«Ich weiss gar nicht, wie ich das meiner Tochter erklären soll», sagte die alte Dame am Telefon. Franziska M.* hatte ihr Leben lang als Serviertochter gearbeitet. Um nach der Pensionierung ihren grossen Lebenstraum zu verwirklichen: eine Kreuzfahrt mit ihrer Tochter zu unternehmen. Der zerbrach, als die US-Zockerbank Lehman Brothers am 15. September 2008 ihren Bankrott erklärte.
Der Zusammenhang mit ihrem Lebenstraum war Franziska K. anfänglich überhaupt nicht klar. Wie viele andere Schweizer Bankkunden hatte sie ihrem Berater vertraut, der ihr angesichts des unter der Inflation liegenden Zinssatzes auf einem Sparbuch eine angeblich bombensichere Anlage schmackhaft gemacht hatte. Er händigte ihr dafür eine Broschüre aus, auf der gross das Logo der Credit Suisse prangte, und im Titel standen vertrauenserweckende Worte wie «Basket von Schweizer Obligationen» und «Total Return». Der finanztechnischen Laiin erklärte ihr Berater, dass es sich hier um einen Korb mit hochseriösen Schweizer Obligationen handle, und Total Return bedeute, dass auf jeden Fall Zinsen gezahlt würden, unabhängig davon, wie sich die Obligationen verhielten. Ausserdem stehe hinter dieser Anlage eine Bankgarantie, sicherer gehe es wirklich nicht.
Was er nicht sagte: Beim Prospekt handelte es sich um ein sogenanntes «White Labeling», also die Schweizer Bank klebte ihr Logo auf ein Fremdangebot. Und was er auch nicht sagte: Im Kleingedruckten des Prospekts stand «Emittent: Lehman Brothers». Was er ebenfalls nicht sagte: Franziska M. hatte keineswegs einen Korb voll Schweizer Obligationen gekauft. Sondern nur den Korb, einen Wettschein, ein Derivat, ein Papier, das versprach, analog zur Entwicklung dieser Obligationen Zinsen auszuschütten. Wie schätzungsweise 5.000 weitere Schweizer Kunden, die vor allem durch die Credit Suisse in solche Körbe ohne realen Inhalt mit hineinberaten worden waren, verlor Franziska M. ihre gesamte Anlage von 25.000 Franken. Denn was sie nicht wusste, was nicht einmal viele Bankberater wussten: Bei einem solchen Papier haftet nicht die Bank, deren Logo zuoberst steht, sondern der Emittent, der Herausgeber.
Auf diesen Umstand machte die Credit Suisse die Käufer solcher Papiere nach der Pleite von Lehman aufmerksam. Sie teilte im weiteren mit, dass häufig in den kleingedruckten Allgemeinen Geschäftsbedingungen darauf hingewiesen worden sei, dass es theoretisch möglich sei, dass es bei dieser Anlage zu einem Totalschaden kommen könne. Und schliesslich hafte der Emittent, nicht die CS, womit Geschädigte ihre Forderungen doch allenfalls beim Konkursverwalter in den USA anmelden sollten. Aber an Entschädigung seitens der CS gebe es keinen Rappen.
«Wir haben die Geschichte schon mehrfach gefahren, aber es melden sich immer mehr Betroffene, mit deren Einverständnis würde ich Dir die Adressen geben, wir sind da etwas ausgeschossen», sagte mir ein Journalist des Boulevardblatts «Blick». Es waren die Zeiten, als sich nach der Pleite von Lehman Brothers auch in der Schweiz gelegentlich Schlangen vor Bankschaltern und Bankomaten bildeten, weil verunsicherte Kunden ihr Guthaben abheben wollten. Als ich begann, mit den ersten Lehman-Opfern Kontakt aufzunehmen, stellte ich schnell fest: Es handelte sich eigentlich ausnahmslos um finanztechnische Laien, Kleinanleger, die keineswegs spekulieren wollten, sondern lediglich eine sichere Anlage suchten, bei der ihnen die Inflation nicht einen Teil des Ersparten wegfrass.
Mir war auch klar: Ich kann etwas, was all diese Opfer sicher nicht können: Öffentlichkeitsarbeit. Nachdem es mir einige Male den Magen umgedreht hatte, als ich ähnliche Schilderungen wie von Franziska M. gehört hatte, ältere Menschen am Telefon hatte, die weinten, andere, die hilflos schimpften, wieder andere, die androhten, sich etwas antun zu wollen, fasste ich den Entschluss, einzugreifen. Ich gründete den Verein der Schweizer Lehman-Opfer, ordentlich mit Statuten und Vorstand, der mich zu seinem Sprecher ernannte. Denn ich selbst war kein Geschädigter. Mit diesem Resonanzverstärker, ich war nicht mehr länger der Bankenkritiker, sondern der Sprecher eines Vereins, der in Windeseile weit mehr als 1.400 Mitglieder hatte, konnte ich in der Öffentlichkeit auf die Kriegstrommel schlagen.
