Eine persönliche Vorbemerkung: Ich habe an Stelle meiner Aufgabe als Chefredakteur Stunden und Stunden damit verbracht zu versuchen, mir einen Überblick über die Morde an Zivilisten zu verschaffen. Dies ist eine schreckliche Aufgabe, die Bilder haben mir den Schlaf geraubt. Das sind meine zusammengefassten Ergebnisse und Schlussfolgerungen.
Nur „Schauspieler“?
Seit Tagen geisterten Behauptungen durch das Netz, die Toten von Butscha seien „Schauspieler“, die winken und aufstehen – also eine Inszenierung. Abgesehen davon, dass mittlerweile Massengräber geöffnet wurden, aus denen niemand winkend und lachend auferstanden ist: Die Behauptung ist ein Fake. Er basiert auf verschwommenen Aufnahmen im Rückspiegel eines fahrenden Autos, der noch dazu regenverschmiert ist. Im qualitativ besseren Originalmaterial ist zu erkennen, dass es sich um Tote handelt. Kollegen von Focus haben das Ergebnis zusammengefasst.
Es ist ein Stück russischer Propaganda – das allerdings vielfach geteilt und geglaubt wird, wie man an den Kommentaren sieht.
Immer wieder wird die Frage gestellt, wieso diese Bilder erst Tage nach dem Abzug der russischen Soldaten aufgetaucht sind. Der ARD-Reporter Georg Restle versucht indirekt, diese Behauptung in der Tagesschau zu unterstützen, Journalisten wären am Betreten von Butscha gehindert worden: „Für Journalisten war es heute nicht möglich, sich ein eigenes Bild von der Lage in Butscha zu machen.“ Mittlerweile meldeten sich viele Reporter vom Ort des Geschehens, auch Restle musste seine Behauptung zurückziehen. Es waren in den Tagen nach dem russischen Abzug viele Journalisten vor Ort, auch von angesehenen Nachrichtenagenturen. Die Tagesschau hat ihre Falschmeldung nicht korrigiert.
Wer sind die Täter?
Könnte es sein, dass ukrainische Einheiten etwa der Territorialverteidigung Rache an „Kollaborateuren“ geübt haben, die sich an die Seite der russischen Eroberer stellten? Aus Satellitenbildern, die von der New York Times verbreitet wurden, erkennt man, dass die Toten an dieser Stelle seit dem Zeitpunkt der russischen Besatzung des Abzuges liegen. Immer wieder wird von russischen Propagandisten behauptet, die Hände der Opfer seien „rosa“. Das ist Unsinn. Typische Merkmale von Verwesung sind deutlich erkennbar; der Todeszeitpunkt liegt also bereits länger zurück.
Doch warum ermorden russische Soldaten in großer Zahl Zivilisten in den von ihnen besetzten Gebieten? Exekutionen wie in Butscha werden auch aus anderen Orten gemeldet, die von russischen Soldaten zunächst besetzt und dann verlassen wurden. Die Botschaft der Russischen Föderation spricht von „Provokation“ und wirft der Ukraine Manipulationen vor. Argumente über Täter und Tathergang bleibt sie schuldig. Allerdings werden Einheiten, Kommandeure und Soldaten bekannt, die zur vermutlichen Tatzeit im Einsatz waren.
Selbst die betuliche FAZ findet an Hand von Packzetteln vor Ort heraus, dass vermutlich eine Einheit der russischen Streitkräfte beteiligt war, die höchst grausam schon bei der Annexion der Krim mitgewirkt und im August 2014 in der Ostukraine gekämpft hat. Auf den Packzetteln, auf die eine ukrainische Journalistin und die FAZ auf einem verlassenen Stützpunkt der russischen Truppen in Butscha gestoßen sind, ist die Militäreinheit 74268 (Wojskowaja Tschast‘ No 74268) angegeben. Dahinter verbirgt sich das 234. russische Garde-Fallschirmjägerregiment. Es gehört zur 76. Garde-Fallschirmjägerdivision aus Pskow im Westen Russlands.
Mittlerweile wurden die Namen von rund 1000 russischen Soldaten veröffentlicht, die zum Zeitpunkt des Geschehens dort stationiert waren. Oberstleutnant Azatbek Omurbekov ist Offizier der 64. Einheit der motorisierten Schützenbrigade – seine Einheit könnte für das Massaker verantwortlich sein. Erwiesen ist die Schuld der Brigade damit jedoch freilich noch nicht. Doch die Tatsache, dass unter ihnen viele Syrien-Veteranen sein sollen, verhärtet den Verdacht. Denn es ist nicht das erste Mal, dass Putins Truppen Massaker an Zivilisten anrichteten. Erinnerungen an Aleppo werden wach. Und das ist wohl kein Zufall: 24 der 82 Soldaten, die für die Gräueltaten in der Ukraine verantwortlich waren, kämpften auch in Syrien.
Die Suche nach „Nazis“
Kriegsgräuel sind die Folge von Verrohung und erlebter Brutalität; eine unheilvolle Eigendymnamik. Der Versuch, Grausamkeit durch Paragraphen einzuhegen, scheitert immer wieder und muss doch weiter versucht werden. Aber was treibt russische Soldaten zu fortgesetzten Angriffen auf die Bevölkerung? In einer Reportage im Wall Street Journal schildern Bewohner das Vorgehen russischer Soldaten.
