Tichys Einblick
Es ist mehr als nur noch ein Verbreitungsweg - es ändert die Konsumenten.

Warum das Internet gut ist für den Journalismus

Es geht schon lange bergab: Reichweiten von Tageszeitungen. Quelle: Kepplinger

Manchmal stelle ich mir vor, dass viele meiner durchaus geschätzten Journalistenkollegen sich am Sonntag Abend hinknien und beten: „Lieber Gott, lass morgen wieder einen Montag werden und zwar so einen, an dem das Internet verschwunden ist“

Leider erhört der liebe Gott ja solche Wünsche so selten, und deshalb wird das Internet bleiben und die Krise der Medien sich weiter verschlimmern. Denn wer still betet, der handelt nicht. Und so  wird ein weiterer grausiger Internet-Montag heraufzuziehen, der auch ein Montag der verpassten Chancen ist. Zum 10-jährigen Jubiläum der Huffington Post eine Analyse gängiger Irrtümer.




1. Früher war alles besser – auch die Zeitungen.

Gerne wird so getan, als wäre mit dem Internet Lüge, Betrug und Schwachsinn über die Menschheit gekommen. Qualitätspresse! Das Internet, das ist der Dolch in ihrem Rücken. Aber mal ehrlich: Der Stürmer der Nazis, die Prawda Stalins und das Neue Deutschland Honeckers waren gedruckte Mordanschläge. Nein, nur weil etwas gedruckt statt gepostet wird, ist es nicht automatisch besser. Und das gilt nicht nur für Diktaturen. Die Yellow-Press in Deutschland hat Jahrzehnte davon gelebt, dass über das Leben der Fürsten, Schahs und Königinnen erfundene und erlogene Geschichten verbreitet wurden. Jede Tageszeitung, die ich aufschlage, ist voller hirnverbrannter Fehler, die zwar oft gutgemeint sind, aber manipulieren und die Wahrheit verdrehen. Es gibt auch tollen, großartigen Journalismus. Aber: Den sehe ich zunehmend im Netz. Warum auch nicht? Gibt es ein Gesetz, dass Papier Texte veredelt und Internet sich schlecht macht? Und wollte man die Medien an einen Lügendetektor anschließen – der würde bei vielen Internet-Portalen durch die Decke gehen. Aber auch bei vielen gedruckten Medien. Im Gegenteil – was Journalisten zu befürchten haben, ist nicht die Lüge per Internet. Eher, dass das Internet Schwachsinn aufdeckt. Schauen wir uns an, was bisher den Journalismus so ausgemacht hat.

2. Das Wissensmonopol ist gefallen

Journalisten waren und sind oft ausgewiesene Fachleute auf ihrem Gebiet, jedenfalls viele. Naja, manchmal hat man das Gefühl, es werden weniger. Aber es gibt sie noch, diejenigen, die alles wissen über ihr Fachgebiet, und wehe, wenn sie schreiben. Aber viele hatten einfach ein gutes Archiv und im Keller des Verlagshauses ein gepflegtes Archiv, in dem fleissige Hände mit der Schere Artikel ausschnitten und in kleine Schachteln packten. Ein guter Artikel verknüpft Fachwissen des Autors mit diesem Detailwissen sowie Zeitreihen aus dem Archiv. Ich war schecht dran, als ich in den 90er-Jahren freiberuflich gearbeitet habe, ich ging betteln. Ich wollte nicht Kohle (die auch), mehr aber noch: einen Archivzugang. Und heute? Heute gibt es Google. Unbedeutende Fakten (Wie lautet der Vorname von Herrn Winterkorn?) ebenso wie mittelschwere (seit wann genau ist der Vorstandschef?) und detaillierte (wieviele Golfs wurden in seinem ersten Amtsjahr verkauft und wieviele heuer?) stehen Jedem zur Verfügung. Früher konnte ein Leitartikler mit diesem Archivwissen die aktuelle dpa-Meldung aufpeppen und brillieren – heute kann das jeder.  Und es macht auch jeder. Viele Leser googeln besser und schneller als Journalisten, finden bessere Quellen und schreiben das auch. Journalisten haben einen großen Teil ihres Wissensvorsprungs verloren. Wie jeder Verlust bereitet er Unbehagen. Ein Gefühl der Angst. Das ist bitter. Aber schlecht – schlecht ist das nicht. Auch wenn sich die Lage für Journalisten noch verschlimmert jenseits der reinen Faktenhuberei.

