Vergangene Woche blockierte eine schwedische Studentin ein Flugzeug, weil sie eine Abschiebung verhindern wollte. Das Flugzeug konnte während zwei Stunden nicht abheben. Ihre Aktion übertrug Elin Ersson per Live-Video bei Facebook. „Er wird nach Afghanistan abgeschoben, wo er mit grosser Wahrscheinlichkeit getötet wird“, sagt sie. Sie werde sich nicht hinsetzen, bis diese Person aus dem Flugzeug gebracht wird. Genervte Fluggäste rufen: „Sie stören die Leute und mir ist egal, was sie denken!“ Andere beklatschen ihren Aktivismus. Unter Tränen filmt sie sich weiter und erhält noch mehr Applaus. Schliesslich verlässt der 52-jährige Afghane die Maschine.
Soziales Engagement ist gut. Die Welt braucht Aktivisten, um Umdenken und Veränderungen herbeizuführen. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte, wo Aktivismus die Welt ein bisschen zum Besseren verändert hat. Die Absichten der 21-jährigen sind grundsätzlich nobel und ehrenwert. Sich für Menschen einzusetzen, kann nie schlecht sein. Ich traue der angehenden Sozialarbeiterin zu, dass ihre Handlung tatsächlich auf Nächstenliebe beruht und nicht auf dem Verlangen nach Beifall, wie es ihr einige vorwerfen.
Das Problem an dieser Art von Aktivismus ist, dass er den Anstrich von Egozentrik hat. Denn das Erzwingen einer Flugzeug-Blockade hat Konsequenzen für alle Anwesenden. Mit ihrer Störaktion werden Besatzung und Fluggäste genötigt, an ihrer Aktion teilzuhaben so à la „Was ich richtig finde, hat die ganze Welt richtig zu finden. Sonst erzwinge ich es eben. Unannehmlichkeiten aller anderen sind mir dabei schnurzegal.“ Das habe ich bei Twitter geschrieben. Vielleicht hat ja keiner der Passagiere auf dieser Reise von Göteborg nach Istanbul einen Anschlussflug verpasst, vielleicht keiner ein Bewerbungsgespräch, den Abschied von einem sterbenden Verwandten. Und was sind schon ein paar Unannehmlichkeiten, wenn es um ein Menschenleben geht?
Es gibt viele, darunter die üblichen Prominenten, die Ersson für ihre Zivilcourage bejubeln. Der Schweizer Blogger Reda El Arbi antwortete mir bei Twitter: „Liebe Tamara, ich würde dann gerne deinen Tweet lesen, wenn der Mann ausgeschafft, gefoltert und umgebracht wurde. Sich für einen Menschen einsetzen, der vielleicht verrecken wird, ist genau die Art von Aktionismus, die Leuten ohne Ethik und mit kaputter Seele auf die Nerven geht.“
Ich habe darüber lange nachgedacht und mit Leuten gesprochen, die diese Meinung auch vertreten. Und ich kann sie teilweise nachvollziehen, kann auch die Emotionalität hinter der Aussage verstehen. Es ändert an meiner Position aber nichts.
Denn dass der Mann, zurück in seiner Heimat, an Leib und Leben bedroht wird, ist eine Projektion beziehungsweise eine Annahme der Aktivistin und ihrer Sympathisanten. Verschiedene europäische Länder, darunter Großbritannien, Deutschland und die Niederlande, schaffen Flüchtlinge nach Afghanistan aus, ihre Gerichte haben das Land als „sicher genug“ für die Rückführung eingestuft. Auch die Schweiz schafft Personen nach Afghanistan aus; Afghanen haben in der Schweiz nur geringe Chancen auf Asyl. Laut der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenplattform Swissinfo.ch stufen die Schweizer Behörden das Land zwar als unsicher ein, die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif gelten gemäss dreier Grundsatzurteile des Bundesverwaltungsgerichts jedoch als sicher. Die Situation würde laufend analysiert. Martin Reichlin, stellvertretender Kommunikations-Chef im Staatssekretariat für Migration (SEM) sagt: „Die Zumutbarkeit einer Rückkehr wird im Einzelfall geprüft. Kommt man zum Schluss, dass bestimmte Rahmenbedingungen, wie etwa eine gesicherte Wohnsituation und ein tragfähiges soziales Netzwerk, erfüllt sind, dann ist eine Rückführung grundsätzlich möglich.“ Auch die linksliberale britische Zeitung The Guardian schreibt in dem Zusammenhang, dass Afghanistan als „sicher“ gälte, obwohl humanitäre Gruppen das Land als „brüchig“ bezeichnen – und 2017 über 3.000 Zivilisten getötet worden seien.
Gemäss der Logik der jungen Dame – dass man Personen nirgendwohin bringen darf, wo es potentiell gefährliche Orte hat – müsste man ja etwa auch den Vollzug von Gefängnisstrafen mit Störaktionen zu verhindern versuchen, denn auch im Knast kann es für Insassen gefährlich, ja lebensbedrohlich sein. Gemäss einem Bericht von Human Rights Watch wurden zum Beispiel in den USA im Jahr 2007 über 70.000 Insassen vergewaltigt. Laut der US-Website Slate, die sich auf eine Statistik des Bureau of Justice beruft, liegt die Zahl der Insassen, die in US-Gefängnissen zwischen 2000 und 2010 ermordet wurden, circa bei drei von 100.000.
