Seit zehn Jahren wächst die Erwerbstätigkeit in Deutschland ungebremst. Medien und Politik feiern das deutsche „Jobwunder“. Im November letzten Jahres wurde mit 44,7 Millionen Erwerbstätigen ein neuer Rekord aufgestellt, ein Plus von knapp 5 Millionen seit der Finanzkrise. Obendrein ist ein Ende des Beschäftigungsaufbaus nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil: Zuletzt hat sich der Zuwachs sogar weiter beschleunigt auf plus 700.000 Erwerberbstätige jährlich. Die guten Arbeitsmarktzahlen würden, so Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zeigen, dass „viel erreicht“ wurde. Der Arbeitsmarkt sei „in bester Verfassung“ und „voller Chancen“.
Doch der Schein trügt. Die Verfassung des Arbeitsmarktes ist bei weitem nicht so rosig, wie von Frau Nahles formuliert. Trotz einer Wirtschaft „unter Volldampf“, so Ifo-Chef Clemens Fuest, steigen die Löhne nur sehr langsam. Eine dynamische Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung ließ erwarten, dass höher qualifizierte sowie zusätzliche Jobs entstehen. Beides würde für höhere Löhne sorgen. Lohn- und Wirtschaftsentwicklung scheinen jedoch voneinander entkoppelt – ein „Lohnrätsel“ oder „Lohn-Paradox“, wie viele meinen. So steigen die Nominallöhne zwar seit vielen Jahren um etwa 2,5 Prozent jährlich, allerdings ohne erkennbaren Aufwärtstrend. Zudem wurden die Zuwächse in der Regel von der Inflation wieder aufgefressen. Nur von 2014 bis 2016 blieb real eine kleine Steigerung von gut 1,5 Prozent jährlich übrig, allerdings auch das nur, weil die Inflation in dieser Zeit stark zurückgegangen war. Auch im letzten Jahr hat die Inflation von etwa 1,7 Prozent die Nominallohnsteigerung fast vollständig geschluckt. Ohnehin ist das leichte Plus der letzten Jahre nur ein schwacher Ausgleich für die Beschäftigten, denn seit Anfang der 1990er Jahre stagnieren die Reallöhne. Für viele Beschäftigtengruppen waren sie sogar rückläufig.
Reallöhne zwischen stagnieren und rückläufig
Einen gewissen Beitrag zur geringen Lohndynamik dürfte der niedrige Organisationsgrad und die dadurch in vielen Branchen geringe Durchschlagskraft der Gewerkschaften leisten. Entscheidend für den geringen Lohnzuwachs ist jedoch nicht etwa die vermeintliche Entkopplung von Wirtschafts- und Lohnentwicklung. Die blasse Lohnentwicklung ergibt sich vielmehr gerade aus der engen Verflechtung des Arbeitsmarktes mit einer eher kraftlosen Wirtschaft, der es nicht gelingt, die Voraussetzungen für steigende Löhne zu schaffen. Unter diesen Bedingungen bleiben die Möglichkeiten der Gewerkschaften, einen wirkungsvollen Lohndruck aufzubauen, sehr begrenzt.
So überzeichnet der an den Erwerbstätigenzahlen gemessene Beschäftigungsaufbau die tatsächliche Nachfrage der Wirtschaft nach Arbeit deutlich. Von 2006 bis 2016 ist die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwar um 5 auf 31,4 Millionen angestiegen. Dabei wurden jedoch nur etwa eine Million Vollzeitstellen neu geschaffen, dafür aber etwa vier Millionen Teilzeitstellen. Die Arbeitsnachfrage der Wirtschaft verteilt sich also auf immer mehr Erwerbstätige, die individuell entsprechend weniger arbeiten. Noch 2006 leistete jeder Erwerbstätige im Schnitt 1.425 Arbeitsstunden im Jahr. Bedingt durch die zunehmende Teilzeitarbeit waren es 2016 nur noch 1.363 Stunden. Voraussichtlich erst in diesem Jahr erreicht das Arbeitsangebot der Wirtschaft wieder jene etwa 60 Mrd. Arbeitsstunden, die 1991 von den Erwerbstätigen in Deutschland geleistet wurden.
