Der Buchstabe V steht für Vielleicht, Vermutlich. Fehler sind unvermeidlich, gibt unumwunden Gesundheitsminister Jens Spahn zu und das ist ein für Politiker in Deutschland selten ehrliches Eingeständnis. „Dass wir miteinander wahrscheinlich viel werden verzeihen müssen, in ein paar Monaten, […] weil wir noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik – und vielleicht auch darüber hinaus – in so kurzer Zeit und unter solchen Umständen, mit dem Wissen, das verfügbar ist und mit den Unwägbarkeiten, die da sind, so tiefgreifende Entscheidungen haben getroffen werden müssen.“ Tatsächlich ist das Wissen über Corona begrenzt – und auch über die Folgen einer Pandemie und eines globalen Shutdown. Wer Genaueres weiß, werfe den ersten Stein.
Wie es damals war
Deutschland fing drohende Arbeitslosigkeit mit Ausweitung der Kurzarbeit und einem Konjunkturprogramm auf – die Baustellen der Autobahn oder bei der Bahn sind zum Teil heute noch offen. Der wirtschaftliche Absturz folgte der Form des V – steiler Absturz, aber auch schneller Aufstieg, der den Wachstumseinbruch sogar überkompensierte und noch schneller als von Optimisten erwartet über höhere Steuereinnahmen die Staatsschulden tilgte. Mit erstaunlicher Routine und Schnelligkeit hat die Bundesregierung die damaligen Pläne aktiviert – und mit einer zusätzlichen Null oder sogar mehreren hinter den Programmen versehen. Bis zum 22. April dieses Jahres haben rund 718.000 Betriebe, und damit jeder dritte Betrieb in Deutschland, Kurzarbeit angemeldet. Deutschland wendet damit 60% seiner gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung für Unterstützungen auf, Stand Ende April. Das ist ein Rekordwert – gemessen an der Wirtschaftsleistung ist das fünfmal so viel wie in den USA; dreimal so viel wie Italien oder Großbritannien ausgeben, mehr als doppelt so viel wie Frankreich. Die Erwartung ist klar: Auch wenn die Anzahl der Kurzarbeiter 20 oder 30 mal höher ist als während der Finanzkrise – der Wiederaufstieg gelingt nach dem Ende des Lockdown umso schneller, wenn die Fabriken einfach wieder angefahren werden können, weil die Mitarbeiter darauf warten. Ein Land wird in einen künstlichen Schlaf versetzt, und der Kuss des Prinzen erweckt Dornröschen wieder aus dem Schlaf. Das ist die Theorie des Lockdown.
Aber was, wenn der Prinz auf sich warten lässt, die lebenserhaltenden Maßnahmen immer teurer werden und immer länger andauern und der Kuss nicht sofort wirkt? Oder wirtschaftlich gesprochen – wenn das V zum L wird, also mit einer langanhaltenden Schwächephase nach dem Absturz, oder sogar zu einer Treppe nach unten? Dann läge ein Spahn-Fehler vor – gut gemeint, aber das Falsche gemacht – sorry, Wirtschaft, schade, Gesellschaft – dumm gelaufen.
Läuft es dumm?
Und es könnte ziemlich dumm laufen. Zwar gleicht derzeit der Staat die fehlende Nachfrage aus – Kurzarbeit wird gerade noch weiter erhöht, Überbrückungsgelder werden ausgezahlt, Sonderprogramme für Hotel und Gastronomie aufgelegt, Konzerne wie Adidas mit 2,5 Milliarden am Leben gehalten und bei der Lufthansa darf es gerne noch ein bisschen mehr sein. Die Mittel des Staates seien unbegrenzt, verspricht Finanzminister Olaf Scholz – eine gewagte Behauptung. Hobby-Ökonomen etwa von der ZEIT, erklären, dass Finanzminister Olaf Scholz niemandem die Mittel für Kurzarbeitergeld wegnehme – weil Steuern gewissermaßen nur geliehen seien: Wenn die Bezieher von Kurzarbeitergeld fleißig einkaufen, kommt der Laden wieder in Schwung und am Ende gewinnen alle, auch der dafür geschröpfte Steuerzahler. So einfach ist das.
Es ist der alte Keynesiansiche Traum, dass der Staat vorübergehende Nachfragelücken einfach ausgleichen könne, ergänzt durch die „New Monetary Economy“: Weil die Staaten längst überschuldet sind, wie Italien schon vor Corona ihre Zinsen nicht mehr finanzieren konnten, muss die Europäische Zentralbank Geld in den Kreislauf pumpen. Auch Corona vergeht, nur die Wirtschaft besteht, wenn man ihr genügend Geld gibt. Es klappt tatsächlich – wenn die Bürger nicht misstrauisch werden, den Glauben nicht daran verlieren, dass Baron Münchhausen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht.
