Tichys Einblick
Wirtschaftspolitik

Das süße Gift der Subventionen

Obwohl die Deindustrialisierung der energieintensiven Industrien von der ökologischen Klimapolitik ausgeht, befürworten Branchenvertreter deren schnelle Umsetzung. Das ist kein Widerspruch.

IMAGO/Christian Ohde

Seit fünf Jahren kommt die Industrie in Deutschland nicht wieder in Tritt, obwohl die wirtschaftlichen Belastungen infolge der Coronakrise und durch den Ukrainekrieg inzwischen weitgehend überwunden sind. Anstatt 2023 auf einen Wachstumskurs einzuschwenken und die gesamte Wirtschaft mitzuziehen, wie die Bundesregierung und viele Ökonomen erwartet hatten, liegt die Industrieproduktion nun etwa 10 Prozent niedriger als 2018. Noch immer zeichnet sich keine Talsohle ab.

Besonders betroffen sind die fünf energieintensiven Branchen, deren Schrumpfung auf die gesamte Wirtschaft ausstrahlt, so dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit mehr als einem Jahr sinkt. So ist das preisbereinigte BIP in Deutschland im Jahr 2023 nach ersten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) um 0,3 Prozent niedriger gewesen als im Vorjahr. Kalenderbereinigt betrug der Rückgang der Wirtschaftsleistung 0,1 Prozent, wie die Behörde am Montag mitteilte.

Mit etwa einer Million Beschäftigten erreichen die energieintensiven Branchen einen Anteil von 16,4 Prozent an der industriellen Bruttowertschöpfung in Deutschland. Zu ihnen gehören die Chemieindustrie mit einem Anteil von 7,3 Prozent an der industriellen Bruttowertschöpfung und die Metallerzeugung und -bearbeitung mit 3,6 Prozent.

Alle fünf energieintensiven Branchen sind bereits seit den 2000er Jahren von einer schleichenden Deindustrialisierung betroffen. Erkennbar ist dies an ihrem sinkenden Kapitalstock. Im Vergleich zu 2000 war dieser bis 2021 bereits um durchschnittlich 20 Prozent geschrumpft. Im Verlauf dieser langanhaltenden Desinvestition war die Produktion schon vor dem Beginn des Ukrainekriegs um etwa 10 Prozent gegenüber 2008 gesunken. Inzwischen liegt sie sogar etwa ein Drittel unter dem Niveau von 2008 – und sie sinkt weiter.

Kurs Deindustrialisierung

Die wesentliche Ursache dieses Deindustrialisierungsprozesses sind die in Deutschland gestiegenen Energiekosten und Strompreise sowie die Aussicht auf weitere, spürbare Steigerungen. Denn seit Anfang der 2000er Jahre zielt die von wechselnden Bundesregierungen vorangetriebene ökologische Klimapolitik auf Klimaneutralität, indem mit Hilfe von Energieeffizienzvorgaben extrem teure Senkungen des Energieverbrauchs durchgesetzt werden. Gleichzeitig soll der verbleibende Energiebedarf ausschließlich mit den nur begrenzt verfügbaren und zudem teuren erneuerbaren Energien, hierzulande vor allem mit Wind- und Sonnenenergie, gedeckt werden.

Infolge dieser Prämissen haben sich die Strompreise enorm erhöht. Denn der erneuerbare Strom ist deutlich teurer als der bisher kaum mit CO2-Steuern belegte Strom aus modernen emissionsarmen Kohlekraftwerken, die zu Preisen von 4 Cent/kWh Strom produzieren. Der Anteil der Erneuerbaren am Bruttostromverbrauch lag Anfang der 2000er Jahre noch bei etwa 5 Prozent, stieg bis vor dem Beginn des Ukrainekriegs im Jahr 2021 auf 41,2 Prozent an und schoss im vergangenen Jahr infolge des Ukrainekriegs auf etwa 52 Prozent nach oben. Daher sind die Strompreise bereits seit Jahrzehnten und im Verlauf des Ukrainekriegs nochmals deutlich angestiegen.

So sah sich die Bundesregierung im vergangenen Jahr gezwungen, die Strompreise für private Haushalte, die von 14 Cent/kWh im Jahr 2000 auf etwa 32 Cent pro kWh vor Beginn des Ukrainekriegs angestiegen waren, bei 40 Cent/kWh zu deckeln. Auch die Industriestrompreise liegen, obwohl sie in vielen Fällen von massiv vergünstigten Tarifen profitieren, auf einem internationalen Spitzenniveau – wie bereits vor dem Ukrainekrieg. In Deutschland zahlen energieintensive Unternehmen etwa 8 Cent pro Kilowattstunde (kWh) und damit mehr als den doppelten Strompreis als Wettbewerber in den USA oder in China. Bei weniger energieintensiven Betrieben sind die Unterschiede im Vergleich zu bedeutenden Industrieländern noch gravierender.