Zunahme der Unterbeschäftigung
Für die Lohnentwicklung bedeutend ist, dass der Trend zu mehr Teilzeitarbeit nicht ausschließlich den Präferenzen der Beschäftigten entspricht. Der enorme Anstieg der Teilzeitarbeit wird oft vom Arbeitsmarkt erzwungen und kaschiert so eine bedeutende Unterbeschäftigung. Immerhin 13 Prozent der Teilzeitbeschäftigten wünschten sich 1998 eine Vollzeitbeschäftigung, 2008 waren es sogar 23 Prozent. Bis 2014 ging der Anteil dann wieder auf 15 Prozent zurück. Da sich die Anzahl der Teilzeitbeschäftigten seit 1998 aber in etwa verdoppelt hat, ist die absolute Zahl derjenigen, die sich eine Vollzeitstelle wünschen, seitdem deutlich gestiegen. Bei den Teilzeitbeschäftigten ist daher nicht etwa ein Rückgang der Unterbeschäftigung zu erkennen, sondern eine deutliche Zunahme.
Zu einem ähnlichen Ergebnis hinsichtlich der Unterbeschäftigung kommt eine Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit. Demnach ist sie im Zeitraum von 2009 bis 2014 zwar leicht zurückgegangen und dürfte bis heute weiter gesunken sein. Allerdings zeigt die Auswertung der individuellen Beschäftigungswünsche der registrierten Arbeitslosen und der Erwerbstätigen auch, dass die Unterbeschäftigung bisher nur zu einem geringen Teil abgebaut wurde. Trotz der Reduktion um etwa 1,1 Mrd. Stunden weisen die Forscher für 2014 eine Unterbeschäftigung von immer noch 5,6 Mrd. Stunden aus, was etwa 3,4 Millionen Vollzeitstellen entspreche.
Die Unterbeschäftigung hat einen erheblichen Effekt auf die Löhne, sofern die Unterbeschäftigten über ein ähnliches Qualifikationsniveau wie die Beschäftigten verfügen. Eine kürzlich vom Weltwährungsfonds (IWF) veröffentlichten Analyse befasst sich mit dem auffällig niedrigen Lohnanstieg in den entwickelten Volkswirtschaften seit Ausbruch der Finanzkrise. Eine wesentliche Ursache hierfür erkennen die Forscher im großen Lohndruck, der sich aus dem enormen Anstieg der von Unterbeschäftigung geprägten Teilzeitarbeit ergibt. Diejenigen Teilzeitarbeiter, die weiterhin eine Vollzeitbeschäftigung anstreben und über ein ähnliches Qualifikationsniveau verfügen wie die Vollzeitarbeiter, würden mit diesen konkurrieren und auch deren Löhne unter Druck setzen. Dieser negative Effekt sei wesentlich größer ist als es die rückläufige Arbeitslosigkeit vermuten lasse.
Niedriges Produktivitätswachstum
Die in Deutschland dominierende Ursache für die niedrigen Lohnsteigerungen sieht der IWF jedoch im niedrigen Produktivitätswachstum. Länder, die wie Deutschland ein rückläufiges Wachstum der Arbeitsproduktivität aufweisen, seien „mit Gegenwind beim Lohnanstieg konfrontiert, sogar wenn die Arbeitslosigkeit sinkt“. In Deutschland ist dieses Problem besonders akut, denn die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität wächst nur noch mit jährlichen Raten von etwa 0,5 Prozent, das heißt sie stagniert fast. Da die Unternehmen die Voraussetzungen für eine effizientere und kostengünstigere Herstellungsweise nicht mehr schaffen, ist der unternehmerische Spielraum für Lohnsteigerungen limitiert. Lohnsteigerungen sind dann nur durch die Umverteilung der Lasten auf andere gesellschaftliche Gruppen möglich. So könnten die Unternehmen zugunsten höherer Löhne etwa eine niedrigere Kapitalverzinsung akzeptieren oder versuchen, Preiserhöhungen durchsetzen, die dann die Kunden und Konsumenten belasten würden. Auf gesellschaftlicher Ebene führt eine stagnierende Arbeitsproduktivität zu einer Wohlstandsstagnation, weil die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist das gleiche Arbeitsergebnis mit weniger Arbeitseinsatz zu erreichen.