Und genau das planen viele Unternehmen: Verkleinern, abbauen, rationalisieren. Die Jobs wackeln, die Angst wächst. Von drei Millionen Arbeitslosen und einem Rückgang der Erwerbstätigen von weiteren Millionen ist beim wissenschaftlichen Dienst der Arbeitsagentur, dem IAB die Rede; bislang haben die Forschungsinstitute allesamt die Wucht des Abschwungs unterschätzt – schlicht, weil er nicht in ihre Modelle passt, die nur fürs Fortschreiben der Zahlen, aber nicht für Brüche ausgelegt sein können. Realistisch erscheinen eher fünf oder noch mehr Millionen Arbeitslose, die Unterstützung kassieren und als Steuer- wie Beitragszahler ausfallen. Oder sechs? Oder sieben?
Wie läuft es global nach Corona?
Die kühle Kalkulation und Sorge von Millionen Menschen, wirtschaftlichen Entscheidern und Investoren wird getrieben von Zukunftserwartungen; es sind Spekulationen auf das ungewisse Morgen. Wie lange bleibt Corona, nicht nur in Deutschland, sondern auch Drumherum? Wenn Zukunft vage, unsicher erscheint, wird gewartet statt konsumiert, reduziert statt investiert, abgebaut statt aufgebaut. Dann kann der Staat immer neue Milliarden in Taschen stopfen, es bleibt da drin. Technisch gesehen sinkt damit die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Es ist mehr Geld da, aber es zirkuliert nicht – die Wirtschaft stockt. Und die Zukunft der Nachfrage erscheint unsicher: Warum sollten Unternehmer investieren und vielleicht mit den Resten ihres Privatvermögens haften, wenn die SPD ständig von Steuererhöhungen, Vermögensabgabe und Umverteilung redet? Die Floskel „warten wir mal ab“ wird dann zum Konjunkturkiller, ausgelöst durch hingeworfene Sprüche von Leuten wie Saskia Esken, der SPD-Vorsitzenden. Vielleicht mag es ja in Deutschland gelingen, den Laden wieder ans Laufen zu bringen – aber reichen die deutschen Steuern auch aus, um die Betonburgen an der Costa Brava oder in Mallorca und Griechenland am Laufen zu halten? Wenn schon Zweifel daran bestehen, dass mit Konjunkturprogrammen die einheimische Wirtschaft gerettet werden kann – für ganz Europa reicht es sicher nicht. Die Exportorientierung Deutschlands ist jetzt die Achillesferse der Wirtschaft – sie lebt von der Investition in Fabriken in China, vom Export nach Südeuropa, der mit den Mitteln bezahlt wird, die deutsche Urlauber an den Sonnenstränden lassen. Der weltweit sinkende Ölpreis ist ein Warnsignal: Öl schmiert die Ökonomie, ist ein Rohstoff, der in jedem Produkt steckt, in der Kartoffel in Form von Dünger und Traktoren-Treibstoff, in jedem Chemieprodukt, in jeder Form der Mobilität. Weltweit sinkt die Nachfrage nach Öl, weil die Nachfrage nach Produkten eingebrochen ist. Es ist ein Krisenindikator für einen deflationären Prozess.
Die Preise sinken – weltweit
Genau an dem Punkt steht aber die Weltwirtschaft: Sinkende Nachfrage weltweit lässt die Preise purzeln. Dieser Mechanismus funktioniert flott: Schon sinken die Preise für Immobilien in den deutschen Ballungsräumen. Gibt es weniger Menschen in Deutschland? Nein. Es sind nur viele Träume vom größeren Wohnen geplatzt. Oder aufgeschoben. Wenn die Kaufhäuser erst wieder öffnen dürfen, dann wird es Rabattschlachten geben – die Sommerware wird verschleudert bis zum Verschenken, weil es sonst einen nächsten Sommer für die Händler garantiert nicht mehr gibt. Viele werden ein letztes Mal öffnen, für den letzten Abverkauf. Eine Pleitewelle im ohnehin angeschlagenen Einzelhandel in den Innenstädten droht – Amazon war die Vorerkrankung, Corona das Todesurteil .
Die Vorsicht der Konsumenten und die pessimistischen Erwartungen der Unternehmer verbinden sich zu einer giftigen Mischung, die jedes Konjunkturprogramm der Bundesregierung unwirksam macht. Die Floskel „Erst mal nicht“ saugt jedes Konjunkturprogramm auf und macht es unwirksam.