Dann tat mir die Credit Suisse noch den Gefallen, mich wegen eines Zeitungskommentars einzuklagen; ich hätte ihr vorgeworfen, einen Bankraub zu betreiben, damit hätte ich ihren Ruf geschädigt, und der Streitwert liege mal bei 100.000 Franken aufwärts. Das verstärkte natürlich den Druck auf die Bank, aus Reputationsgründen einzulenken. Also machte sie allen Geschädigten durch Lehman-Papiere ein Angebot in der Höhe von insgesamt 150 Millionen Franken. Das war ein Bruchteil der gesamten Schadenssumme, die bei über vier Milliarden Franken lag. Aber immerhin 150 Millionen Franken mehr, als die Bank am Anfang zu zahlen bereit war.
Nicht alle Geschädigten waren damit einverstanden, so abgespeist zu werden. Aber sie standen zwei bis heute noch nicht gelösten Problemen gegenüber. Sie mussten den Rechtsweg beschreiten, um zu ihrem Geld zu kommen. Dabei mussten sie nicht nur ihren Schaden nachweisen, sondern auch ein schuldhaftes Verhalten der Credit Suisse, bzw. von deren Angestellten. Und da stand natürlich im Zweifelsfall Aussage gegen Aussage. Die des Bankmitarbeiters, dass er den Kunden auf alle Risiken hingewiesen habe und auch darauf, mit seiner Unterschrift zu bezeugen, dass er schriftlich in den AGB darüber belehrt worden sei. Gegen die Aussage des Kunden, der sagte, dass es keinerlei Hinweise auf Risiken gegeben habe, er im Gegenteil mehrfach darauf bestanden habe, dass er nur sichere Anlagen wolle und davon ausgegangen sei, dass er ein Produkt der Credit Suisse kaufe, das aus einem Korb von erstklassigen Schweizer Papieren bestehe, zudem mit einer Bankgarantie besichert sei.
Das zweite bis heute ungelöste Problem bestand darin, dass die Rechtsprechung in der Schweiz das Instrument der Sammelklage nicht kennt. Genauso wenig wie die Einzelklage, die zur Grundlage für alle weiteren Urteile in der gleichen Sache wird. Das bedeutete, dass jeder einzelne Geschädigte den Rechtsweg beschreiten musste, mit zusätzlichen Ausgaben für einen Anwalt und dem Risiko, am Schluss zu verlieren, da die Grossbank natürlich einen viel längeren Atem und ein wohlbestücktes Anwaltsnetz hatte. So versuchten nur sehr wenige Lehman-Opfer, vor Gericht zu ihrem Recht zu kommen, alle entsprechenden Prozesse wurden verloren. Oder aber, wenn gewisse Aussichten bestanden, räumte die Credit Suisse die drohende Niederlage mit einem Vergleich, der auch eine Stillschweigensvereinbarung umfasste, aus dem Weg.
Nachdem nichts mehr herauszuholen war, löste sich der Verein der Schweizer Lehman-Opfer ordnungsgemäss auf. Es war ein Kampf von David gegen Goliath. Dem Triumph, immerhin einen dreistelligen Millionenbetrag als Schadenersatz erkämpft zu haben, haftete der schale Beigeschmack an, dass das nur ein Bruchteil der Summe war, die insgesamt verloren wurde. Und mit der Entschädigung kaufte die Credit Suisse natürlich die entsprechenden Lehman-Papiere wieder zurück. Wohlwissend, dass der bis heute noch nicht abgeschlossene Konkurs der Lehman-Bank durchaus am Schluss eine Konkursdividende abwerfen wird, die sicherlich viel höher als Null ist.
Nachdem sich der Pulverdampf verzogen hatte und ein Jahr später auch die Klage gegen mich mit einem für die Credit Suisse unvorteilhaften Vergleich aus dem Weg geräumt worden war, bleibt, dass damals Schweizer Bankberater ihre Unschuld verloren. Vorher waren sie geadelt durch den Begriff Bankbeamte; was sie empfahlen, war sozusagen amtlich, ihre Autorität als Finanzspezialist unbestritten. Jeder wusste, dass die Bank natürlich auch nicht von Luft und Liebe lebt, sondern sich für ihre Dienstleistungen entschädigen lässt. Aber man war sich in der Schweiz sicher, dass Kundenberatung im Sinne des Kunden stattfand, dass er nicht befürchten musste, über den Tisch gezogen zu werden.
Das ist seither und bis heute anders. Der verantwortungsbewusste Anleger glaubt seinem Bankberater kein Wort mehr, wenn er es nicht von einer unabhängigen Instanz hat überprüfen lassen. All der Schönsprech der Banken hat seine Wirkung verloren, die «vorteilhaften Angebote», die «sicheren Tipps», die «einmaligen Anlagechancen», die «stabile, aber dennoch ertragreiche Anlage», all das prallt am Misstrauen des Kunden ab. Der inzwischen weiss, dass sein Berater keiner ist, sondern ein Verkäufer. Ein Verkäufer, der Vorgaben zu erfüllen hat, Umsatz zu generieren, Abschlüsse vorzuweisen. Unter der ständigen Bedrohung, bei ungenügender Performance entlassen zu werden. Die gute Nachricht ist höchstens: Heutzutage bekommt der Kunde einen Bankberater meistens nur noch dann persönlich zu sehen, wenn seine Anlage mehr als 500.000 Franken, lieber noch eine Million aufwärts, beträgt.
*Name der Redaktion bekannt.