3. Der Katheder-Journalismus ist vorbei

Früher predigten Journalisten aus ihren Zeitungsspalten zu ihren Lesern wie der Professor mit dem Talar zu andächtig lauschenden Studenten.  An den Unis ist das längst vorbei. Jetzt hat  diese Googelei auch noch die Leser frech gemacht. Sie machen den Fakten-Check! Nicht nur einer – Viele! Und siehe da, sie glauben den Journalisten nicht mehr. Oder immer weniger. Gerade schrieb mir ein Leser folgenden Kommentar: „Mittlerweile gehe ich, wenn ich einen Artikel öffne, grundsätzlich erst zu den Kommentaren und lese sie mir durch. Es ist passiert einfach zu häufig dass mitunter wirklich relevante Fakten in dem Artikel einfach nicht enthalten sind, wobei es teilweise nicht ganz klar wird, ob dahinter Leser-Erziehung oder Nachlässigkeit steckt.
Aus diesem Grund lese ich auch grundsätzlich keine Online-Nachrichten mehr, wo Lesermeinungen generell nicht mehr zugelassen oder massiv eingeschränkt werden. Bestes Beispiel ist hier das Online-Angebot der Süddeutschen Zeitung, wo man nur noch drei Themen kommentieren darf, das Ganze dann auch noch stärker moderiert. Und diese Aktion wurde dann doch tatsächlich als Service für den Leser verkauft. Mich hat man allerdings als Leser verloren, seit der Umstellung war ich nicht einmal mehr auf der Seite, denn Lesermeinungen sind für mich eine zu wichtige Kontrollinstanz.“
Ja, die Leser sind misstrauisch geworden. Lautet die richtige Antwort darauf: Weg mit dem Pack!?

4. Ab sofort wird zurück- und fortgeschrieben!

Wenn in den guten alten Tagen ein Leserbrief kam, wurde er bestaunt. War er zustimmend, wurde er gedruckt. Besonders lästige wanderten sofort in den Papierkorb. Heute schreiben viel mehr Leser. Einfach, weil es so einfach geworden ist; früher scheiterten ja Leserbriefschreiber spätestens bei der Suche nach der Briefmarke. Aber heute antworten sie. Aus Sicht der Journalisten sind es meist Trolle. Ja, die gibt es. Aber viele Schreiber sind mindestens so fachkundig wie die Journalisten. Das Bildungsniveau nimmt ja zu. Die Spezialisierung des Wissens bewirkt ja, dass Generalisten, wie es Journalisten notwendigerweise sind, nicht immer ganz up to date sein können. Aber Journalisten gefallen sich in ihrer Wächterrolle, die häufig in Besserwisserei und neuerdings in Leserverachtung umschlägt. Journalisten reden gern von Demokratisierung, so lange diese woanders Unruhe stiftet. Für sich und ihren Berufsstand selbst mögen sie diese Demokratisierung nicht so sehr. Vielleicht sollten wir umdenken – und uns  über viele Anregungen freuen, sie instrumentalisieren. Beispiel Mindestlohn – dieses bürokratische Monster berührt etwa 30 Rechtsgebiete. Ich maße mir nicht an, da durchzublicken. Aber spätestens nach der dritten korrigierten Fassung hatte ich das Thema drauf, nachdem mir viele Anwälte und Juristen geholfen haben. OK, manche waren etwas grob mit mir. Aber das halte ich gerne aus, wenn ich etwas lernen kann.




