Tichys Einblick

Vorbild ohne Zukunft

Bei allen nationalen Unterschieden gilt: Nirgendwo auf der Welt lebt es sich so angenehm wie in Europa: Die Urlaubszeiten sind am längsten, die Ausbildung ist lange Zeit gratis und der Berufseintritt sehr spät; dafür beginnt dann die Rente sehr früh. Die Gesundheitsversorgung ist allumfassend, der Kündigungsschutz am entschiedensten. Die Grundversorgung für Erwerbslose am höchsten, der Strauß an Sozialleistungen am buntesten. Die europäischen Unternehmen schließlich werden mit der Peitsche der Gesetzgebung auf einen klimaschonenden Kurs oder in andere Weltregionen getrieben. Zwar sind die wirtschaftlichen Wachstumsraten in Europa am niedrigsten, aber trotzdem hat sich Europa als „Lifestyle Superpower“ feiern lassen, seinen Sozialstaat als Modell gegen den „Turbo-Kapitalismus“ angelsächsischer Prägung und den menschenverschlingenden Wachstumskommunismus Chinas gesetzt.

Nicht ohne Erfolg: Die USA übernehmen nach erbitterten Auseinandersetzungen ein europäisches Modell der Gesundheitsversorgung. Selbst China fängt langsam an, in seinen Riesenfabriken richtige Löhne zu zahlen, und erkennt, dass die Umwelt nicht unbegrenzt verwüstet werden kann.

Aber jetzt offenbart die Schuldenkrise in Europa, dass der Wohlfahrtsstaat in diesem Umfang nicht mehr länger finanzierbar ist. Europaweit werden hektisch Sparprogramme aufgelegt, Arbeitsmärkte flexibilisiert, Sozialprogramme gestrichen und Leistungen gekürzt. Die Lifestyle Superpower wird unter der Schuldenlast zur Abrüstung gezwungen. Jetzt offenbart sich, dass der schnell gewachsene Lebensstandard im Mittelmeerraum, aber auch in Irland, nur auf Pump und nur im Schatten niedriger Zinsen darstellbar war.
Für Deutschland ist die Lage deshalb besonders ungemütlich, weil hier die Verzichtspolitik schon seit einigen Jahren praktiziert wird: Deutschland hat einen Niedriglohnsektor etabliert und die Rente mit 67 wenigstens auf dem Papier eingeführt.

WIE SCHNELL SINKT DER WOHLSTAND

Zwar beginnt die deutsche Exportoffensive gerade wieder zu rollen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es wird wohl sogar wirklich etwas gespart. Aber reicht das angesichts der sorgsam versteckten heimlichen Staatsschulden, die beginnen, den Teppich auffällig zu wölben, unter den sie bislang mit dem breiten Besen des überparteilichen Konsenses gekehrt wurden. Die Folgen der demografischen Entwicklung sind ebenso ungelöst wie die Tatsache, dass nichts so schnell wächst wie eine Hartz-IV-finanzierte Unterschicht ohne echte Leistungsbereitschaft. So werden nun doch die Lasten der Finanzkrise für den Einzelnen spürbar; die Kostenflut der Bankenhilfe durchweicht die Deiche mit Namen Kurzarbeiterregelung und Opel-Stütze. Weil die starken Schultern mehr tragen als die schwachen, muss Deutschland jetzt einen großen Teil der südeuropäischen Staatsschulden übernehmen und in Zukunft über die europäische Transferunion dafür sorgen, dass das Absinken des Lebensstandards dort nicht zu rasch vonstatten geht. Der Wohlstand der noch arbeitenden Bevölkerung wird so von immer mehr Seiten aufgezehrt – die Frage ist, wie schnell der Wohlstand absinken wird.

Die Lifestyle Superpower gerät unter Druck. Deutschland spart da, wo es einer hedonistischen Gesellschaft gefällt: beim Militär. Dabei ist die Friedensdividende längst verkonsumiert, die Konflikte nehmen zu, und der Schutzschirm der militärischen Supermacht USA ist weder gratis noch selbstverständlich. Bei allen Annehmlichkeiten: Das Modell Europa hat so keine Zukunft. Wie lange hält Deutschland, die nervöse Nation ohne Gefühl, stabile Mitte und Mark, das aus?

(Erschienen am 05.06.2010 auf Wiwo.de)

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