Tichys Einblick
Bundesnetzagentur hü, Patrick Graichen hott

Erdgas: Rationierung im Winter droht – Wirtschaftsministerium weiß angeblich von nichts

Die Bundesnetzagentur hat „Engpasszonen“ für Gas definiert, die sie unter strengem Verschluss hält. Betroffene Unternehmen wollen sich gegen die drohende Rationierung wehren. Im Wirtschaftsministerium gibt man Unwissenheit vor: Die Knappheit sei regional nicht zu prognostizieren, so Staatssekretär Patrick Graichen.

IMAGO / Chris Emil Janßen

Erdgas soll nicht zu teuer werden – nun auch mit Preisbremse nach internationalem Vorbild. Aber wie sieht es eigentlich mit der Versorgungssicherheit aus? Experten rechnen nach wie vor mit einer erheblichen Gasknappheit in den kommenden Wintermonaten. Die Politik übt sich in Sparsamkeitsappellen – dabei wäre sie gefragt, alternative Lösungen zu entwickeln, statt die Lösung von Bürgern und Unternehmern zu erwarten.

Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, hört nicht auf zu warnen und fordert die Privathaushalte auf, 20 Prozent des Gasverbrauchs einzusparen. Sonst müsse es Kürzungen bei der Industrie geben. Müller kann sich dabei auf ein Szenario seiner Agentur stützen, nach dem bei Fortschreibung der aktuellen Lage von einem Erdgasdefizit von 222 Terawattstunden ab Dezember dieses Jahres auszugehen ist. Und das entspräche eben rund einem Fünftel oder eben 20 Prozent des Gesamtjahresverbrauchs von etwa 1000 Terawattstunden. Davon verbraucht die Industrie den Löwenanteil von 70 Prozent. 2.500 Unternehmen benötigen 45 Prozent des Gases für die Produktion, 250 von ihnen ganze 30 Prozent.

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Nun mag man den normalen Verbraucher zur Einsparung von 20 Prozent auffordern, damit er sein Scherflein beiträgt, aber erstens ist nicht gesagt, dass es passieren wird. Zweitens würde es auch nicht wahnsinnig viel bringen. Wenn man leere Gasspeicher – unter der Bedingung der herrschenden Knappheit – abwenden will, muss vor allem die Industrie als der Hauptverbraucher mehr Erdgas einsparen, als ohnehin in diesem Szenario vorgesehen ist. Oder die deutschen Gasexporte müssten deutlich verringert werden.

Exporte fließen derzeit nach Tschechien und Österreich, auch nach Dänemark. Rund 700 Gigawattstunden (GWh) sind das pro Tag, denen Importe von rund 3.000 GWh gegenüberstehen. Trotzdem: Ein Exportstopp fällt als Mittel wohl weg. Denn was passierte dann mit dem europäischen Netz? Wie viel Gas könnte Deutschland noch von seinen Nachbarn erwarten, wenn es selbst so unvertrauenswürdig handelt? Wenn der Winter also nicht sehr milde ausfällt oder unerwartet weitere Flüssiggas-Terminals ans Netz gehen, dann kommt die Mangelsituation mit großer Sicherheit auf die deutsche Wirtschaft und die Bürger zu.

Engpasszonen: Definiert, aber nicht öffentlich gemacht

Auf der Seite der Bundesnetzagentur heißt es: „Die Lage ist angespannt und eine weitere Verschlechterung der Situation kann nicht ausgeschlossen werden. Die Gasversorgung in Deutschland ist im Moment aber stabil. Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist derzeit weiter gewährleistet. Die Bundesnetzagentur beobachtet die Lage genau und steht in engem Kontakt zu den Netzbetreibern. … Es wird weiter eingespeichert. Der Gesamtspeicherstand in Deutschland liegt bei 94,07 %. Der Füllstand des Speichers Rehden beträgt 81,71 %.“ Steigende Preise seien aber zu erwarten, die Großhandelspreise bewegen sich „auf sehr hohem Niveau“.

Dieselbe Bundesnetzagentur hat öffentlich von „Engpasszonen“ gesprochen, in denen Versorgungslücken und die Rationierung von Industriegas wahrscheinlich sind. Diese Regionen sollen aber geheim bleiben, wie zuletzt die Welt berichtet hat. Im „Einsatzfall“ einer „nationalen Gasmangellage“ oder auch „nicht-marktbasierten Solidaritätsanfrage eines Mitgliedsstaats“ können dann für einzelne Engpasszonen Gasverbrauchsreduktionen angeordnet werden. In Beispielen gab es etwa Zonen mit den Benennungen „Nord“, „Mitte“ oder „Ost“. Diese Gebiete können wiederum mehrere kleine Engpasszonen enthalten.