5. Die Entdeckung der Zeit

Journalistische Stücke waren früher irgendwann zu Ende; spätestens bei Redaktionsschluss. Heute müssen Stücke ständig fortgeschrieben werden, mit den Ereignissen. Das schafft eine gewisse Ruhelosigkeit, rund um die Uhr. Das mag keiner, der sich an feste Arbeitszeiten gewohnt und sie gewerkschaftlich durchgesetzt hat. Allerdings gibt es eine Instanz, die das einfordert: Die Leser. Und eigentlich wissen wir seit mindestens 60 oder 70 Jahren, seit es nämlich Radio gibt, dass man Ereignisse live verfolgen kann. So neu ist das Internet nicht. Was alt ist, ist die mangelnde Beschäftigung von Print-Journalisten mit dem Faktor Zeit. Häufig kommen mir auch wichtige Magazine wie aus der Zeit gefallen vor: Geschichten, die längst überholt sind werden mir vorgesetzt; oder Stories, die ich längst gelesen habe. Ohne neuen Erkenntnisgewinn. Ohne neue Sicht. Das will ich nicht lesen. Journalismus in Tages- und Wochenzeitungen haben ihre vermeintliche Alleinstellung längst verloren. Aber haben sie sich schon hinreichend angepasst? Spott über twitter gehört zum Alltag. Aber wenn ich per twitter eine Meldung erhalten habe – muß ich die dann noch 5 Tage später in einem Magazin lesen? Wirklich?

6. Lernender statt belehrender Journalismus

Unser Berufsbild hat sich verändert:  Moderner Journalismus sollte lernen, die Chance ergreifen, mit den Lesern zu diskutieren und ihr Wissen aufgreifen, statt abzumeiern. Das erfordert aber eine andere, eine demütigere Grundhaltung: Die Leser sind nicht dumm. Sie sind klug, vielfach klüger als wir. Gut, nicht alle. Aber Viele. Aber so lange wir Journalisten in der Rolle der arroganten Besserwisser verharren, entgeht uns eine gewaltige Chance: zu lernen. Etwas Wichtigeres gibt es aber nicht für Journalisten. Trotzdem kann man oder muss man sogar auch den einen oder anderen Troll rauswerfen. Journalismus ist eben wie das wirkliche Leben. Es dringt in die behüteten Redaktionsstuben ein. Aber statt sich dem zu öffnen, mauern sich Viele ein. Viele Leser beklagen den monotonen Main-Stream der großen Medien. Alle folgen den großen Linien; ohne Euro gibt es Krieg; Atomkraftwerke sind böseböseböse, Gen-Food ist tödlich und muss weg, die Energiewende ist gar nicht teuer, obwohl wir alle dafür zahlen wie blöde; Pegida ist außerhalb jeder Debatte und da, wo auch die AfD steht und sich mit der FDP Händchen hält. Das sind nur einige der gängigen Sichtweisen. Das ist ja auch einfach, ungefährlich, sich gegenseitig zu bestätigen und sich in der Kneipe darauf zuzuprosten, dass man wieder einmal das geschrieben hat, was alle immer schreiben. Ausbrechen? Das macht es schwieriger. Journalismus wird anspruchsvoller. Weil er wirklich NEU sein muß, fesseln, überraschen. Aber halt: War er das nicht immer schon? Oder haben wir uns davon wegbewegt und stellen jetzt nur fest, dass die Leser etwas eigentlich Selbstverständliches zurückfordern?

7. Journalismus wird anspruchsvoller

Früher gab es viele Nachrichtenredakteure. Sie tigerten mit einem Lineal zum Fernschreiber, rissen die Papierstreifen ab, kürzten, längten, fassten zusammen. Mit einer Rechenscheibe bearbeiteten und markierten sie Fotos, damit der richtige Ausschnitt in die Zeitung kam. Heute geht das mit dem PC in einem Bruchteil der Zeit; eigentlich mehr oder weniger automatisch. Diese Art von Journalisten gibt es nicht mehr. Mittlerweile bereiten Roboter einfach Meldungen auf; im Prozentrechnen sind sie sicherer als Journalisten, die für die Lösung eines Dreisatzes lieber beim Statistischen Bundesamt anrufen. Standardtexte rasen mit Lichtgeschwindigkeit in die Spalten. Journalismus ist anspruchsvoller geworden. Aber das ist gut so! Es ist eine Aufwertung unseres Berufs, der früher über weite Strecken handwerklich geprägt war. Diese Zeit ist vorbei. Wir brauchen kreative Schreiber; schnell und prägnant. Die Leser sind ungeduldig. Die Aufmerksamkeitsspanne ist kürzer geworden. Sie sind abgefüllt wie ein Alkoholiker mit Nachrichten, denen sie sich gar nicht entziehen können. Journalisten dürfen darüber nicht meckern. Sie müssen ihre Leser fesseln, das war immer schon so und wird immer schwieriger. Aber ehrlich: Das ist doch gut. Es stärkt die Rolle derjenigen, die richtig gut sind. Die weniger guten werden ausscheiden müssen. Warum stehlen wir den Lesern sonst die Zeit? Lebenszeit ist wertvoll.