In der Metallerzeugung- und -bearbeitung, bei chemischen Grundstoffen und in der Papierindustrie liegt der Anteil der Energiekosten an der Wertschöpfung bei etwa 25 Prozent, während nicht energieintensive Branchen wie der Maschinenbau nur etwa 2,5 Prozent erreichen. So kann es den Maschinenbauunternehmen gelingen, sogar recht gravierende Energiepreissteigerungen aufzufangen, indem sie aus den verbleibenden 97,5 Prozent ihrer Wertschöpfung entsprechende Kosteneinsparungen herausholen. Gelingt ihnen dies, können sie die eigenen Verkaufspreise halten.

Energieintensiven Branchen ist ein derartiger Ausgleich in der Regel verwehrt, weil der Energiekostenblock im Verhältnis ihrer eigenen Wertschöpfung zu hoch ist. Daher können sie, selbst mit einem noch so großen technologischen Vorsprung, das im Vergleich zum Ausland höhere Energiekostenniveau in aller Regel nicht wettbewerblich ausgleichen.

Elitenkonsens Deindustrialisierung

Unter den Prämissen der ökologischen Klimapolitik ist das Ende der energieintensiven Produktion in Deutschland besiegelt. Das pfeifen die Spatzen längst von den Dächern. Einflussreiche Ökonomen, wie die Wirtschaftsweise Veronika Grimm machen keinen Hehl daraus, dass das Ende der energieintensiven Produktion hierzulande „so oder so“ kommen werde. Die Strompreise, so Grimm werden „hoch bleiben, … wenn wir auf eine klimaneutrale Produktion umstellen“, so dass möglicherweise noch bestehende Standortvorteile in Deutschland zunichte gemacht würden und es daher in einigen Bereichen „schlicht keinen Standortvorteil mehr“ gebe.

Und obwohl nun mehr als eine Million der bestbezahlten Jobs allein in den energieintensiven Branchen vor dem Aus stehen, zählen sowohl die Unternehmensverbände als auch die Gewerkschaften der betroffenen Branchen zu großen Befürwortern der ökologischen Klimapolitik. Diese Orientierung haben sie immer wieder – im Einklang mit den meinungsführenden Eliten – in Kommissionen und durch die Unterstützung wegweisender Entscheidungen wie etwa dem Atomausstieg bestätigt sowie durch das teilweise Vorziehen des Kohleausstiegs auf das Jahr 2030 und der Klimaneutralität auf das Jahr 2045 sogar nachgeschärft.

Indem Unternehmensvertreter und Gewerkschaften suggerieren, dass diese Klimapolitik ohne Schaden sogar an den energieintensiven Industrien vorüberziehen wird, erscheinen sie als die wohl glaubwürdigsten Anwälte dieser klimapolitischen Orientierung und halten der Bundesregierung den Rücken frei. Sie plappern nach, was politisch opportun ist und versäumen es dabei nicht, ihre eigentliche Rolle wahrzunehmen, indem sie die Partikularinteressen der Kapital- und Arbeitnehmerseiten der von ihnen vertretenen Unternehmen vertreten. Denn nicht die Rettung der energieintensiven Industrien und die Wohlstandserhaltung stehen für sie auf dem Programm; das wäre Aufgabe der Politik. Vielmehr geht es ihnen um das Versilbern des – wegen der von ihnen befürworteten ökologischen Klimapolitik – zwangsläufigen Produktionsausstiegs. Während die Deindustrialisierung erkennbar voranschreitet, warnen sie davor, dass diese vermeintlich nur drohe und dass sie mit Hilfe von Subventionen zu verhindern sei, obwohl die schädlichen Effekte der Klimapolitik damit nur vorübergehend gedämpft werden können.

Tatsächlich haben sich die Unternehmen seit zwei Jahrzehnten strategisch auf steigende Energiekosten ausgerichtet und ihre Investitionen zurückgefahren. Auf diese Weise können sie sicherstellen, dass die Produktionsanlagen bis zum Zeitpunkt der Betriebsaufgabe möglichst komplett abgeschrieben sind und es gelingen kann, weitgehend ohne Kapitalverluste auszusteigen. In der Zwischenzeit senken die niedrigen Investitionen die Betriebskosten, so dass die in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern besonders hohen Energiekosten bis zu einem gewissen Punkt ausgeglichen werden können. Subventionen dienen dann im Wesentlichen dazu, dieses Ausphasen der Produktion so in die Länge zu ziehen, dass Kapitalverluste minimiert werden, die Profitabilität erhalten bleibt und den betroffenen Arbeitnehmern die Jobverluste versüßt werden können.

