Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire ist überzeugt: Ohne Atomstrom kann Europa den Kampf gegen den Klimawandel nicht gewinnen. Am 10. Oktober 2021 wendet er sich mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit: „Kernenergie ist sicher und innovativ. In mehr als 60 Jahren hat die europäische Nuklearindustrie bewiesen, dass sie zuverlässig und sicher ist. Sie gehört zu einem der am stärksten reglementierten Wirtschaftszweige der Welt, mit 126 in Betrieb befindlichen Kernkraftreaktoren in 14 europäischen Staaten.“
Einige Tage später meldet sich Frankreichs Staatspräsident zu Wort und verkündet eine Renaissance der Kernenergie. „Atomkraft ist eine große Chance. Sie erlaubt uns, unter den EU-Ländern eines derjenigen zu sein, die am wenigsten Kohlenstoff ausstoßen“, so Emmanuel Macron in einer Rede im Elysée-Palast.
Deutschland dagegen, in ideologischen Grabenkämpfen und Glaubenssätzen verstrickt, plant den Komplett-Ausstieg. Innovative Alternativstrategien: Fehlanzeige. Zum Beispiel Dual-Fluid-Reaktoren, in Berlin von Wissenschaftlern entwickelt. In Tichys Ausblick Talk: „Energiekrise spitzt sich zu – letzte Rettung Kernkraft?“ wird darüber informiert.
„Die europäischen Abkommen erlauben es jedem Mitgliedstaat, seinen eigenen Energiemix festzulegen“, betont Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire.
Und derzeit sieht die Lage in der gesamten EU wie folgt aus, darunter Staaten, in denen neue Reaktoren geplant sind:
Belgien betreibt zwei Atomkraftwerke. Es sind vier Reaktoren am Standort Doel und drei Reaktoren am Standort Tihange.
In Deutschland sind aktuell noch sechs AKW ans Stromnetz angeschlossen. Das Kernkraftwerk Isar 2 nahe München gehört, gemessen an der Nennleistung, zu den drei größten Kernkraftwerken weltweit. Bis Ende 2022 sollen laut der deutschen Bundesregierung alle Kernkraftwerke abgeschaltet werden: Brokdorf Ende 2021, Gröhnde Ende 2021, Gundremmingen Ende 2021, Emsland Ende 2022 Neckarwestheim 2 Ende 2022 und Isar 2 Ende 2022. Nach einer Umfrage Ende Oktober sind 50 Prozent der Deutschen dafür, die geplanten Abschaltungen zurückzunehmen.
Estland ist dabei, sein erstes Mini-AKW zu bauen, einen Small Modular Reactor (SMR). Die Balten wollen sich bis 2025 vom russischen Stromnetz verabschieden.
Finnland: Aktuell (mit Stand April 2019) sind in dem Land vier Reaktoren in Betrieb. Nach jahrelangen Verzögerungen steht nun der Bau des finnischen Reaktors Olkiluoto 3 kurz vor dem Abschluss. Die vom französisch-deutschen Konsortium aus Areva und Siemens gebaute Anlage ist der fünfte Atomreaktor in Finnland und wird der größte Europas.
Frankreich betreibt 57 Reaktoren. Auch Frankreich setzt künftig auf Mini-Kraftwerke (SMR). Macron hält sie für zukunftsträchtig und sprach von der „Neuerfindung“ der Kernenergie.
In Italien werden keine Kernkraftwerke mehr betrieben. Aktuell bringt Umweltminister Cingolani Reaktoren der 4. Generation ins Spiel. Er wirbt dafür, zu Kernkraftwerken zurückzukehren, wenn neue Technologien ausgereift seien. Hintergrund ist auch der deutliche Anstieg der Strompreise. Im dritten Quartal 2021 stiegen die Preise um zwanzig Prozent.
Kroatien betreibt zusammen mit Slowenien ein AKW am Standort Krško. Krško liegt in Slowenien, etwa 20 km von der kroatischen Grenze entfernt.