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Wörtlich wird das System so erklärt: „Man kann auch davon ausgehen, dass nicht jedes Gebiet in Deutschland gleichermaßen betroffen ist und dass erhöhte Bedarfe in speziellen Gebieten auch vorkommen.“ (Video auf der Seite der Bundesnetzagentur, etwa ab Minute 1:24:30). Das ist eindeutig, auch wenn die Gasmangellage extra als „national“ angesprochen wird. Betroffene Unternehmen rüsten sich nun bereits mit juristischem Beistand gegen die drohende Rationierung. Sie würden gern wissen, wen es zuerst trifft.

Zu tun haben diese Gerüchte mit einer Institution, die eigentlich beruhigen soll und einen beruhigenden Namen trägt: Die „Sicherheitsplattform Gas“ ist allerdings einfach eine große Datenbank, die dazu dient, Abschaltverfügungen zu verschicken, oder auch Mitteilungen, dass ein Unternehmen noch so und so viel Gas verbrauchen darf. Es ist also keine Hoffnungsplattform, sondern eine, die unternehmerisches Handeln einschränkt, wenn sie handelt. Verhindert werden soll so der unkontrollierte Zusammenbruch des Gasnetzes. Die verbleibenden Erdgas-Reserven sollen im Notfall nach Bedürftigkeit zugeteilt werden.

Dazu müssen sich große Gasverbraucher – die besagten 2.500 Unternehmen – auf der Plattform registrieren, die vom Privatunternehmen Trading Hub Europe (THE) betrieben wird. Und schon das wirft laut dem Energierechts-Experten Gernot-Rüdiger Engel der Hamburger Kanzlei Luther Fragen auf, etwa die nach der Sicherheit der übermittelten Daten. Engel ist derzeit zusammen mit Klienten dabei, zu evaluieren, welche Daten noch vom THE abgefragt werden. Im Raum stehen allgemeine Angaben darüber, was die Kosten einer Nichtversorgung wären oder auch welche gesellschaftliche Relevanz das jeweilige Produkt besitzt.

Die Dauer eines „Engpasses“ kann über Sein und Nichtsein entscheiden

Der zweite Unsicherheitsfaktor ist aber für viele Unternehmer nicht minder bedrohlich: Wie wahrscheinlich ist es, dass ihnen das Gas abgedreht wird? Und vor allem: Wenn das passiert, wie lange würde dieser Zustand andauern? Solche Fragen können offensichtlich über Wohl und Wehe, Sein oder Nichtsein eines Unternehmens entscheiden. Insofern ist das Bemühen um Planungssicherheit an dieser Stelle nur zu verständlich.

Das eigentlich Interessante an diesem Notlagenplan ist, dass laut einer Video-Präsentation der Bundesnetzagentur tatsächlich schon „Engpasszonen“ definiert wurden, die aber laut einem Bericht in der Welt „geheim bleiben“ sollen. Der Energierechtsexperte Engel findet das nicht zielführend für die Unternehmen, denen die Möglichkeit genommen werde, „sich frühzeitig auf die drohende Rationierung vorzubereiten“.

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Dabei hätte Engel einen konstruktiven Vorschlag an die Bundesnetzagentur: „Warum werden die Engpasszonen nicht so weit wie möglich identifiziert, damit es dort vorrangig zu einem Brennstoffwechsel kommt?“ Die betroffenen Unternehmen könnten frühzeitig auf Strom oder Heizöl wechseln und so die Gasgesamtbilanz entlasten. „Stattdessen lässt man die Leute im Ungewissen. Das ließe sich vermeiden“, so Engel.

Angeblich sollen vor allem der Süden und der Osten vom Gasdefizit betroffen sein, weil sie direkt an den Pipelines aus dem Osten hängen, während im Norden und Westen andere Pipelines anliefern. Hinzu komme eine schlechtere Speichersituation im Süden und Osten.

Die Antwort von Robert Habecks Klima-Guru: Wortreich und nichtssagend

Angesichts der bestehenden Unklarheit hat der AfD-Bundestagsabgeordnete Harald Weyel eine schriftliche Frage an das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gestellt. Harald Weyel, in seinem früheren Leben Professor für Betriebswirtschaft, stellte die Frage: „Warum werden die Grenzen der besonders vom Gasmangel bedrohten Regionen, der sogenannten ‚Engpass-Regionen‘, nicht öffentlich bekanntgegeben, um den Unternehmen in diesen Regionen die Möglichkeit zu geben, sich frühzeitig auf eine drohende Rationierung vorzubereiten?“

Die Frage beantwortete kein Geringerer als Patrick Graichen höchstselbst, der einflussreiche Staatssekretär hinter Robert Habeck, den manche für den Kopf hinter einem ansprechenden Gesicht halten. Als einflussreicher Strippenzieher im Wirtschaftsministerium und „Habecks wichtigste Stütze für Energie- und Klimafragen“ eignet sich Graichen laut FAZ vor allem „fachlich und durch seine langjährige Vernetzung“. Dabei hat sich inzwischen auch bis zu der Frankfurter Zeitung herumgesprochen, dass Graichen zudem eine der Führungsfiguren der deutschen Ökolobby ist, vor allem durch den von ihm mitgegründeten Thinktank „Agora Energiewende“. Er ist Robert Habecks Klima-Guru im Range eines Staatssekretärs.

