Im Stellungskrieg zwischen der Ukraine und Russland wurde um die Jahreswende eine ukrainische Einheit praktisch aufgerieben – das 128. Gebirgsjägerbataillon aus Mukatschewo, einer Stadt mit rund 90.000 Einwohnern im südwestlichen Grenzgebiet zu Ungarn. Es ist keine Meldung, die westliche Medien erreicht hätte. Es ist der Alltag eines mörderischen Krieges; und hat doch eine besondere Bedeutung.
Fast die Hälfte der Gefallenen allerdings sind Ungarn. Der Oblast Transkarpatien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der Sowjetunion zugeschlagen und danach Teil der daraus hervorgehenden Ukraine. Wie immer in solchen europäischen Grenzgebieten wohnt man auf dieser Seite der Grenze oder drüben, in jedem Fall hat man Verwandte und Freunde diesseits und jenseits der Grenze. Das grausame Ende des Jägerbataillons erschüttert Ungarn, das sich als Schutzmacht seiner Landsleute in der Ukraine empfindet. Der Krieg rückt näher, erfasst emotional die Bürger eines EU-Staates.
Ukraine bestellt ungarischen Botschafter ein
In diesen Tagen nehmen die Spannungen zwischen Ungarn und der Ukraine zu. Ministerpräsident Viktor Orbán habe sich »inakzeptabel« über die Ukraine geäußert, nun hat Kiew deswegen den ungarischen Botschafter einbestellt. Das hat der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, Oleh Nikolenko, mitgeteilt. Wie Nikolenko auf Facebook schreibt, habe Orbán vor Reportern die Ukraine mit Afghanistan verglichen und sie als »Land von niemandem« bezeichnet.
Wörter führen innerhalb von Stunden zu diplomatischen Verwicklungen. „Die Ankündigung, den Botschafter einzubestellen, stellt einen neuen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn dar. Ungarn hat wiederholt die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland kritisiert und behauptet, sie hätten Moskau nicht entscheidend geschwächt, während sie die europäische Wirtschaft zu zerstören drohten. Diskutiert wurde auch, ob Ungarn die Europäer zwingen wollte, Fördergelder für Budapest freizugeben,“ schreibt der Spiegel aktuell dazu.
Anders als der Spiegel war TE dabei bei jenem Gespräch, in dem die problematischen Begriffe gefallen sind, in einem kleinen Kreis von Journalisten. Bei solchen Gelegenheiten spricht Orbán ausdrücklich frei. Es gibt keine Pressemitarbeiter wie in Berlin, die Journalisten nötigen, das Erfahrene strikt „unter 3“ zu behandeln, was bedeutet: Weder Inhalt noch Sprecher dürfen genannt werden. So macht man aus Journalisten stumme Mitwisser. Allenfalls „unter 2“ wird erlaubt – Inhalt ja, Quelle nein. Orbán sagt auf besorgte Nachfrage ausdrücklich „Eins“: „Ich stehe zu dem, was ich sage, warum sollen Sie es nicht schreiben?“
Also, was sagt ein Regierungschef unter „Eins“ in einem Land, das wegen angeblicher Verhinderung von Pressefreiheit in Europa gescholten wird?
Keine Hoffnung auf Ermattungsniederlage Russlands
Orbán zerstört die Hoffnung, dass Putin früher oder später den Krieg aufgeben werde. Immerhin stünden Präsidentschaftswahlen an, und Kriegsverlierer gewinnen keine Wahlen, auch keine manipulierten. Auch die Isolation im Westen sei Russland gleichgültig; es bestätigt vielmehr das Gefühl, dass die Welt Russland nicht verstünde und das Land allein stünde. Und Russland habe seine Wirtschaft mittlerweile in eine Kriegswirtschaft umgebaut. Der Nachschub an Waffen und Munition laufe, die Kriegsmaschine sei angeworfen. Der ungarische Ministerpräsident ist nicht der Russenfreund, als der er gerne dargestellt wird. Er sagt, er kenne deren Grausamkeit; immerhin sei 1956 der damalige Ministerpräsident und Vorgänger Imre Nagy von den Russen gehenkt worden. Aber Wissen um den Gegner sei hilfreicher als unreflektierte Selbstgewissheit.
Zur Analyse gehöre, dass es keinen Hinweis auf russische Schwäche gäbe. Es wiederhole sich nur Geschichte. In Kriegen zeige sich Russland anfangs schwach – die Folge von Korruption, Schlamperei, unfähigen Kommandeuren, monströsen taktischen Fehlern. Aber sehr bald schalte dann Russland um, mobilisiere seine Kräfte und lerne schnell. Das ist auch die Erfahrung, die die Deutsche Wehrmacht nach sensationellen Anfangserfolgen machen musste. Auch der Ukraine gelang es anfangs, Russland massive Niederlagen beizubringen. Doch jetzt trete Russland in die zweite Phase ein, gestützt auf seine industrielle Kriegsmaschine und leidensfähige Bevölkerung. Jetzt könne und werde es viele Soldaten mobilisieren – ein Vielfaches dessen, wozu die Ukraine schon rein zahlenmäßig nicht in der Lage sei. Russland spiele auf Zeit, immer, und sehe auch in diesem Krieg die Zeit auf seiner Seite. Natürlich seien High-Tech-Waffen wertvoll – aber am Ende werde der Krieg mit den Stiefeln auf dem Boden entschieden.
Aus dieser Analyse zieht Orbán seine Folgerungen. Weder die USA, und schon gar nicht die EU hätten irgendeine erkennbare Strategie außer der, den berechtigten Widerstand der Ukraine zu stärken. „Zuerst waren es 5.000 Helme, jetzt sind es schon Panzer“, verspottet er die schrittweise Eskalation der Regierung Scholz. Jagdflugzeuge werden bereits gefordert. Folge man der Logik, seien am Ende Bodentruppen unausweichlich, wenn der Ukraine eher früher als später die Männer ausgehen.
