Tichys Einblick
Mangel trotz 6,6 Millionen Arbeitslosen

Das Fach- und Arbeitskräfteparadoxon

Die Wirtschaft stagniert, die Deutschen arbeiten mehr denn je, und dennoch fehlen überall Fach- und Arbeitskräfte. Wie ist das möglich? Ein durch die Wirtschafts- und Sozialpolitik selbst verursachtes Problem.

IMAGO / onemorepicture

Es ist paradox: Die deutsche Wirtschaft steuert auf eine Rezession zu. Die ersten Entlassungswellen in der Automobilindustrie wie auch in energieintensiven Branchen, denen vor allem gutbezahlte Jobs zum Opfer fallen, laufen an. Dennoch dürfte der Arbeitsmarkt seinen Aufwärtstrend zumindest vorläufig fortsetzen. „Die Arbeitsmarktaussichten hellen sich weiter auf“, prognostiziert Enzo Weber, Forschungsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), denn der IAB-Frühindikator weise darauf hin, dass die Beschäftigung auch in den nächsten Monaten weiterhin stark wachse.

Und tatsächlich saugt die deutsche Wirtschaft seit 2006 – trotz der vielen wirtschaftlichen Krisen und bei historisch niedrigem Wirtschaftswachstum – Fach- und Arbeitskräfte auf wie ein trockener Schwamm. Obwohl das Wirtschaftswachstum seitdem durchschnittlich unter einem Prozent pro Jahr liegt, ist die Anzahl der Erwerbstätigen von damals 39,5 Millionen fast ungebrochen auf 45,6 Millionen Menschen im letzten Jahr angestiegen.

Obwohl immer mehr Menschen in Deutschland arbeiten, klagt inzwischen etwa die Hälfte aller Unternehmen über fehlendes Fachpersonal. Im Januar waren bei gleichzeitig rückläufigem Bruttoinlandsprodukt (BIP) 43,6 Prozent aller Unternehmen betroffen. Das ist etwas weniger als im Juli letzten Jahres, als fast der Hälfte aller Unternehmen in Deutschland Fachkräfte fehlten – ein Allzeithoch, wie das Ifo-Institut berichtet. Eine Entwarnung gibt Stefan Sauer, dort Arbeitsmarktexperte, jedoch nicht: „Mittel- und langfristig dürfte dieses Problem noch schwerwiegender werden.“

Gegenwärtig, so der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Achim Dercks, würden „rund zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben“. Deutschland entgehe somit ein Wertschöpfungspotenzial von 100 Milliarden Euro, was immerhin gut 2,5 Prozent des BIP entspricht.

Jeder Achte ohne Arbeit

Trotz des Fach- und Arbeitskräftemangels sind in Deutschland, anders als offiziell ausgewiesen, 6,6 Millionen Menschen ohne Arbeit. Bei derzeit 45,6 Millionen Erwerbstätigen bedeutet dies, dass sich Deutschland pro sieben Erwerbstätige einen Arbeitslosen leistet. Diese hohe Quote ist ein gewichtiger Grund, wenn auch nicht die auslösende Ursache für den Fach- und Arbeitskräftemangel.

Offiziellen Statistiken zufolge gibt es „nur“ gut 2,6 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Darunter befanden sich knapp eine Million Langzeitarbeitslose, von denen mehr als 60 Prozent nur Helfertätigkeiten ausführen können.

Zu den offiziell Arbeitslosen kommen jedoch weitere knapp 0,9 Millionen Unterbeschäftigte (plus derzeit etwa 0,2 Millionen Kurzarbeiter) hinzu, die zwar faktisch arbeitslos sind, formal jedoch nicht als arbeitslos gelten, da sie an einer Maßnahme der Arbeitsmarktpolitik teilnehmen oder einen arbeitsmarktbedingten Sonderstatus haben. So gelten beispielsweise über 58-Jährige, die seit mindestens einem Jahr arbeitslos gemeldet sind und denen kein Arbeitsangebot unterbreitet wurde, nicht als arbeitslos, sondern als unterbeschäftigt. Insgesamt sind in Deutschland demnach 3,5 Millionen Menschen arbeitslos.