Lettland unterhält keine Kernkraftwerke. Das Land produziert seine Elektrizität zu gut zwei Dritteln mit drei Wasserkraftwerken.
In Litauen war bis Ende 2009 das Kernkraftwerk Ignalina in Betrieb. Neubaupläne wurden suspendiert. Ignalina erzeugte in den letzten Jahren vor Stilllegung rund 80 Prozent der benötigten elektrischen Energie. Einen Großteil der Stromproduktion übernahm danach das Öl- und Gasturbinen-Heizkraftwerk in Elektrėnai (Quelle: Wikipedia).
Niederlande: Das derzeit einzige AKW der Niederlande liegt im südwestlichen Borssele. Doch im Gegensatz zu Deutschland wird eine Diskussion geführt. Im Vergleich mit erneuerbaren Energien gelten Atomkraftwerke zudem als verlässlicher bei der Einspeisung. Neben Borssele werden bereits seit 1985 zwei weitere Standorte für neue AKW gehandelt: Maasvlakte, nahe Rotterdam, und Eemshaven.
Österreich: Im Jahr 1978 verhinderte ein Volksentscheid mit knapp über 50 Prozent die Inbetriebnahme des fertiggestellten Kernkraftwerks Zwentendorf. Bemühungen, das Kraftwerk später doch noch zu betreiben scheiterten nach dem GAU in Tschernobyl.
Polen will in der Nähe der Ostsee zwei AKW bauen. Insgesamt sechs Reaktoren an zwei Standorten sollen entstehen. 2033 soll ein erster Reaktor ans Netz gehen, weitere sollen folgen.
Rumänien betreibt zwei Reaktorblöcke. Ursprünglich für fünf Kraftwerksblöcke geplant, sind Block 1 und 2 in Cernavodă am Netz.
In Ungarn sind jeweils zwei bzw. vier Reaktoren am Standort Paks in Betrieb. Nach einem schweren Störfall im Jahr 2003 wurde ein Reaktor längere Zeit abgeschaltet. Das AKW Paks lieferte 2019 knapp 50 Prozent des ungarischen Strombedarfs.
Schweden: Aktuell sind in dem Land sechs der ursprünglichen 12 Atomkraftreaktoren in Betrieb. Eigentlich hatte Schweden den Atom-Ausstieg längst beschlossen und sich den erneuerbaren Energien verschrieben. Eine Energie-Krise im vergangenen Winter hat die Debatte neu entfacht. Zwei Unternehmen haben Mini-Kernkraftwerke mit neuer Technik ins Spiel gebracht.
In der Slowakei laufen derzeit vier Reaktoren an zwei Standorten. Bald sollen in der Slowakei zwei neue Meiler ans Netz. Atomstrom sichert jetzt schon 55 Prozent des slowakischen Bedarfs. Dieser Anteil soll wachsen.
Spanien betreibt derzeit fünf aktive Kernkraftwerke mit insgesamt sieben Reaktoren: Almaraz I und II, Ascó I und II, Cofrentes, Trillo I und Vandellós II. Im Land war ein schrittweiser Ausstieg bis 2024 beschlossen; ein neues Gesetz ermöglicht es jedoch, die Nutzungsdauer der KKW zu verlängern.
In Tschechien sind sechs Reaktoren am Netz. Vier Reaktoren am Standort Dukovany und zwei weitere Blöcke in Temelin. Tschechien will raus aus der Kohle, deshalb soll das AKW Dukovany ausgebaut werden.
Irland, Italien, Dänemark, Luxemburg, Malta, Norwegen, Österreich, Portugal und Zypern haben keine Kernkraftwerke am Netz. Auch Griechenland betreibt keine kommerziellen Meiler und beabsichtigt auch nicht, welche zu bauen. Begründet wird es mit der Erdbebengefahr.
EU-Anrainerstaaten: Großbritannien betreibt 15 AKW, die Ukraine ebenfalls 15, die Schweiz vier. Norwegen hat keine kommerziellen Atomkraftwerke, betrieb aber vier Forschungsreaktoren, die inzwischen alle stillgelegt sind.