängigkeit Deutschlands von China dagegen von Dauer, da struktureller Natur ist. Der wachsende Wirtschaftskonflikt zwischen China und dem Westen dürfte das Ganze nur noch schlimmer machen.

Copyright: Automobilwoche

Denn die China Bänder in deutschen Autofabriken stehen still. VW, Mercedes-Benz, BMW und all die anderen müssen wegen Chinas rigider Null-Covid-Strategie immer wieder zuschließen. Die gesamte Wertschöpfungskette ist davon betroffen, auch die Zulieferfirmen fertigen weniger oder nichts. Aber da deren Fabriken auch für Werke und Abnehmer im Ausland, so vor allem Deutschland und anderen Regionen, zuliefern und  produzieren, kommt es auch dort zu Produktionsausfällen. 

Und es werden aus China weniger Rohstoffe wie Aluminium, Stahl, Lithium, oder Speicherchips oder Batteriezellen für E-Autos etc. exportiert, womit die Versorgungsprobleme deutscher Abnehmer weiter zunehmen. Und Fertigwaren für den Export können überdies nicht verschifft werden, da wichtige Exporthäfen von der Pekinger Führung ebenfalls geschlossen wurden.

Neben Covid als Ursache gibt es politische Lieferausfälle, wie zum Beispiel  Kabelbäume oder Neon-Gas aus der Ukraine, oder generell für Rohstoffe aus Russland.  Von einer sicheren Lieferung von Erdgas oder Erdöl und Kohle der deutschen Volkswiertschaft ganz zu schweigen. 

Es brennt an allen Enden der automobilen Wertschöpfungskette. Zu den Unsicherheiten auf der Beschaffungs- und Produktionsseite sind nunmehr mit China Unsicherheiten auf der Absatzseite als Covid-Folge dazugekommen. Menschen im Lockdown sind nicht unterwegs und kaufen auch keine Autos! Im totalen Lockdown, wie China ihn bislang praktiziert hat, bricht die gesamte strategische Planung der Autoindustrie zusammen. 

Die Planungssicherheit ist weg. Die Lehren der zurückliegenden Wochen für dir deutsche Autoindustrie sind: Die Branche darf sich beim Absatz wie bei der Produktion nicht allein auf China verlassen. Und bei der Produktion und Logistik vor allem nicht auf sicher geglaubte Teile und  Energie- und Rohstofflieferungen aus totalitären Staaten.

Manche glauben, dass könne für Europa oder Deutschland langfristig eine Stärkung als Produktionsstandort bedeuten. Das ist nur bedingt richtig. Europa ist rohstoffarm, seine Rohstoffe sind seit der Renaissance Geist und technisches – besseres – Wissen. Der Kampf um Rohstoffe hat begonnen. Europa kann der externen Abhängigkeit davon beim Import nur eine fortgesetzte technologische Überlegenheit seines eigenen „Produkt- und Exportsortiments“  entgegensetzen, quasi als Abhängigkeit ausländischer Kunden von deutschen Gütern –und Produzenten. Sollten diese, wie zum Beispiel Putzmeister oder Kuka, von ausländischen Staaten aufgekauft werden, hat Deutschland auf Dauer ein Problem.

Daimler CEO Ola Källenius hat es in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt brachte: „Wir leben in einer neuen geopolitischen Realität… Vor so einem Hintergrund muss jede ökonomische Region darüber nachdenken, wie sie Sicherheit und Teilunabhängigkeit schafft… Zu glauben, dass jede Wirtschaftsregion sich re-regionalisieren könnte, ist eine völlige Illusion.“ 

Mehr noch, das wäre eine komplette politische Dummheit.

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