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Die Antwort Graichens ist so wortreich wie nichtssagend. „Wann und in welchen Regionen es in Deutschland zu einer Gasmangellage kommen könnte, die den Einsatz des Bundeslastverteilers durch die Bundesregierung erfordern würde, kann derzeit nicht abgeschätzt werden.“ So fängt es schon an. Nicht abgeschätzt werden könnten die „dann vorliegenden Gasimporte und 
-exporte“. Unklar ist laut Graichen auch, wie sich die „regional unterschiedliche Verteilung der Gasspeicher“, „deren Füllstände“ sowie die „regionalen Gasverbräuche“ auf die Lage auswirken werden. Wörtlich schreibt Graichen: „Dies zu prognostizieren ist nicht möglich, da die Absicherung auf und das Verhalten in der Gaskrise der anderen Nachbarstaaten nicht analytisch abbildbar ist.“

Also im Klartext: Die Bundesregierung kann angeblich nicht planen und vorsorgen, weil man nicht weiß, wie die Nachbarn planen und sich verhalten. Graichen weiß aber auch nichts vom „unterschiedlichen Verhalten der Industrie und der Haushalte beim Einsparen des Gases“, das wiederum zu „Verbrauchsverlagerungen zwischen ländlichen und industriegeprägten Regionen“ führen werde. Das könnte vielleicht sogar der heimliche Plan der Grünen sein, die sich ja gelegentlich für eine Abkehr vom Industriestandort Deutschland ausgesprochen haben.

Nun will man die Legende von einer allwissenden Bundesregierung nicht spinnen, aber etwas Planungssicherheit wäre schön, ja notwendig für ein funktionierendes Gemeinwesen mit profitabler Privatwirtschaft. Zumal die „Engpasszonen“ ja laut öffentlicher Aussage der Bundesnetzagentur eine Realität sind, die nur nicht im Detail öffentlich werden soll.

Vor allem diskriminierungsfrei soll sie sein

Der AfD-Abgeordnete Weyel spricht von einem „Albtraum für Unternehmen und Privathaushalte“: „Wenn das Gas nicht reicht, entscheidet die Bundesregierung spontan anhand der Empfehlungen eines Computerprogramms, wer friert und wer pleite geht.“ Dem setze die Europäische Kommission „die Krone auf mit nationalen Sparvorgaben“. Diese würden der ohnehin stark angeschlagenen deutschen Wirtschaft weiter zusetzen.

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Doch der Ampel geht es um etwas ganz anderes. Als formaler und inhaltlicher Höhepunkt des Graichen-Schreibens kann der Satz gelten: „Der Bundeslastverteiler, also die Bundesnetzagentur, hat die Aufgabe, bundesweite Maßnahmen im Falle einer Gasmangellage zu ergreifen, um diskriminierungsfrei zu agieren.“ In diesem Satz wird, wie verschwurbelt auch immer, die offizielle Definition von Engpasszonen abgelehnt, und zwar mit dem grünsten aller Argumente: Man möchte niemanden diskriminieren.

Das ist nett, entbindet das Wirtschaftsministerium aber nicht von einer realistischen Prognose. Und vor allem werden sich die Unternehmen, die aufgrund mangelnder Information bald auf staatliches Geheiß von der Gasversorgung abgeschnitten werden, nichts dafür kaufen können, dass sie in diesem Herbst nicht von Patrick Graichen diskriminiert wurden. Nach wie vor gilt: Vor allem Unternehmen im Süden und Osten könnte es im Winter unerwartet hart treffen.

Denn eins ist trotz allem sicher: „Regionale Engpasszonen“ sind möglich und wahrscheinlich, aber angeblich nicht langfristig prognostizierbar. Die Bundesregierung weiß von einer – aus unternehmerischer Sicht – unmittelbar bevorstehenden Gefahrenlage, aber unterlässt es, die Gefährdeten zu warnen.

Laut Graichen ist die „Sicherheitsplattform Gas“ ein Instrument, um auf der Grundlage tagesaktueller Verbrauchsmeldungen die Verteilung des Gases und damit sowohl eine „bundesweite Gasmangellage wie auch regionale Engpasszonen händelbar machen“. Das ist furchtbares Deutsch, schockierender ist der Inhalt: Anstatt sich die Risiken und Gefahren der aktuellen Situation einzugestehen und frühzeitig Antworten vorzubereiten, scheint Staatssekretär Graichen sich noch immer auf der „Sicherheitsorientierung“ der „konservativen Branche“ Netzbetreiber auszuruhen, die von selbst für ausreichend Erdgas in deutschen Leitungen sorgen soll. Zumindest nach dem Willen der Ampel-Koalition und der Grünen aus dem Wirtschafts-Klima-Ministerium.

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