8.  Zeitungen wurden nicht wegen der Leitartikel gelesen.

Also, bei mir daheim war das früher so mit der Zeitung. Meine Mutter hat sie wegen der Todesanzeigen gelesen. Man muß ja wissen, wo man eine Karte hinschreiben muß. Mein Vater hat die Stellenanzeigen gelesen, am liebsten die der FAZ. Er wollte wissen, wo was geht, wie sich die Stellenmärkte entwickeln. Ich habe die Zeitung wegen des Kinoprogramms gekauft und wegen der Disco-Veranstaltungen. Ist schon etwas her. Der Leitartikel – der war es eigentlich eher selten. Den haben wir auch gelesen, manchmal. Zeitungen haben vom paid Content gelebt; sie haben diesen wertvollen Lesestoff auch noch verkauft! Was für eine Traum-Situation! Die zahlen für den Stoff, den Du dann an Deine Leser weiterverkaufst! Schade, dass diese Zeit vorbei ist. Wirklich. Das war gemütlich! Heute rückt der Inhalt in das Zentrum, und da bin ich in einer Art Endlosschleife – zurück auf Punkt 6: Journalismus wird anspruchsvoller. Jetzt müssen wir echten Stoff liefern – oder wir gehen unter.

9. Internet ist Inhalt

Schaut man sich die Kostenstruktur eines Verlags an, dann stellt man fest: Ein Drittel fressen die Druckerei und die Papierleute;  ein Drittel der Verlag mit seinen aufgeblasenen „Flanellmännchen“ (so nannte sie Axel Springer), dann kam noch der Vertrieb mit seinen Austrägern und Fahrern; bestenfalls ein Fünftel  bleibt für die Redaktion. Im Internet bist du mit einem minimalen Aufwand bei den Leuten. Was für eine Chance! Meine Leser kommen mittlerweile aus der ganze Welt; aus der Türkei, aus China, aus Indien, den USA; aus Teneriffa und weiß Gott wo her. Früher wäre ich mit der Luftpost bankrott gegangen, hätte ich solche Leser beliefern wollen. Sie kommen auf mich zu! Sie wollen MICH lesen! Bei aller oben vorgetäuschten Bescheidenheit: Das ist ziemlich irre. Wir bewegen uns mit dem Internet zurück zu den Inhalten. Wir arbeiten nicht mehr für die Druckerei und die Papierfuzzis, wir arbeiten für Inhalte. Deshalb finde ich das Internet so großartig. Allerdings: Wer nicht mitmacht, lebt verkehrt. Und muß sich möglicherweise einen anderen Job suchen. Schade. Aber wenn ich durch das Ruhrgebiet fahre, dann sehe ich riesige Industriebrachen, wo früher stolze Stahlwerke und grandiose Zechen den Menschen Lohn und Brot, Stolz und Ansehen gaben. Wir Journalisten haben darüber geschrieben, wie das Ende kam. Warum soll es uns anders ergehen? Warum wollen nur wir arbeiten wie vor 100 Jahren? Es ist technisch so einfach geworden; selbst Filme, für die man früher ein Team von 3 Leuten, eine Cutterin und ein Entwicklungslabor brauchte – heute bist Du in 5 Minuten und für 500 € Kapitaleinsatz on Air. Ideen zählen, nicht Kohle und Großstrukturen. Was für phantastische Möglichkeiten! Wie toll ist das denn? Natürlich gibt es ungelöste Fragen, jede Menge; da ist die Frage nach dem Geschäftsmodell beispielsweise. Neuland kennt keine Landkarten. Wir sollten die Zukunft des Journalismus gemeinsam kartographieren, statt ihn zu verdammen. Was sowieso nicht klappt. Denn wer nicht mitspielt, wird seinen Beruf verlieren. Übrigens: Viele Fragen sind längst geklärt, auch wenn sie noch nicht Allgemeingut sind. Ich erhebe nicht den Anspruch, hier den Journalismus neu zu entdecken; im Gegenteil. Ich schreibe eigentlich nur auf, was beobachtbar ist. Wie der gute, alte Kisch. Allerdings nicht mehr auf Papier, sondern auf www.rolandtichy.de




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