Der Angebots-Schock kommt erst noch
Angeblich versucht die deutsche Paradeindustrie, die Autobauer, die Produktion wieder hochzufahren. Statt Kurzarbeitergeld soll der Staat dann die Nachfrage nach Autos künstlich anheizen; der Einsatz Staatsknete geht also vorerst ohne Ende weiter. Aber das wird gar nicht so einfach. Rund 100.000 Zulieferer hat so ein deutscher Auto-Konzern weltweit. Manche davon gibt es nicht mehr. Irgendein Chip, ein Plastikteil, ein Stück Blech, Stahl oder Stoff fehlt, weil der Zulieferer möglicherweise in Italien oder Spanien sitzt und noch nicht produzieren kann, der LKW an einer Grenze gestoppt wird, die Lieferung aus China zu lange dauert, oder der Hersteller längst pleite ist: Schon stockt das Band.
Zwar werden selbst im chinesischen Geburtsort der Pandemie, in Wuhan, die Fabriken wieder in Gang gesetzt – aber die Nachfrage aus Europa oder den USA fehlt. Technisch mögen sie produzieren können – aber keiner bestellt. Wie wollen Daimler und VW in, sagen wir; Minnesota oder Michigan Autos verkaufen, wenn die Showrooms vernagelt und die Händler pleite sind? Wie wollen sie Motoren bauen, wenn die Kurbelwelle aus Spanien nicht ankommt? Just in Time Produktion, Offshoring, den letzten Cent aus der Lieferkette pressen und Spezialisierung auf das allerkleinste Detail – die Erfolgsrezepte der vergangenen Jahrzehnte sind gerade Giftpillen.
Es ist geradezu makaber: „Basar-Ökonomie“ hat Hans-Werner Sinn das genannt – Deutschland kauft billige Vorprodukte weltweit, stöpselt zusammen und verkauft mit Aufschlag als „Made in Germany“. Das Modell ist jetzt angeschlagen. Und ja, die Rückverlagerung strategischer Güter wie Mundschutz und Medikamente mag richtig sein, Autozulieferer können ersetzt werden – aber das muss jemand bezahlen. Wer zahlt, das sind die Konsumenten. Nicht alle Preise werden damit sinken. Manche werden steigen.
Deflation und Inflation gleichzeitig
Schon wird Gemüse teurer; Paprika um bis zu 40 Prozent; Spargel wird wieder Luxus. Es fehlen die Erntehelfer aus Marokko in Spanien und aus Rumänien in Deutschland. Wer nicht da ist zum ernten, fehlt auch beim pflanzen. Güter, deren Kauf nicht problemlos verschoben werden kann, werden teurer. Da gibt es auch Chancen. Wenn Mallorca als Urlaubsziel ausfällt – es geht auch kühler, die Ostseebäder dürften bald überfüllt sein, wenn sie dürfen. Ruhpolding wird Gäste aus dem Ruhrgebiet erleben, die seit den späten 60ern wegblieben. Selbst die abgeranzten Orte am Rhein, Bingen und Rüdesheim und Unkel werden wieder frequentiert; vielleicht sogar der Harz und eventuell erlebt Traben-Trarbach einen kurzen, zweiten Frühling wie damals vor 1914 das Kaiserbad Ems. Heute lockt, wo man lange nicht hinwollte. Inflationäre und deflationäre Prozesse laufen nebeneinander. Aber weil das Angebot schrittweise verengt wird beginnen früher als spät die Preise zu laufen.
Ein Gespenst geht um: Stagflation
Und weil so das V zum L wird, gerät eher früher als später auch Deutschlands Rettungsrezeptur in die Krise: Gerne würde die SPD die Steuern anheben und wird es vermutlich durchsetzen – aber es gibt kaum mehr hohe Einkommen und Zahler, die geschröpft werden könnten. Vermögenssteuer? Der Geheimtipp der Linken und Grünen läuft ins Leere – gerade die industriellen Vermögen erleben einen tiefen Sturz. Wie aber sollen Unternehmen Vermögensabgaben bezahlen, wenn ihr Vermögen in stillgelegten oder unterausgelasteten Fabriken steckt? Der immer wieder beschworene Lastenausgleich braucht steigende Wirtschaftsleistung, wachsende Gewinne. Aber genau die wird es nicht geben. Mit Verstaatlichung, dem Traum der grünen „Pandemiewirtschaft“, ist ebenfalls nichts gewonnen: Wenn bei VW die Fabriken stehen, bringt es wenig, den Staatsanteil am Konzern von derzeit 20 auf sagen wir 50 Prozent zu erhöhen. Mangels Geldes in den Staatskassen wird es früher oder später zu Sparprogrammen und Sanierungshaushalten kommen, die Leistungen an die Bürger kappen, kürzen, verknappen – während auf breiter Basis die Steuern angehoben werden müssen. Der Konjunktur hilft das wenig. Es kommt zur giftigen Mischung von Stagflation und Inflation. Der keynesianische Traum von der wunderbaren Geldvermehrung durch Geldausgeben platzt. Wieder einmal.