Die Lage der deutschen Autoindustrie ist ernst, sehr ernst sogar. Die Gefährdungslage für Deutschlands zentralen Industriezweig hat sich durch den Ukraine-Krieg substanziell verschärft.
Bundeskanzler Olaf Scholz charakterisierte den Überfall Russlands auf die Ukraine als Zeitenwende. Europa und die freie Welt wurden zur Gegenwehr gezwungen. In ungewohnter Einigkeit verhängten westliche Staaten diesmal, anders als 2014 bei der Besetzung der Krim durch russische Truppen, einschneidende Sanktionen für Unternehmen und Privatpersonen in Russland, die das Land von internationalen Handels- und Finanzströmen abschneiden.
Diese Maßnahmen gehen vielen nicht weit genug. So sind zum Beispiel Öl- und Gasimporte aus Russland aus Rücksicht auf die Versorgungslage vor allem in Deutschland bisher aus dem Sanktionskatalog weitestgehend ausgenommen. Das Damoklesschwert einer nochmaligen Verschärfung des Handelsembargos oder eines einseitigen Stopps der russischen Energielieferungen nach Deutschland, vor allem aber einer Verlängerung des Krieges in der Ukraine mit allen Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland hängt in der Luft. Hauptleidtragender in Deutschland wäre die Autoindustrie, der Motor der deutschen Wirtschaft.
Doch diesmal hat die Gefährdung eine andere Qualität. Schiebt man die PR- Presseverlautbarungen ausnahmslos aller Hersteller über Rekordgewinne im abgelaufen schwierigen Jahr 2021 und gigantische Investitionsprogramme in und für die Zukunft beiseite und hört auf den „Flurfunk“ in den Führungsetagen der Konzernzentralen, so ergibt sich ein völlig anderes Bild: Noch nie in der Nachkriegszeit, selbst während der Ölkrisen und Sonntagsfahrverbote nicht, war die gesamte Branche über die ganze Wertschöpfungskette hinweg so nahe am kollektiven Kollaps wie zu Frühjahrsbeginn 2022.
Wichtige Zulieferungen drohen zu versiegen
Grund dafür ist Materialmangel durch allmähliches Versiegen bis hin zum totalen Ausbleiben strategisch wichtiger Zulieferungen von Kabelbäumen aus der Ukraine, teilweise auch von seltenen Rohstoffen wie Neon-Gas aus Russland, Letzteres aber irgendwie kompensierbar. Dagegen führt die fortschreitende Unterbrechung der Zulieferung von Kabelbäumen zu einer einzigartigen Bedrohung der gesamten automobilen Wertschöpfungskette in Deutschland – mitsamt zahlreichen Unwägbarkeiten für die gesamte Volkswirtschaft.
Die amtliche Außenhandelsstatistik und manche Studien suggerieren ein völlig falsches Bild von der Dramatik der Lage. Danach nehmen rückblickend Russland und vor allem die Ukraine mit minimalen Anteilen im einstelligen Bereich an den Bezügen der deutschen Autohersteller – statistisch absolut korrekt – eine völlig vernachlässigbare Position im Liefer- und Wertschöpfungsnetzwerk der deutschen Hersteller ein.
Die Speicherchip-Engpässe konnten von der Branche über den Weltmarkt aufgefangen und zum Teil kompensiert werden. Oder die Halbleiter konnten auf der Halde in den fertig produzierten Autos nachgerüstet werden.
Demgegenüber rührt der drohende kriegsbedingte Totalausfall von Lieferungen von Kabelbäumen aus der Ukraine, anders als bei den Chips, an die Substanz der Branche. Denn Kabelbäume sind keine Standardware, sondern hersteller- und modellspezifisch designte Konfektionsware, wenn auch in Massen hergestellt.
Kabelbäume sind nicht nachrüstbar. Sind sie nicht vorhanden, können Autos nicht gebaut werden, steht die gesamte Wertschöpfungskette bis zum letzten kleinen Dritt- und Viertstufen-Lieferanten still; und auch beim Bäcker um die Werksecke werden weniger Brötchen gebacken.
Alternative Beschaffungsquellen stehen kurzfristig keinem deutschen Hersteller offen. Über das herstellerbezogene individuelle eigene Lieferantennetzwerk hinaus sind zusätzliche Zulieferungen ausgeschlossen. Selbst wenn Kabelbäume außerhalb der Ukraine für die deutsche Autoindustrie gefertigt werden könnten, sind die Kapazitäten dieser Zulieferer voll ausgeschöpft, kurzfristige Aufstockung absolut ausgeschlossen!
Zusätzlich gibt es Probleme im Logistik- und Transportgewerbe. Der Krieg in der Ukraine sorgt nicht nur in Deutschland, sondern europaweit für Lieferprobleme. Das betrifft nicht nur die geschlossenen Fabriken im Kriegsland, sondern auch den Transport von dort. Rund 100.000 ukrainische Lkw-Fahrer waren vor dem russischen Überfall im europäischen Warenverkehr unterwegs. Allein sieben Prozent aller deutscher LKWs we(u)rden von Ukrainern gesteuert. Damit steht nicht nur die Zulieferung von Teilen in die Autoindustrie, sondern die gesamte Versorgung Deutschlands auf dem Spiel, auch mit Getreide aus den Kornkammern Ukraine und Russland.
Eine rasche Beendigung des Krieges ist also nicht nur aus ethisch/humanitären Gründen unbedingt zu wünschen, sondern auch im ökonomischen Interesse!
Welche Lehren müssen die deutschen Autohersteller aus dem Lieferdebakel mit der Ukraine ziehen:
- Ein gelegentlicher Blick der Jung-Ökonomen auch in die Lehrbücher der Altmeister der deutschen Betriebswirtschaft – ja, so etwas gab es mal –, wie zum Beispiel Guttenberg, Wöhe, Hax etc., wäre durchaus ratsam. Ausbildung nur nach moderner Managementliteratur allein führt in die Irre.
- Die Notwendigkeit zur permanenten Kostensenkung und Effizienz-Steigerung im Wettbewerbssystem einer funktionierenden Marktwirtschaft darf nicht dazu führen, politische Beschaffungsrisiken völlig aus dem betriebswirtschaftlichen Gewinn-Maximierungs-Denken auszuklammern. Volkswirtschaftslehre hieß früher einmal „Politische Ökonomie“ – und das mit gutem Grund. Denn: “Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ (Koh. 1,9-11)
- Die Globalisierung hat erkennbar ihren Zenit überschritten. Die Autoindustrie muss sich regional neu aufstellen.
- Single Sourcing als alleinige Kosten-Zielvorgabe und -Leitlinie in Einkauf und Logistik hat sich als fataler Irrtum herausgestellt.
- Die aktuelle Beschaffungskrise beflügelt die Lernkurve für Vorstand und Einkauf: Kosten sind viel, aber nicht alles!
- Risikobewusstsein und Risikoabwägung sowie Denken in Vorsichtskategorien, wie ehemals bei ehrbaren Kaufleuten üblich, sollte bei Grundsatzentscheidungen im Führungscorps wieder einen höheren Stellenwert einnehmen. Versorgungssicherheit war auf Führungsebene kein Thema mehr. Nach dem Motto: Strom kommt aus der Steckdose und Teile sind zu niedrigsten Kosten überall problemlos erhältlich. – Weit gefehlt!
An der aktuellen Gefährdungslage der Branche wird die Umsetzung dieser Erkenntnisse nichts ändern; das dauert. Aber wie der Volksmund schon sagt: „Es kann nichts so schlecht sein, dass es nicht auch für etwas gut ist.“