In Thilo Sarrazin findet der Hass der neuen Linken seinen Brennpunkt. Schon in der Grundschule wurde mir schlimmes über ihn eingebläut, ich weiß gar nicht mehr so recht, was es genau war. Nur das Bild des bösen, griesgrämigen, alten Mannes ist geblieben. Ich kenne kaum einen Menschen, der in so breiten Teilen der Bevölkerung allein dafür bekannt ist, böse zu sein. Selbst in die unpolitischsten Winkel der Berliner Jugend hinein, die ansonsten den 1. nicht vom 2. Weltkrieg zu unterscheiden weiß, ist der Name ein Begriff.
Politisch konnte ich dieses Sarrazin-Gerücht mit zunehmendem Interesse überwinden, doch das Bild vor dem inneren Auge lässt sich nicht so leicht verändern. Sowie einige Ossis, die den Sozialismus zwar mehr hassen als jeder andere, aber dennoch die Idee vom bösen Kapitalismus oder dem netten Bruder Russland nicht so recht loswerden. Und so blieb mein Bild von Thilo Sarrazin: Ein pessimistischer Zyniker, ein harter Charakter. Dann lernte ich ihn kennen.
Nun will ich nicht zuviel psycho-telepathische Theorien aufstellen über das Für und Wider eines Charakters, nur so viel sei gesagt: Selten habe ich einen Menschen getroffen, dessen Mythos so diametral zur Wirklichkeit steht. Meine Redakteurin und ich kommen mit Stativen beladen bei ihm zuhause an. Schöne Krawatte, sagt er. Zum Glück weiß er nicht, wer sie gebunden hat, denke ich. Wir plaudern, während ich die Kamera in seinem Wohnzimmer ausrichte, ich sage ihm, er solle gerne möglichst viel erzählen, möglichst persönlich. Das erste, was er dann tut, ist einige Vasen aus dem Video-Hintergrund zu nehmen – sei ihm zu persönlich, sagt er. Na, das kann ja heiter werden, denke ich.
Kamera an, Ton ab. Während ich die lange Liste der Titel und Posten des Thilo Sarrazin aufzähle, schaue ich zu ihm herüber und denke mir: wie soll ich diesem Mann jetzt ein persönliches Wort aus der Tasche ziehen. Doch dann ist meine erste Frage gestellt und er beginnt zu erzählen, von seinen Großeltern, von seinem Leben, von seiner Kindheit. Die Zeit vergeht, nach zehn Minuten fällt mir ein, dass ich vielleicht mal eine neue Frage stellen sollte.
Das Gespräch können Sie sich anschauen. Also: Kamera aus, danke für das Interview. Wir stehen vor Sarrazins Bücherregal. Diese Reihe der Weltliteratur hat ihm sein Vater geschenkt, damals. Nur einige Bücher hat der ihm erst später gegeben, die waren zu anzüglich. Wir lachen. Er fragt, wie wir, ich und meine Redakteurin, es denn so halten mit dem Lesen. Ja, sagen wir, gelesen haben wir auch schon mal, Asterix. Auweia, hoffentlich hat er das jetzt verstanden. Ich wurde bisher immer für ausgesprochen gebildet und belesen gehalten für mein Alter – ohne jetzt angeben zu wollen, oder vielleicht schon ein bisschen. Aber wenn Sarrazin dann erzählt, was er bereits alles im Alter von elf Jahren gelesen hatte, fühlt man sich für einen Moment, als wäre man nicht so ganz helle in der Birne. Vielleicht ist das der Grund, warum er so gehasst wird. Asterix, sagt er – und zu meiner großen Erleichterung: er lacht dabei.
Und so stehen wir vor seinem Bücherregal und plaudern an diesem Montagvormittag. Er will mir Tipps geben, wie ich das alles handhaben soll und wie man so vorwärts kommt im Leben. Und ich solle nie pessimistisch sein, sagte der 75-Jährige zum 18-Jährigen, „es geht alles immer weiter: Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit. Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“