Hinzu kommen weitere gut 3,1 Millionen Menschen im Alter von 15 bis 74 Jahren, die sich Arbeit wünschen, dennoch aber ohne Arbeit sind. Auch sie werden nicht als arbeitslos, sondern als sogenannte „Stille Reserve“ erfasst. Hierzu gehören Menschen, die entweder nicht kurzfristig innerhalb von zwei Wochen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, etwa weil sie Betreuungspflichten anders regeln müssten, sowie solche, die nicht aktiv suchen, weil sie glauben, keine geeignete Arbeit finden zu können.

Fleißige Deutsche

Trotz der offenbar riesigen Probleme bei der Einbindung der Erwerbslosen und daraus resultierenden angebotsseitigen Limitierung beruht der akute Fach- und Arbeitskräftemangel nicht etwa auf einem rückläufigen Arbeitsangebot. Ganz im Gegenteil: Von 2007 bis 2022 ist die Anzahl der Erwerbstätigen in Deutschland von 40,3 Millionen auf 45,6 gestiegen, also um 5,3 Millionen, während die Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum schwächer gewachsen ist, nämlich nur um 3,4 Millionen von 80,9 auf 84,3 Millionen.

Nehmen wir 2019 hier als Referenz, weil viele der im Folgenden angeführten Indikatoren für 2022 noch nicht veröffentlicht sind. Von 2007 bis 2019, also zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Wirtschaft das gleiche Wertschöpfungsniveau erreicht hatte wie 2022, ist die Erwerbstätigenquote der Menschen von 15 bis 65 Jahre von 68,9 auf 76,7 Prozent angestiegen, nachdem sie seit der Wiedervereinigung bei etwa 65 Prozent stagnierte. Trotz der Zunahme von Teilzeitarbeit ist die Gesamtarbeitszeit aller Erwerbstätigen in diesem Zeitraum von 58,6 auf 62,1 Milliarden Stunden, also insgesamt um 6 Prozent gestiegen. Die offenbar hohe Bereitschaft der großen Masse der Erwerbstätigen, mehr zu arbeiten, konnte den Fach- und Arbeitskräftemangel nicht abwenden, sondern nur mindern.

Unproduktive Wirtschaft

Die ausschlaggebende Ursache für den Fach- und Arbeitskräftemangel ist der verschwenderische Umgang von Wirtschaft und Staat mit der Arbeitsleistung der Erwerbstätigen. Denn anstatt diese knappe Ressource durch verbesserte Arbeitsprozesse möglichst effizient einzusetzen, erreichen Unternehmen und öffentliche Verwaltung seit Jahrzehnten immer geringere Produktivitätszuwächse. Seit der Finanzkrise 2008 sind die jährlichen Zuwächse bei der Arbeitsproduktivität nach jahrzehntelangem Rückgang auf ein noch niedrigeres Niveau regelrecht eingebrochen. Im Durchschnitt erreichte die deutsche Wirtschaft von 2008 bis 2022 nur noch ein Produktivitätswachstum von etwa 0,6 Prozent pro Jahr.

Da die Arbeitsproduktivität kaum noch steigt, erfordert jedes über das Produktivitätswachstum hinausgehende Wirtschaftswachstum mehr Arbeitsstunden der Erwerbstätigen. So stieg das BIP von 2007 bis 2019 um etwa 15,5 Prozent. Nur etwa 9,5 Prozent dieses Wirtschaftswachstums konnten durch Produktivitätsverbesserungen erreicht werden. Damit das BIP um 15,5 Prozent wachsen konnte, mussten die Erwerbstätigen ihre Arbeitsleistung kontinuierlich steigern und weitere 6 Prozent durch Mehrarbeit generieren. 2019 arbeiteten sie insgesamt 3,5 Milliarden Stunden länger als 12 Jahre zuvor.