Danach suchten die russischen Besatzer offensichtlich nach angeblichen „Nazis“; bekanntlich hat Staatschef Wladimir Putin zur „Entnazifizierung“ der Ukraine aufgerufen und damit seinen Angriffskrieg gerechtfertigt. Eine Begriffsdefinition fehlt. Der Begriff „Nazi“ wird völlig zusammenhanglos und willkürlich gewählt. Vermutlich wird er eingesetzt, um Ukrainer zu denunzieren, die auf die staatliche Eigenständigkeit der Ukraine Wert legen. Damit ist die Welt außerhalb der russischen Grenzen ziemlich komplett Nazi.
Putin versucht aber, damit an den „großen Vaterländischen Krieg“ Stalins gegen Hitler anzuknüpfen. Der heroische Widerstand von damals wird auf den Angriffskrieg übertragen. Im Kampf gegen Hitler mag der Kampfbegriff zutreffend gewesen sein – heute ist er sinnentleert. Es mag Rechtsradikale und ausgeprägte Nationalisten in der Ukraine geben, Korruption und unbestritten zahlreiche Missstände, aber es ist kein „nationalsozialistisches Regime“ in Kiew am Werk. Es gibt keine Vernichtungslager, keine gezielte Verfolgung von Juden und keine Gaskammern, wohl aber einen jüdischen Präsidenten.
„Nazi“ dient in der russischen Propaganda offensichtlich dazu, die russischen Soldaten und die Bevölkerung zu manipulieren und Morde zu rechtfertigen. Dies ergibt sich auch aus dem Beitrag der russischen, kremlnahen Agentur Novosti. Dort wird zu einer Vernichtung großer Teile der ukrainischen Bevölkerung, zur Auslöschung des Staates und totaler Diktatur aufgerufen – immer unter dem Begriff der „Entnazifizierung“:
„Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – höchstwahrscheinlich die Mehrheit – von der nationalsozialistischen Politik beherrscht und in sie hineingezogen wurde. Das heißt, wenn die Hypothese ‚das Volk ist gut – die Regierung ist schlecht‘ nicht funktioniert. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik, aller ihrer Maßnahmen, und die Tatsache selbst ist ihr Gegenstand.“
Und weiter: „Neben den oben genannten (Anm.: die Streitkräfte) ist jedoch auch ein erheblicher Teil der Massen, die passive Nazis, Komplizen des Nazismus sind, schuldig. Sie haben die Naziregierung unterstützt und geduldet. Die gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung ist nur möglich, wenn man die unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem erträgt, der so vorsichtig und umsichtig wie möglich gegenüber der Zivilbevölkerung geführt wird.
Die weitere Entnazifizierung dieser Bevölkerungsmasse besteht in der Umerziehung, die durch ideologische Repression (Unterdrückung) der nationalsozialistischen Gesinnung und strenge Zensur erreicht wird: nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Erziehung.“
Und weiter: Heute tarne sich der Nazismus „als Bestreben nach ‚Unabhängigkeit‘ und nach einem ‚europäischen‘ (westlichen, pro-amerikanischen) Weg der ‚Entwicklung‘“. Er sei jedoch keine „Light-Version“ des deutschen Nationalsozialismus und müsse kompromisslos bekämpft werden: „Der ‚Ukronazismus‘ stellt nicht geringere, sondern eine größere Bedrohung für den Frieden und für Russland dar als Hitlers Version des deutschen Nationalsozialismus.“
Es ist also eine radikale Absage an das westliche Lebensmodell, wie wir es kennen – und damit eine ideologische Kriegserklärung an ganz Europa.
Die Entkopplung historischer Realität und des derzeitigen, offiziellen Sprachgebrauchs ist bezeichnend; der Aufruf zur kompletten Zerstörung der Ukraine erschütternd. Auch ein scheinbar harmloser Tweet eines russischen Propaganda-Kanals, der mit Dokumenten aus der Front gefüttert wird, zeigt die Sichtweise des Kremls: Ukrainische Soldaten posieren wippend auf einem raketenähnlichen Teil eines russischen Kampfbombers Su-24. Der russische Kommentar: „Streitkräfte und Spuren einer anderen, weiter entwickelten Zivilisation.“
Auch hier wird das Bild vom ukrainischen „Untermenschen“ gepflegt, der der weiterentwickelten russischen Zivilisation weichen muss. Der Herrenmensch marschiert also wieder in die Ukraine ein – diesmal kommt er nicht aus Deutschland, sondern Moskau. Es ist die perverse Umkehrung der Begriffe und Geschichte, eine Art „Newspeak“ Moskauer Herkunft. Nun stirbt bekanntlich im Krieg die Wahrheit zuerst. Auch der Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan nach dem Zerfall Jugoslawiens wurde buchstäblich herbeigeschwindelt. Internationale Beobachter sollen Aufklärung bringen. Abwarten und Tee trinken? Das ist nicht möglich. Nach Lage der Dinge und aktueller Information sind die immer wieder verbreiteten Ausreden nicht glaubwürdig. Dass der grausige Vorfall auf die Bemühung der Ukraine einzahlt, internationale Unterstützung zu gewinnen mag stimmen – aber daraus die Täterschaft abzuleiten ist zu gewagt. Vor allem, weil bislang jeder Beleg dafür fehlt – und vorliegenden Belege in die Richtung Moskaus und seiner Truppen zeigen.