Dass diese Strategie mit Risiken behaftet ist, zeigt sich unter anderem am unangefochten weltgrößten Chemiekonzern BASF, dessen Marktkapitalisierung sich in den vergangenen fünf Jahren halbiert hat und nun niedriger ist als das Eigenkapital. Der Markt geht also davon aus, dass BASF zukünftig kein Geld mehr verdient, nicht zuletzt, weil wegen steigender Energiekosten die Nachteile in Europa wachsen und die Elektrifizierung viele Milliarden verschlingen wird, ohne dass die gleichen Produkte dann höhere Preise erzielen dürften.

Rettung durch Transformation

Neben der Desinvestition verfolgen Unternehmen und Verbände jedoch auch eine weitere Strategie, um dem sich immer weiter aufbauenden Energiekostentsunami auszuweichen. Sie sind zu den größten Verfechtern einer immer weiter beschleunigten Transformation in Richtung Klimaneutralität geworden, da sie auf staatliche Dauersubventionen angewiesen sind, um zumindest einen Teil ihrer Betriebe vor dem Aus zu bewahren. Denn sie müssen fürchten, dass bei einer lahmenden Transformation die rettenden Milliarden zu lange auf sich warten lassen oder zu spärlich fließen und die immer ruinöseren Energiekosten sie zur Betriebsaufgabe zwingen, bevor die staatliche Rettung erfolgt.

Sofern die Subventionen in Anbetracht steigender CO2-Emissionssteuern zügig fließen, könne man vermeiden „das Management in Zugzwang gerät und andere Entscheidungen treffen muss“, so André Körner, Geschäftsführungsmitglied beim Stahlhersteller ArcelorMittal Deutschland. Die Unternehmen setzen auch darauf, dass ihre klimapolitische Fürsprache mit wirtschaftspolitischen Gegenleistungen honoriert wird.

Energieintensive Betriebe sind auf gigantische Subventionen zur technologischen Umstellung von den noch immer vergleichsweise sehr günstigen fossilen Energien auf erneuerbaren Strom oder Wasserstoff angewiesen – sowie auf anschließende Dauersubventionen wegen der dann um ein vielfaches höheren Energiekosten. Das ist auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bewusst, dessen Ministerium unmissverständlich schreibt, dass die „für die Dekarbonisierung der Industrie notwendige Modifizierung von Produktionsverfahren […] nicht nur mit erheblichem Investitionsaufwand [einhergeht], sondern auch mit stark erhöhten Betriebskosten. Sie entstehen vor allem durch den Einsatz von grünem Strom bzw. grünem Wasserstoff.“

Für die Umstellung erster Hochöfen der Stahlkonzerne Salzgitter AG, Thyssenkrupp und die saarländische Stahlindustrie auf Wasserstofftechnologie sind inzwischen 5,6 Milliarden Euro Subventionen von Bund und Ländern zugesagt und von der EU genehmigt. Um energieintensive Betriebe trotz höherer Produktionskosten beim Einsatz grüner Energie in die Wettbewerbsfähigkeit hinein zu subventionieren, ist ein mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag für die kommenden 15 Jahre vorgesehen.

Schmierenkomödie

Längst hat sich auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die von anderen Protagonisten der ökologischen Klimapolitik unablässig wiederholte Forderung nach einer beschleunigten Transformation zu eigen gemacht. Es gelte „der Welt zu zeigen, dass der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft mit der gesamten Industrie – und nicht zulasten einzelner energieintensiver Branchen – funktioniert“, so der Unternehmensverband. Alle Probleme mit dem Ausbau der Erneuerbaren ignorierend fordert der BDI: „Mehr Tempo machen beim Ausbau erneuerbarer Energie und wasserstofffähiger Gaskraftwerke für eine zuverlässige Energieversorgung. Denn mehr Wind und Solar drücken die Strompreise; zudem sind die Kosten für den laufenden Betrieb nach der Installation der Anlagen gering, behauptet der BDI. Diese Sicht der Dinge entspricht der von Habeck gebetsmühlenartig behaupteten „Zukunft mit niedrigen erneuerbaren Strompreisen und ohne Subventionen“, und dem Versprechen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dass durch die ökologische Klimapolitik ein Industriestrompreis von 4 Cent/kWh nahe.

Politiker, Unternehmensvertreter und Gewerkschaften vollführen eine Schmierenkomödie, mit der sie versuchen, die ökologische Klimapolitik vor dem Unmut der Bürger zu schützen. Sie streiten die längst in Gang gekommene Deindustrialisierung und die sie begleitenden Wohlstandsverluste ab und behaupten unisono, dass alles irgendwann mit billiger erneuerbarer Energie ein gutes Ende finden werde. Obwohl der Produktionseinbruch der energieintensiven Industrien bis heute fast ein Drittel des Niveaus von 2008 ausmacht und es für die betroffenen Betriebe inzwischen fünf nach zwölf sein dürfte, behauptet Habeck, es sei nicht zu spät, „alles ist lösbar“. Und das, obwohl er noch vor kurzem tönte, Deutschland stehe vor der Gretchenfrage „keine Gelder aufnehmen oder keine Industrie mehr haben“.


Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

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