Man kann jetzt einwenden, der Vergleich hinke. Weil der Haftstrafe ja eine Verurteilung aufgrund einer Straftat vorranging und bei dem abzuschiebenden Afghanen vielleicht nur ein Formfehler vorliegt. Das stimmt. Aber gerade ein Land wie Schweden, das seit Jahrzehnten eine ultraliberale Einwanderungspolitik betreibt, und wo unter den Politikern der progressive Glaube an die multikulturelle Diversität vorherrscht, schiebt Menschen nicht leichtfertig ab. Der Fall wurde wohl genaustens geprüft.
Vor allem aber kennt die Studentin selber den Grund der Abschiebung nicht. Sie weiss nicht, ob die Person als Gefährder gilt oder ein Verbrechen begangen hat – denn laut The Guardian wollte sie an dem Tag eigentlich die Abschiebung eines anderen, jüngeren Afghanen verhindern. Dieser war aber gar nicht an Bord, wie sie dann im Flugzeug realisierte. Stattdessen wurde der 52-jährige abgeschoben – zu seiner Rettung hatte sie sich dann offenbar spontan entschieden. Sie hatte somit weder Zeit noch Mittel, sich mit dem Fall vertraut zu machen. Der Abschiebungsgrund dürfte ihr auch egal gewesen sein.
Ginge es nach Ersson, müsste man wahrscheinlich ganz Afghanistan evakuieren und die Menschen in Europa aufnehmen. Und die Bevölkerungen einer ganzen Reihe weiterer Länder auch. Der gesunde Menschenverstand aber sagt mir, dass das nicht möglich ist. Selbstverständlich gebietet es die Humanität, Menschen, die an Leib und Leben bedroht sind, zu helfen. Jedes Menschenleben ist gleich viel wert, jedes Menschenleben muss geschützt werden. Ich vertraue aber den Einschätzungen der Behörden europäischer Länder (und muss ihnen vertrauen). Ich deute deren Analyse so, dass die Lage in Afghanistan an bestimmten Orten gefährlich ist, eine Rückführung aber keine grundsätzliche Bedrohung an Leib und Leben darstellt.
In der heutigen Zeit, wo Medien, Promis und ein (lauter) Teil der Gesellschaft den Flüchtlings-Aktivismus frenetisch beklatschen, bin ich mir nicht sicher, ob so eine Aktion besondere Zivilcourage erfordert. Wie Bild.de schreibt, sind mittlerweile vier Anzeigen gegen Elin Ersson erstattet worden (Grund: Gefährdung der Luftsicherheit) – ich kann mir gut vorstellen, dass sich eine ganze Reihe von Migrations-Anwälten für den Fall zur Verfügung stellt und ein mögliches Bußgeld von Sympathisanten übernommen wird.
Und ganz grundsätzlich beschäftigt mich noch dieser Gedanke: Es ist ja so einfach, gute Absichten zu beklatschen und mit dem Finger höhnisch und abgrundböse auf all jene zu zeigen, die die „Drecksarbeit“ erledigen, rechtsstaatliche Entscheide wie Abschiebungen veranlassen oder durchführen müssen, wie etwa ein Innenminister oder Polizisten bei der Arbeit. Aber viele dieser applaudierenden selbsternannten Wohltäter wohnen in Gegenden, die weit weg sind von Problemen im Alltag, die hunderttausendfache Einwanderung von hauptsächlich jungen Männern aus fremden und patriarchalisch geprägten Kulturen mit sich bringt – es sind Leute, die sich hinter ihrer „guten“ Meinung (und den meterhohen Mauern ihrer Promi-Villen) verschanzen. Es ist auch einfach, aus ideologisch-emotionalem Antrieb heraus ständig „helfen, helfen, helfen!“ zu rufen, so nach dem Motto „Hauptsache helfen – wie’s geht, ist mir völlig egal!“, wenn Entscheide fällen und Lösungen finden dann doch immer an den anderen liegt. Wer das „allen helfen!!!“ über alles andere stellt, der hilft am Ende niemandem.
Was bleibt also von dem forcierten Flugabbruch? Wie Tagesschau.de schreibt, sei der Afghane wieder in Polizeigewahrsam und „soll weiterhin abgeschoben werden, dann vielleicht in einem Privatjet“. Verhindern konnte Elin Ersson die Ausweisung nicht.
Für seine Anliegen demonstrieren ist das eine, sie durch illegale Mittel und unter Nötigung von Unbeteiligten zu erzwingen, etwas anderes. Wenn wir zulassen, dass Aktivisten rechtsstaatliche Entscheide verhindern, weil sie nicht in ihrem Sinne sind, können wir gleich die ganze Gesellschaftsordnung über den Haufen werfen. Mit dieser Art von Aktivismus kann ich nichts anfangen. Ich hoffe, dass die Frau – gemäss dem üblichen Verfahren – zur Rechenschaft gezogen wird.