Vor kurzem haben wir an dieser Stelle auf die Deindustrialisierung Deutschlands als Folge strukturell und dauerhaft veränderter Preisniveaus für importierte Rohstoffe und Energie hingewiesen. Im Ökonomen-Kauderwelsch kann man das auch als Verschlechterung der Terms of Trade der deutschen Volkswirtschaft bezeichnen.
Doch es gibt auch noch andere Gründe, die nicht auf der Importseite der deutschen Industrie angesiedelt sind, sondern auf der Exportseite. Nämlich die politisch forcierte Reindustrialisierung der US-Wirtschaft durch die Hintertür der vorgeblichen Inflationsbekämpfung durch die Biden-Administration (US-Inflationsrate September 2022: 8,2 Prozent).
Es geht um den Inflation Reduction Act of 2022 (IRA) der Regierung Bidens. Der IRA ist laut Wikipedia ein Bundesgesetz der Vereinigten Staaten, das darauf abzielt, die Inflation einzudämmen, indem das Außenhandelsdefizit reduziert, die Preise für verschreibungspflichtige Medikamente gesenkt und in die heimische Energieerzeugung investiert wird, während gleichzeitig saubere Energie gefördert wird. Es wurde vom 117. Kongress der Vereinigten Staaten verabschiedet und am 16. August 2022 von Präsident Joe Biden als Gesetz unterzeichnet.
In Wirklichkeit wird eine Reindustrialisierung der USA durch Ersatz von Importen in die USA durch Produktion in den USA selber angestrebt. Local-Content-Vorschriften erzwingen die Substitution von Importen durch Inlandsproduktion, die Idee des Merkantilismus aus dem Zeitalter des französischen Sonnenkönigs Ludwigs XIV. erlebt eine fröhliche Wiederauferstehung. Be- und getroffen ist vor allem die Autoindustrie, und hier vor allem die deutsche.
Das altehrwürdige Gesetz der komparativen Kosten wird dadurch ausgehebelt. Die von David Ricardo (* 1772, † 1823) entwickelte Theorie der komparativen Kosten besagt, dass sich jedes Land auf Produktion und Export derjenigen Güter spezialisieren sollte, die es mit dem kleinsten absoluten Kostennachteil, respektive größtem relativen, komparativen Kostenvorteil produzieren kann.
An der Stelle des freien Warenaustauschs nach den Gesetzen der komparativen Kosten verfolgt die Administration Biden eine Wiederauferstehung des Merkantilismus, diesmal nicht französischer, sondern amerikanischer Prägung. Die Tage, an denen der Glaube vorherrschte, die Administration Joe Bidens unterscheide sich grundlegend von der nationalistischen Philosophie des America First der Vorgänger-Regierung Donald Trumps sind verschwunden. Reindustrialisierung der USA heißt das Zauberwort, das die US-Handelspolitik umtreibt.
Dieser verkappte Merkantilismus kommt nun im Gewand des Inflation Reduction Act of 2022 (IRA) daher. Ein Gesetz, das die Automobilindustrie nachhaltig verändern wird – in den USA selber, aber auch im Rest der Welt, überall dort, wo Automobile oder Autoteile und Rohstoffe für den Bau von Elektroautos eingesetzt oder für den Export nach den USA produziert werden, vor allem in China.
Die Auswirkung des Gesetzes auf die Inflation ist umstritten, auf die Automobilindustrie aber nicht. Und die ist gravierend!
Statt Fahrzeuge aus Europa zu importieren, müssen die OEMs zukünftig vor Ort produzieren, um Neuwagen-Kunden einen Steuervorteil von bis zu 7500 Dollar zu ermöglichen, den Rivalen wie Tesla, oder GM und Ford mühelos erhalten. Konkret besagt das Mitte August verabschiedete neue Gesetz zur Stärkung der lokalen Wirtschaft und Bekämpfung der Inflation in den Vereinigten Staaten (im September 8,2 Prozent), dass künftig nur Fahrzeuge subventioniert werden, deren Endmontage in Nordamerika stattfindet, deren Batterien größer sind als 7 kWh und deren Preis unter 55.000 (Pkw) beziehungsweise 80.000 Dollar (SUVs/Pick-ups) liegt (Angaben laut Automobilwoche).
Der bisherige Deckel von 200.000 geförderten Fahrzeugen pro Hersteller jährlich soll in Zukunft wegfallen. Das kommt vor allem Tesla zugute. Dazu kommt der wohl komplizierteste Aspekt des neuen Gesetzes: Ab 2023 müssen 40 Prozent der kritischen Rohstoffe (unter anderem Lithium, Nickel, Grafit) der Batteriebestandteile in den USA oder einem Land, mit dem die USA ein Freihandelsabkommen unterhalten, abgebaut oder verarbeitet werden. 2026 werden es sogar 80 Prozent der Rohstoffe sein. 50 Prozent des Batteriepacks müssen zudem ebenfalls in den USA endmontiert werden. Auch dieser Wert steigt bis 2028 auf volle 100 Prozent.