Das Bestreben der Unternehmen für Produktivitätssteigerungen zu sorgen ist unter Berücksichtigung der aktuellen Bedingungen auf den Arbeitsmarkt allerdings sehr begrenzt. Dies hat das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in einem gemeinsam vom Bundeswirtschafts- (BMWi) und Bundesfinanzministerium (BMF) in Auftrag gegebenen Forschungsbericht herausgefunden. Die Lohnkosten seien durch die „seit Anfang der 2000er Jahre bis heute andauernde Lohnmoderation“ so niedrig, dass es für die Unternehmen attraktiver sei, zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen, anstatt in Automatisierung oder Teilautomatisierungen zu investieren. Der gegenwärtige Beschäftigungsboom ergibt sich demnach nicht etwa durch eine innovations- und produktivitätsgetriebene Wirtschaft, sondern er erhält seinen wesentlichen Antrieb aus wirtschaftlicher Stagnation.
Neue Jobs bei Dienstleistungen, nicht in der Produktion
Die in Bezug auf die Produktivität kraftlose Wirtschaftsentwicklung zeigt sich auch beim Blick auf die Wirtschaftsbereiche, in denen die zusätzlich Beschäftigten Arbeit finden. Der Beschäftigungsaufbau erfolgt in erster Linie in solchen Bereichen, die eine nur unterdurchschnittliche Arbeitsproduktivität erreichen und typischerweise im Zeitverlauf auch nur niedrige Produktivitätssteigerungen erzielen. So ist die Anzahl der Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe, das bis 2005 immerhin noch Arbeitsproduktivitätssteigerungen von etwa drei Prozenterreicht hat, seit 2005 nur leicht um knapp 500.000 angestiegen, nachdem in den zehn Jahren davor über 2 Millionen Arbeitsplätze verloren gingen. Neue Jobs sind vor allem im Dienstleistungsbereich entstanden und dort hauptsächlich im Gastgewerbe, im Gesundheits- und Sozialwesen sowie bei freiberuflichen und sonstigen Dienstleistungen.
Die niedrige Produktivitätsentwicklung führt in eine wirtschaftliche Sackgasse. Sie bewirkt bestenfalls eine Ausweitung der Beschäftigung auf dem gleichen oder einem kaum veränderten technologischen Niveau. Dennoch hält das BMF „das sinkende Wachstum der Arbeitsproduktivität als Ergebnis des Beschäftigungsaufbaus der vergangenen Jahre. angesichts der historisch niedrigen Arbeitslosigkeit (für) vertretbar.“
Gelingt es aber nicht diejenigen volkswirtschaftlichen Bremsen zu lösen, die Prozess- und Produktinnovationen zur Produktivitätssteigerung verhindern, so werden weder die Reallöhne noch der gesellschaftliche Wohlstand insgesamt steigen können. Wohlstandssteigerungen für einzelne Arbeitnehmer werden dann im Wesentlichen nur noch durch die Ausweitung der Arbeitszeiten möglich sein. Diesen Weg gehen zunehmend mehr Beschäftigte, denn der Trend zum Zweit- und Dritt-Job ist vor allem bei niedriger entlohnten Tätigkeiten ungebrochen. In die gleiche Kategorie fällt die steigende Erwerbsquote der Menschen im Rentenalter.
Ausweg Zweit- und Dritt-Job
Ohne Produktivitätssteigerungen würden aber auch stark steigende Löhne langfristig zum Problem werden. Deutlich steigende Reallöhne könnten sich durchaus für Beschäftige in den Bereichen ergeben, in denen die Unterbeschäftigung abgebaut ist und die Unternehmen die Löhne dann stark anheben müssten, um entsprechend qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen. Sofern es den Unternehmen dann nicht gelingt die Arbeitsproduktivität zu steigern, würde dies jedoch schleichend die Wettbewerbsfähigkeit aushöhlen und die betroffenen Unternehmen irgendwann einholen. Es ist demnach eine Illusion zu glauben, das vermeintliche Lohnrätsel wäre einfach über die Durchsetzung drastischer Lohnerhöhungen mittels politischer Regulierung zu lösen. Die Ursache für das Lohnrätsel liegt vielmehr darin, dass die Wirtschaft seit mehr als einem Jahrzehnt nur auf einem kaum veränderten technologischen Niveau wächst. Die politische Aufgabe muss es daher sein, sich dieses Problems ernsthaft zu widmen und die Stellschrauben für ein qualitatives, also produktivitätssteigerndes Wachstum zu finden. Nur so werden bessere und besser entlohnte Jobs und mehr Wohlstand möglich.
Alexander Horn lebt und arbeitet als selbstständiger Unternehmensberater in Frankfurt. Er ist Geschäftsführer des Novo Argumente Verlags und Novo-Redakteur mit dem Fokus auf wirtschaftspolitischen Fragen.