Was ist Russlands Kriegsplan?
Aber was ist Russlands Kriegsplan? Die Eroberung der Ukraine sei es nicht – und hier fällt das Wort, das Kiew erzürnt: Unmittelbar auf eine Eroberung der Ukraine würde ein gnadenloser Guerrilla-Krieg folgen. Der Schrecken des Krieges habe jede Bereitschaft in der Ukraine zerstört, ein russlandhöriges Marionetten-Regime zu akzeptieren. „Und dann gehört die Ukraine niemandem. Es kommt zu einer Afghanisierung.“ Gerade nach der Besetzung von Afghanistan durch russische Truppen aber habe Russland seine bitterste Niederlage durch den brutalen, selbstzerstörerischen Guerilla-Krieg erlebt – der bereits schon gegen die sowjetische Besatzung bis in die 50er Jahre angedauert hat. Kriegsziele, sagt Orbán, entwickeln sich im Krieg. Seine Anfangsziele habe Russland aufgeben müssen.
Jetzt strebe Russland eine Pufferzone an, in etwa entlang der jetzt umkämpften Kontaktlinie am Donbas. Die totale Zerstörung, buchstäblich verbrannte Erde, brutale Verwüstung und Vernichtung seien zusammen mit dem Eingraben und den Befestigungen der russischen Armee der Hinweis darauf. Eine Art „Todeszone“ zwischen der westlichen Ukraine und der Nato einerseits, Russland andererseits?
Orbán sieht darin eine Chance und fordert sofortigen Waffenstillstand. Dann werde es mühsam, mit Vorbereitungsgruppen und Uno und weisen Männern, die die Verhandlungen führten. Gebiete müssten definiert, Bedingungen formuliert und ausgehandelt, Garantien zugesagt werden – ein mehr als monatelanger Prozess.
Ein derartiger Waffenstillstand allerdings werde von Kiew ausgeschlossen, das eine Rückeroberung der durch Russland besetzten Gebiete zum Ziel ausgegeben habe – ebenso wie derzeit von den USA, die sich weit weg von den Kriegshandlungen befinden. In Europa dagegen sei Deutschland der bitterste Verlierer: Es muss teures LNG aus den USA kaufen statt billiges Pipeline-Gas; es habe seine bevorzugte Stellung als Partner der USA an Polen verloren. Dort boomt die Wirtschaft, während sie in Deutschland einbricht. Deutschland leide. Sein nationales Interesse sei klar, aber es könne dem nicht folgen. Auch, weil sich die Grünen „als beste Freunde Amerikas in der deutschen Geschichte“ bewiesen hätten.
Im nationalen Interesse
Ausdrücklich bezieht Orbán sich auf Klaus von Dohnanyi und dessen Buch „Nationale Interessen“.
„Nicht Europa zählt im Falle eines russischen Angriffs, sondern nur die Sicherheit der USA! Wir werden nicht gefragt! Die wahre Gefahr für eine völlige Zerstörung Europas beruht darauf, dass Europa in erster Linie ein geopolitisches Interesse der USA ist. Europa würde im Falle eines russischen Angriffs nach amerikanischer und NATO-Strategie zum alleinigen Kriegsschauplatz, ohne jedes direkte Risiko für das Heimatland USA. Deutschland aber wäre, als vermutlich zentrale Nachschubbasis, sofortigen Raketenangriffen ausgesetzt. Die nukleare NATO bildet heute als militärische Organisation keinerlei Garantie für Europas Unversehrtheit.“
Orbán ist mit seiner Analyse in der EU ziemlich isoliert, obwohl in diesen Tagen ungarische Gripen-Jäger sogar die Sicherung des Luftraums der Slowakei mitübernommen haben, weil die russischen MIG-Maschinen der Slowakei ohne russische Techniker nicht mehr einsatzbereit sind.
Was ist die EU für Ungarn?
Orbán lehnt den angestrebten EU-Einheitsstaat ab und bleibt beim ursprünglichen Konzept einer Vereinigung souveräner Staaten. In der Migration will er sich nicht an der Masseneinwanderung beteiligen wie Deutschland oder Frankreich; und die Ausrichtung der Gesellschaftspolitik an sexuellen Minderheiten und ihrer Privilegierung sowie Genderpolitik lehnt er zu Gunsten einer Familienorientierung ab. Der blinden EU-Begeisterung erteilt er ebenso eine Absage wie einem Austritt. Hier werden seine Sticheleien noch heftiger. In der EU gilt er als Störenfried, wird seine Absetzung durch die Kommission in öffentlicher Feindschaft betrieben. Wer in Brüssel nimmt schon Wahlergebnisse ernst?
Die Spannungen mit der Ukraine nehmen mit dieser neuerlichen Positionierung zum Waffenstillstand zu. Die Ukraine hat mit ihren jüngsten Gesetzen nicht nur den Gebrauch der russischen Sprache verboten, sondern auch der ungarischen, die ungefähr eine Viertelmillion Menschen in der Ukraine zur Muttersprache haben. Dieses Thema allerdings könne erst nach dem Krieg bearbeitet werden. Als ob es keine anderen Probleme gäbe, hat Kiew in den ungarischen Gegenden den legendären „Turul“ abmontieren lassen, eine Art Wundervogel aus Falke und Adler, ein beliebtes Denkmal. Das Sagentier symbolisiert den Gründungsmythos Ungarns. In der Ukraine darf nichts mehr an die historische Herkunft erinnern. Der ukrainische Krieg lässt alte Konflikte wieder aufleben, während junge Soldaten sterben. Im Grab sind wieder alle gleich stumm.