Verantwortlich für die schwache Produktivitätsentwicklung sind in erster Linie die in allen entwickelten Volkswirtschaften schwindsüchtigen Unternehmensinvestitionen. Die Unternehmen investieren im Verhältnis zu der von ihnen geleisteten Wertschöpfung immer weniger in neue Anlagen und Ausrüstungen. Dadurch ist der produktivitätssteigernde technologische Fortschritt, der seit der Entstehung des Kapitalismus für steigenden Massenwohlstand gesorgt hat, ausgebremst.
Neue Unternehmen, die mit neuen Produkten oder Technologien ein höheres Produktivitätsniveau erreichen könnten, entstehen kaum noch. Auch die seit Jahrzehnten als Produktivitätsbeschleuniger beworbene Digitalisierung einschließlich Industrie 4.0 liefert – auch wegen niedriger Investitionen in neue Prozesstechnik einschließlich der dafür erforderlichen Anlagen – keinen Beitrag zur Überwindung der rückläufigen Arbeitsproduktivitätsentwicklung. Verschärfend wirkt der seit Jahrzehnten immer weiter anschwellende Bürokratie-Tsunami, der nicht nur die Unternehmen belastet, sondern auch die öffentliche Verwaltung aufbläht und dadurch immer größere Anteile der Arbeitszeit für unproduktive Aufgaben verwendet werden müssen.

Seit Jahrzehnten rückläufige Unternehmensinvestitionen in den technologischen Fortschritt haben nicht nur die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, sondern auch das Wirtschaftswachstum auf Talfahrt geschickt. Zwar gelingt es den Staaten der entwickelten Volkswirtschaften mit steigenden Staatsausgaben und -schulden, das andernfalls negative Wirtschaftswachstum in Richtung positiver Werte zu heben. Die Produktivitätsschwäche verfestigt sich durch diese Wirtschaftspolitik jedoch immer mehr, denn die Staaten zielen einseitig darauf ab, den Konsum zu stärken. Sie retten kriselnde Sozialsysteme und schwächelnde Unternehmen mit immer mehr Subventionen und zementieren dadurch unproduktive Strukturen.

Die verheerende Folge dieser Wirtschaftspolitik ist ein zwar nur schleichender Rückgang des Wirtschaftswachstums, aber ein umso größerer Absturz beim Produktivitätswachstum. So kommt es, dass die Arbeitsproduktivität seit etwa dem Beginn der Finanzkrise 2008 sogar noch schwächer wächst als das BIP. Daher entwickelt die Wirtschaft – trotz historisch niedrigem Wirtschaftswachstum – in jedem Jahr einen steigenden Arbeitsbedarf. Der Fach- und Arbeitskräftemangel ist also eine unmittelbare Folge der Produktivitätsschwäche, die die deutsche Wirtschaft seit der Finanzkrise fest im Griff hat.

Es gibt viel zu tun

Der Fach- und Arbeitskräftemangel in Deutschland ist ein durch die Wirtschafts- und Sozialpolitik selbst verursachtes Problem. Wollte man diesen Mangel jedoch überwinden, müssten Probleme angegangen werden, die man in Deutschland schon seit geraumer Zeit verdrängt und beiseiteschiebt, da es attraktiver scheint, sie nur zu verwalten.

Zunächst müssten Wirtschaftspolitiker aufhören, die Produktivitätsstagnation einfach zu ignorieren oder als unveränderlich hinzunehmen. Stattdessen müsste sie in das Zentrum der Wirtschaftspolitik gerückt werden. So könnten die Wirtschaftswissenschaften unter gesellschaftlichen Druck geraten, die Ursachen zu analysieren und Lösungswege aufzuzeigen.

Zweitens müsste zum Thema gemacht werden, dass 6,6 Millionen Menschen in Deutschland ohne Arbeit sind. Es dürfte nicht so getan werden, als gebe es lediglich 2,6 Millionen Arbeitslose. Auch an der Thematisierung dieser Problematik scheint kein Interesse zu bestehen. Nicht umsonst werden die Statistiken geschönt und die Probleme so unter den Teppich gekehrt. Offenbar ist der Anspruch geschwunden, die gesamte erwerbsfähige Bevölkerung in produktive Tätigkeit einzubinden, obwohl der gesamte gesellschaftliche Wohlstand allein auf menschlicher Arbeit beruht. Leichter scheint es, das Heer der Menschen ohne Arbeit immer ausgedehnter zu verwalten.

Drittens müssten die Ursachen für den längst in allen Bereichen der Wirtschaft und Verwaltung erkannten und dennoch ungebremsten Bürokratie-Tsunami analysiert und angegangen werden.


Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

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