Konkret heißt das, dass eine Förderung von Elektrofahrzeugen nur bei einem hohen Anteil der Wertschöpfung und einer Endfertigung in Nordamerika stattfindet. Damit ändern sich die Marktvoraussetzungen in den USA für deutsche Hersteller komplett.
Für deutsche Hersteller von Elektroautos auf dem US-Markt ist das ein massiver Wettbewerbsnachteil. Entsprechend groß ist die Aufregung. Experten sehen ein großes Umdenken für die Autoproduktion in den USA voraus. Insbesondere Hersteller, die einen Großteil ihrer Fahrzeuge importieren, werden unter Druck geraten. Wie einschneidend die Auswirkungen sind, zeigt ein Blick auf die Modelle, die laut US-Energieministerium ab dem Jahr 2023 förderfähig sind (alle nachfolgenden Angaben entstammen der Automobilwoche, 02.11.2022). Demnach schrumpft das Portfolio von BMW von derzeit acht Modellen auf nur noch zwei: die Plug-in-Hybride 330e (gebaut im mexikanischen San Luis Potosí) und X5 aus dem Werk in Spartanburg in South Carolina.
Audi trifft es noch härter. Die Ingolstädter haben aktuell noch sieben förderfähige Hybride und Elektroautos im Verkauf. Nach den Kriterien des Inflation Reduction Acts bleibt im Jahr 2023 davon nur der Q5 aus dem Werk im mexikanischen San José Chiapa übrig.
Alle Hersteller sind sich darüber einig, dass die Biden-Initiative kurzfristig den Absatz von E-Autos deutscher Provenience dämpfen wird. Audi denkt bereits über Gegenmaßnahmen nach und prüft laut Entwicklungsvorstand Oliver Hoffmann sogar den Bau eines Werks in den USA. BMW ist da schon einen Schritt weiter: Die Münchner investieren 1,7 Milliarden Dollar in den Standort Spartanburg, um bis 2030 sechs vollelektrische Modelle im US-Werk zu bauen. Doch auch in München sieht man die großen Herausforderungen durch das neue US-Gesetz.
Fakt ist, dass mit dem IRA Produktion aus China und Deutschland nach den USA abwandern muss, will man den US-Markt nicht verlieren. Das sieht auch der Verband der Automobilindustrie (VDA) so. Der VDA beurteilt den Weg der US-Regierung skeptisch. Präsidentin Hildegard Müller unterstützt zwar den Hochlauf der Elektromobilität in den USA und begrüßt grundsätzlich die Förderung der Elektromobilität. „Allerdings sehen wir kritisch, dass diese Förderung an Auflagen gebunden ist, die sich auf lokale Wertschöpfung beziehen …“
Die EU-Kommission hat die neuen Regelungen der US-Regierung, die bald in Kraft treten sollen, mit Recht kritisiert und deren WTO-Konformität angezweifelt. Die Bundesregierung sollte nun die rechtliche Analyse der EU unterstützen und sich für eine WTO-konforme Regelung einsetzen, damit die deutsche Automobilindustrie nicht benachteiligt und E-Mobilität in den USA nicht ausgebremst wird.“
Betroffen sind vor allem auch die ausländischen Zulieferer, vor allem aus dem Batteriebereich. Denn nicht für die OEMs, auch für die Zulieferer ändert sich das US-Geschäft. Für die Zulieferer wird vor allem die Frage nach den Verarbeitungsprozessen der kritischen Rohstoffe ausschließlich in den USA spannend. Alexander Timmer, Partner bei der Strategieberatung Berylls, sagte der Automobilwoche: „Das führt dazu, dass in Nordamerika immense Zellkapazitäten von chinesischen und koreanischen Unternehmen wie LG, Samsung und CATL aufgebaut werden. Auch Hyundai errichtet in Nordamerika ein neues Werk. Dafür werden viele europäische Zulieferer angefragt, um vor Ort Werke aufzubauen.“
Kongresswahlen stehen an, am 8. November sind Zwischenwahlen, die sogenannten Midterms, zum Senat und Repräsentantenhaus angesetzt. Die regierenden Demokraten haben jeweils nur eine knappe Mehrheit. Erobern die von Ex-Präsident Donald Trump dominierten Republikaner eine der beiden Kammern in Washington, wird es für die Biden-Regierung grundsätzlich deutlich schwieriger, ihre Politik durchzusetzen.
Optimisten aus der deutschen Autobranche, die dann auf eine mögliche Entschärfung in der Auslegung des Inflation Reduction Acts hoffen, dürften sich allerdings täuschen. Unter der Parole „America First“ könnten Trump und Gefolge eher eine zusätzliche Verschärfung anstreben.